Stichtag: 7. November

Fast jeder Tag von November bis Januar könnte ein Tag des Gedenkens an Ereignisse der deutschen Revolution vor 85 Jahren sein. Der 7. November des Jahres 2003 aber macht deutlich, dass dieses Gedenken die deutsche Linke keineswegs eint. Die Versuche, gemeinsame Aktionen der Linken in Kiel – der Stadt, die mit der Revolte der Matrosen und Arbeiter das Signal zur Volkserhebung gab – aus Anlass des 85. Jahrestages herbeizuführen, scheinen weitgehend gescheitert. Die PDS macht – ohne jeden Versuch, mit anderen ins Gespräch zu kommen - ihr eigenes Ding, einen Stadtrundgang am 8.11.; am 9.1. findet eine Stadtrundfahrt mit dem Verein “Mahnmal Kilian” statt; ich kann nur hoffen, dass bei Erscheinen dieser LinX der Stadtrundgang am 15. November, dessen Organisierung entgegen früherer Absprachen im Moment allein der Gruppe “Avanti” überlassen bleibt, nicht nur stattfindet, sondern zumindest teilnehmermäßig von den einmal in die Planung einbezogenen Organisationen unterstützt wird. Nicht, dass nicht jede einzelne Aktion gut und nützlich sein kann – ich wünsche jeder von ihnen viele TeilnehmerInnen. Aber mit der Zusammenarbeit der Linken in Kiel ist es einmal mehr nicht weit her.

Die Bedeutung der Novemberrevolution wird indessen nicht nur in Kiel weiter diskutiert, die Auseinandersetzung darüber kann spannend und fruchtbar sein. Und so bin ich weiterhin der Meinung, dass wir an dem Plan festhalten sollten, im Dezember eine Veranstaltung zu dem Thema durchzuführen – habe also die Hoffnung auf eine Verständigung zur Zusammenarbeit nicht gänzlich aufgegeben. Auf solcher Veranstaltung könnten unter anderem die Thesen diskutiert werden, die in den letzten Jahren etwa von Historikern präsentiert wurden, die der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung angehören oder nahe stehen (Klaus Kinner, Wolfgang Ruge). Und Diskussionen vertieft werden, wie sie in linken Organisationen laufen. Ein Beispiel aus der DKP: In der UZ Nr.45/2003 schreibt Günter Judick in einem Kommentar unter anderem:

“Die unterschiedliche Bewertung der Novemberrevolution hatte und hat für die Strategie der verschiedenen Kräfte der Arbeiterbewegung eine große Bedeutung. War sie für die SPD entweder überflüssig oder aber nur die Bestätigung ihres reformistischen Weges und der Klassenzusammenarbeit mit dem Militarismus, so diskutierten Kommunisten darüber, ob sie als gescheiterte sozialistische oder als eine unvollendete, mit vorwiegend proletarischen Mitteln geführte, bürgerlich-demokratische Revolution einzuschätzen war.

Die Einschätzung als eine von der SPD-Führung verratene sozialistische Revolution führte zu einer Unterschätzung ihrer positiven Ergebnisse und der Notwendigkeit, `jeden Fetzen´ bürgerlich demokratischer und sozialer Rechte zu verteidigen. Das behinderte nicht unerheblich das Ringen um Aktionseinheit.” (Ende des Kommentars.) Günter Judick hängt der zweiten der von ihm erwähnten Thesen an; sein Kommentar ist deshalb überschrieben “Die Unvollendete”.
Judicks “entweder – oder” scheint mir so ungenau, dass ich eher Wolfgang Ruge zustimmen möchte, der vor etwa sechs Jahren in einer vergleichenden Studie der russischen Oktober- und der deutsche  Novemberevolution schrieb, der “Ertrag der Forschung” hätte “ohnehin keine säuberliche Einordnung in die Schubkästen `proletarische´ und `bürgerliche´ Revolution gerechtfertigt”.

Es wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen, wozu die rebellierenden Massen in den Monaten November bis Januar, bis zur blutigen Niederschlagung aller Versuche zur Aufrichtung einer proletarischen Rätemacht durch die von Noske befehligte Soldateska bereit gewesen wären, wenn sich eine zielklare und organisationsfähige revolutionäre Führung gefunden hätte. Aus sich selbst heraus waren sie zur Erzwingung sozialistischer Verhältnisse im Reich weder bereit noch fähig. Das zeigte die ganze Geschichte von den Kieler “14 Punkten” bis zu dem tragischen Verlauf der Massendemonstrationen und des Generalstreiks in Berlin am 5. und 6. Januar 1919.

So entstand im Ergebnis der “mit proletarischen Mitteln” (Judick) von ProletarierInnen mit und ohne Uniform durchgeführten Erhebung zweifellos eine “unvollendete” bürgerlich-demokratische Republik, die die Keime ihres Untergangs bereits in sich trug. Die Bemühungen, die Erhebung in sozialistische Bahnen zu lenken, waren gescheitert. Es war eine Revolution, in deren Verlauf so viele Chancen verspielt wurden, dass Carl von Ossietzky darin die “Niederlage eines Jahrhunderts” sah. Dass in der KPD unmittelbar nach der Parteigründung starke Kräfte zum “linken Radikalismus” neigten und etwa Parlaments- und Gewerkschaftsarbeit ablehnten, ist historische Tatsache ebenso wie mancherlei andere schwerwiegende Fehler der KPD, auch in Bezug auf notwendige Einheitsfrontaktionen, in den folgenden (wenigen) Jahren der Weimarer Republik.

Unbestreitbar ist aber auch, dass die Herrschenden in Deutschland, dass die Beherrscher aller Zweige des deutschen Industrie- und Finanzkapitals 1918/19 die Sorge umtrieb, sie könnten tatsächlich ihrer Herrschaft vollständig verlustig gehen. Sie sahen die Errichtung des Sozialismus in Deutschland als möglich an. Unbestreitbar ist die Anstrengung der Mehrheits-Sozialdemokratie, eben das zu verhindern, unbestreitbar ist die berechnende Bereitwilligkeit, mit der die genannten Kreise die angebotenen Dienste (man mag das nun “Verrat” nennen oder nicht) dieser Partei angenommen haben. – Diskussionsstoff in Fülle ...

Es ist in der Linken so viel an geschichtlichem Wissen verloren gegangen, dass ich es für nützlich halte, auch zum Datum 7. November einmal mehr eine historische Quelle zu zitieren. Der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann, den viele nur als Republik-Ausrufer vom 9. November kennen, war seit einiger Zeit Mitglied der Regierung. In einer Sitzung des Kriegskabinetts am fraglichen Tage erklärte er unter anderem:

“Die Vorgänge in den Küstenstädten und in Hannover zeigen, dass Teile des Reichs in Revolution stehen. Es kommt hinzu, dass die in Berlin vorgenommenen Maßnahmen wie: Aufpflanzen des Militärs mit Bajonetten, Aufstellung von Maschinengewehren am Lehrter Bahnhof, verbitternd gewirkt haben.

So ist eine Gesamtsituation entstanden, die uns vor die schwerste Entscheidung gestellt hat. Dem außerordentlich geschickten Eingreifen des Abgeordneten Ebert ist es die letzten Abende noch gelungen, die Massen ruhig zu halten. Jetzt ist das nicht mehr möglich, ohne dass bestimmte Forderungen erfüllt werden. Wir haben daher dem Herrn Reichskanzler im Auftrage der sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratischen Fraktion folgende letzte Forderungen gestellt:

1. Freigabe der heute verbotenen Versammlungen.

2. Anweisung an Polizei und Militär zur äußersten Besonnenheit.

3. Rücktritt des Kaisers und des Kronprinzen bis Freitag Mittag.

4. Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses in der Regierung.

5. Umgestaltung des preußischen Ministeriums im Sinne der Mehrheitsparteien des Reichstags.

Ist bis Freitag Mittag keine befriedigende Antwort erfolgt, so tritt die Sozialdemokratie aus der Regierung aus.

Die Regierung ist bisher über Reden wenig hinausgekommen. Die unteren Organe funktionieren in alter Weise weiter und setzen zum Teil unseren Beschlüssen passive Resistenz entgegen ... Wenn wir verhindern wollen, dass die Unruhen schlimmste Dimensionen annehmen, so müssen wir hier eingreifen und den Leuten zeigen, dass wir in ihrem Geiste arbeiten. Uns ist der heutige Entschluss und der Weg zum Reichskanzler furchtbar schwer gefallen; aber da wir zu der Überzeugung gekommen sind, daß der Reichskanzler von sich aus doch nicht den Entschluss fassen würde, den Kaiser zur Abdankung zu bewegen, so mussten wir handeln. Der Kaiser soll angeblich zu Exzellenz Drews gesagt haben: Ìch weiche nur der Gewalt.´ Wenn die Abdankung jetzt nicht erfolgt, so wird in kurzer Zeit die Frage gestellt sein: Republik oder Monarchie. Ich bitte Sie, den Ernst der Situation zu sehen ...

Wir haben uns die größte Mühe gegeben, auf die Massen zu wirken. Wenn die Massen in der Kaiserfrage in Bewegung gekommen sind, so sind in erster Linie die bürgerlichen Blätter, wie die Frankfurter Zeitung, es gewesen, die hierzu beigetragen haben. Man kann die Massen auch jetzt noch im Zaum halten, wenn man Konzessionen macht. Was auch das Kabinett für Beschlüsse fasst, die preußische Verwaltung pfeift darauf. Wenn Exzellenz von Payer auf die schwere Verantwortung hinweist, die wir tragen, so muss darauf klargestellt werden, daß die schwerste Verantwortung der Kaiser trägt. Er musste seit Wochen wissen, was er zu tun hatte. Es gibt wohl niemanden im Kabinett, dem nicht ein Stein vom Herzen gefallen wäre, wenn der Kaiser rechtzeitig das Richtige getan hätte. Jetzt gibt man ihm schon die Schuld am Kriege. Wenn er gesagt hat, er weiche nur der Gewalt, so verschlimmert das die Situation. Es ist nicht zweifelhaft, wie das ausgehen muss...

Unsere Überlegung ist es, dass das Reich zusammenbricht, wenn der Kaiser nicht sofort abdankt. Dankt er ab, so glauben wir die Garantie übernehmen zu können, dass die Entwicklung sich günstig gestalten wird. Wir sind bis heute unseren Zusagen treu geblieben, wir haben unseren Ruf aufs Spiel gesetzt ...

Ich mache folgenden Vorschlag:

1. Sofortige Mitteilung des Tatbestandes an den Kaiser.

2. Weder der Reichskanzler noch wir ziehen die äußersten Konsequenzen, bis der Waffenstillstand abgeschlossen ist.

Ich will versuchen, diesen Vorschlag in meiner Fraktion durchzusetzen, kann aber nicht für den Erfolg garantieren...

Ich habe inzwischen den Abgeordneten Ebert gesprochen. Er hat mir mitgeteilt, daß unsere Forderungen auf die Arbeiterschaft außerordentlich beruhigend gewirkt haben ... Sie, meine Herren, und der Herr Reichskanzler müssen doch einsehen, dass wir alles getan haben, was wir konnten, um die Massen bei der Stange zu halten.” (Hervorhebungen von mir.)

Zwei Tage später half das alles nichts mehr – notgedrungen verzichtete Scheidemann nicht nur auf Kaiser Wilhelm, sondern auf die ganze Monarchie und bekannte sich zur Republik, auf dass sich die Massen in Berlin nicht etwa doch Karl Liebknecht und seinem Appell, die sozialistische Republik zu verwirklichen, zuwendeten.

(D.L.)