1. November 2003, Berlin:

100.000 DemonstrantInnen verbreiten Aufbruchstimmung

Mit etwa 100.000 TeilnehmerInnen übertraf  die Berliner Demonstration gegen die Regierungspolitik am 1. November die Erwartungen der OrganisatorInnen bei weitem. Um so größer ist nun die Hoffnung, dass sich dieses Ereignis stimulierend auf die Widerstandsaktionen vor Ort und in den Betrieben auswirken möge. Dazu wird allerdings weiter harte Arbeit nötig sein. Denn die Regierung gibt sich entschlossen, ihren Kurs fortzusetzen.

Wer sich gefragt hatte, welche Auswirkungen die Demonstration auf das Verhalten der “SPD-Linken” haben würde, fand die Antwort gleich am Montag in den Zeitungen. Die FR etwa titelte: “SPD-Linke mahnt Schröder zu neuer Tonlage”. Und mehr war auch nicht gemeint, wie der Sprecher der “parlamentarischen Linken”, Michael Müller, verdeutlichte: Die Regierung müsse “sehr viel klarer machen, dass die Agenda 2010 kein Ziel an sich, sondern nur ein Instrument ist, um soziale Ziele wieder erreichen zu können”.

Dass er all denen, die in Berlin demonstriert haben, genau mit diesem verlogenen Geseiere nicht mehr kommen kann, hatte Müller da vielleicht noch gar nicht begriffen. Die Grünen ergingen sich Anfang der Woche noch in Beschimpfungen der Demo-OrganistorInnen und ihrer “unmöglichen” Aufruftexte.
Auftrieb wird die Erfahrung des 1.11. nicht zuletzt den gewerkschaftlichen Gruppen geben, die sich entgegen aller Abwiegelungsversuche höchster und halbhoher Führungsgremien teilweise sehr früh, größtenteils eher recht spät doch entschlossen haben, zu der Demonstration aufzurufen und tatsächlich zu mobilisieren und Mitfahrgelegenheiten zu organisieren. Es gilt, den anhaltenden Widerstand der Bremser in unseren Organisationen zu brechen, Sommer und seine Gefolgsleute ins Abseits zu stellen und Schluss zu machen mit einem Kurs des DGB, der unsere “FührerInnen” ganz aktuell zu immer neuen Grausamkeiten der Regierung die Hand reichen lässt (nachdem sich Sommer kurzzeitig sogar an die Seite Stoibers gestellt hatte). In diesen Auseinandersetzungen entscheidet sich die Zukunft des Widerstandes gegen Sozialabbau und politische Rechtsentwicklung.

Aus Kiel fuhren, organisiert von ver.di und IG Metall, drei Busse nach Berlin. Weit mehr als im Mai nach Hamburg. Schon im Gedränge der Auftaktkundgebung am Alexanderplatz verloren sich viele TeilnehmerInnen aus den Augen und trafen sich erst zur Rückfahrt wieder – absolut guter Dinge.
Als Beispiel für die Kundgebungsreden mag hier die von Matthias Fritz stehen, der Betriebsrat bei der Mahle GmbH in Stuttgart ist und zum Auftakt gesprochen hat.
“Kolleginnen und Kollegen!

Im Mai hatte Sommer vom DGB die Aktionen gegen die Agenda abgesagt. Auf dem Gewerkschaftstag der IGM hat er erklärt, `dass wir erst alle Kolleginnen und Kollegen erreicht haben´  müssen, bevor Aktionen sinnvoll sind.

Das Gegenteil ist richtig: Es reicht nicht zu erzählen, dass die Politik der Regierung unsozial ist und dass wir bessere Ideen haben: Wir müssen den Menschen zeigen, dass sie nicht alleine sind, dass wir die Arbeitenden und Arbeitslosen die Mehrheit sind und dass wir eine Kraft sind. Wir wissen, dass wir heute nicht die Agenda stoppen werden – aber wir werden zeigen, dass es Menschen gibt, die kämpfen können und wollen. Wir werden nicht warten bis Sommer seinen Hintern hochbringt!

Es stimmt schon, dass es Leute gibt, die sich von den Sprüchen über “Ruck durch Deutschland” und “Reformen sind nötig” blenden lassen. Wir werden sie überzeugen müssen und können. Aber wenn Leute wie Sommer, die genau wissen, was da ausgebrütet wird, Aktionen verhindern und absagen, wenn sie, wie im Mai gerade diejenigen, die unter einigem Kraftaufwand für einen guten Auftakt gesorgt hatten – vor den Kopf stößt- dann ist das viel schlimmer, als nicht genau zu wissen, was die Agenda ist.

Diese Demobilisierung hat dazu geführt, dass Unternehmer und ihre Politiker

• die Flächentarife angreifen,

• die Löhne senken wollen, bis zu 30%,

• die Arbeitszeit verlängern,

• noch mehr Stellenstreichen und Entlassungen durchführen,

• dass sie gerade die Arbeitslosigkeit massiv nach oben treiben,

• dass sie noch frecher geworden sind!

Kolleginnen und Kollegen!

Viele Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen sind gewohnt auf Sitzungen Forderungen aufzustellen und Aktionen zu beantragen und so etwas Druck auf die Apparate zu machen. Im Mai mussten wir alle die Erfahrung machen, dass das nicht reicht. Sommer und Zwickel hätten die Aktionen auch abgeblasen, wenn zwei oder dreimal soviel auf der Strasse gewesen wären. Das hat Klaus Zwickel ja beim Streik für die 35 Stunden gezeigt!

Diese Demonstration ist der Beweis. Wir müssen uns selbst organisieren. Das gilt für die Linke in den Gewerkschaften. Das gilt für alle, die heute hier sind: Wir haben es geschafft, diese Demo zustande zu bringen. Das muss weitergehen. Zum Beispiel in Aktionskomitees oder Sozialforen. Und wir müssen für unsere Koordinationen demokratisch mit Delegierten gestalten. Nur so werden wir dauerhaft eine andere Politik erarbeiten können und dafür Menschen gewinnen. Nur so werden wir diejenigen in unseren Organisationen ablösen können, die nicht fähig oder nicht willens sind.

Kolleginnen und Kollegen!

Viele äußern sich besorgt, dass sich angesichts des Sozialabbau-Wahns aller Parlamentsparteien die Gewerkschaften isolieren könnten. Sie rufen auf, die Mitte der Gesellschaft zu suchen. Sie meinen natürlich die SPD. (Wenn jetzt einige mit der CSU liebäugeln, zeigt das nur die Erbärmlichkeit dieser Taktik.) - Ich frage mich, wer denn isoliert ist. In Bayern und Brandenburg haben alle Parteien bei der Wahl Stimmen verloren. Auch der scheinbare Sieger CSU hat nicht einmal 35% der Wähler erreicht, in Brandenburg die CDU gerade 13%. Alle haben verloren und die SPD am meisten. Weil sie das Gegenteil davon tut, wofür sie gewählt worden ist. Schon zur Selbsterhaltung dürfen sich die Gewerkschaften nicht mit dieser Politik verbinden! Das wird sie wirklich isolieren!

Kolleginnen und Kollegen!

Die große Depression ist vorbei. Immer mehr Menschen sehen wie ihnen das Fell über die Ohren gezogen werden soll und fangen sich an zu wehren. Ich denke das Kapital und seine Politiker haben überzogen. Wie schon 1996 bei der Lohnfortzahlung. Ja viele Menschen trauen sich noch nicht, aber so feige wie die Sommers sind sie auch nicht. Wir werden sie gewinnen, wenn wir gemeinsam eine Perspektive entwickeln. Dazu gehört:

• Das Kapital angreifen: Die Unternehmer sind mächtig, aber wenn die Fabriken stehen, siehts schlecht aus! Wenn die Unternehmer über die Politik die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften angreifen, dann werden und müssen diese Streiks eben politisch werden!

• Arbeitende und Arbeitslose gemeinsam: Jeder Arbeiter muss verstehen, dass es ihn morgen trifft, wenn heute die Arbeitslosen angegriffen werden!

• International: Die Proteste in den anderen Ländern Europas zeigen, dass es nicht um die Beseitigung einer Schieflage im deutschen System geht, sondern um einen abgestimmten Angriff. Diesen müssen wir gemeinsam beantworten. Früher haben wir gesagt, wir müssen französisch lernen. Heute können wir italienisch lernen, wir können spanisch und griechisch lernen! Und sogar österreichisch.

Lasst uns in diesem Sinne eine Bewegung aufbauen. Vielleicht entsteht aus so einer Bewegung auch eine neue Partei. - Leute, es liegt an uns, dass das heute kein x-beliebiger Protestmarsch wird, sondern zu einem Wendepunkt wird! Vorwärts!”

Noch ein Eindruck am Rande. Was tut man im Bus, wenn man nicht pennt oder sich unterhält? Man liest vielleicht, möglicherweise eine Zeitung. Ich hatte mir auf einem Rastplatz die FAZ besorgt, weil ich mir die ost-regionalen Ableger westdeutscher Konzerne nicht antun mochte. Zwei Meldungen fielen mir besonders ins Auge. Die erste mit der Überschrift “Gewerkschafter sind Selbsterhaltungstriebler” besagte u. a.: “Während einer Konferenz des Bundesverbandes Junger Unternehmer, in dem 2500 Unternehmer unter 40 Jahren zusammengeschlossen sind, hat dessen Bundesvorsitzender Marcus Schneider in Hannover bei der Erläuterung der Kampagne `Deutschland bewegen´ scharfe Angriffe gegen die Bundesregierung und Gewerkschaften gerichtet. Nötig sei vor allem eine Deregulierung des Arbeitsmarktes, des Tarifrechts und des Kündigungsschutzes sowie eine Reform der sozialen Systeme. Eigentlich sei jede Form des Kündigungsschutzes einstellungsfeindlich, sagte Schneider mit Hinweis auf den Schutz von Behinderten, deren Einstellung ein Unternehmer eben vermeiden werde. Besonders dringend sei eine Korrektur des Tarifrechts, das ohnehin schon ausgehöhlt sei, da 80 Prozent der Arbeitnehmer schon nicht mehr nach den Tarifbestimmungen beschäftigt wären. Mit zuspitzender Formulierung sagte Schneider, er persönlich hätte auch nichts gegen ein Verbot der Gewerkschaften, die ohnehin überflüssig seien. Die Gewerkschaftsvertreter trügen nur dazu bei, dass Arbeitsplätze vernichtet würden.”

Ein faschistoider Nichtsnutz an der Spitze einer nach Tausenden zählenden Bande spricht sich mal eben für ein Verbot der Gewerkschaften aus. In diesem Sinne möchte er Deutschland bewegen. Wir sollten dringend dafür sorgen, dass ihm der Spaß an solchen Äußerungen vergeht.

Es kommt allerdings nicht von ungefähr, dass Unternehmer gleich welchen Alters gern mal über die Zahnlosigkeit und Nutzlosigkeit der Gewerkschaften spotten. Gute Gründe lieferte ein weiterer Artikel in der FAZ. Überschrift: “CSU schlägt die 48-Stunden-Woche vor”, Unterzeile: “Arbeitszeitmodell der Post als Vorbild ... ” Allzu wenige wissen überhaupt, daß die CSU hier positiv auf die Gewerkschaft ver.di Bezug nimmt: “Die Post hatte im Juli mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi einen Beschäftigungspakt geschlossen ... Dieser sah unter anderem einen flexibleren Einsatz der Arbeitskräfte vor. Briefträger können danach ihre Wochenarbeitszeit freiwillig auf 48 Stunden erhöhen und dabei auch entsprechend mehr verdienen.” Im Klartext: Briefträger können aktiv dafür sorgen, dass das Unternehmen mit möglichst wenig Arbeitskräften auskommt. Dieser Schlag gegen solidarisches Denken und Handeln wurde von Unternehmern und Gewerkschaftsvertretern gemeinsam geführt. Und das hat seine fatalen Auswirkungen in jedem Fall, auch wenn zurzeit die tatsächliche Arbeitszeit noch deutlich unter den nun möglichen 48 Stunden liegt und sich die Unternehmensvertreter erst mal über die “höhere Flexibilität” freuen.

Wahrlich, dass der Gewerkschaftstag von ver.di zur Demonstration nach Berlin aufgerufen hat, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel wir in unserem eigenen Stall noch auszumisten haben. Auch diese Arbeit können wir mit dem in Berlin gewonnenen Optimismus schwungvoller angehen.

(Dietrich Lohse)