Kommentar:

Günstige Zeiten

Hunderttausend am ersten November gegen Sozialkahlschlag auf den Straßen Berlins, zwei Wochen später eine ähnlich große Menschenmenge aus ganz Europa gegen Neoliberalismus, EU-Verfassung und Krieg auf den Avenuen Paris wieder ein paar Tage später gar über 200.000 in London gegen den Besuch des texanischen Kriegsherren. Europa ist aufgewacht und seine sozialen Bewegungen beginnen, an einem Strick zu ziehen. Es entsteht ein ganz neuer, massenhafter und sehr konkreter Internationalismus. In allen Ecken und Enden des Kontinents sehen die Akteure in den Gewerkschaften, Bündnissen, lokalen Initiativen, Frauengruppen und Jugendorganisationen immer klarer, dass es nicht mehr reicht, sich nur mit der eigenen Regierung herumzuschlagen. Ob sozialdemokratisch oder konservativ, in drei Dingen sind sich die Regierungen der EU-Staaten einig: Sozialabbau zugunsten derer, die schon reichlich haben, Militarisierung der Außenpolitik sowie verstärkte Unterdrückung im Inneren; und die real existierende Europäische Union ist ihr wesentliches Instrument zur Durchsetzung. Widerstand gegen diese Politik kann also nur dann eine Perspektive, wenn er die Grenzen des Nationalstaates überwindet, wenn die Proteste in den einzelnen Ländern ganz konkret koordiniert werden.

Für Deutschland bietet diese Europäisierung ihre besonderen Vorzüge. Wovon auch an dieser Stelle in den letzten Jahren des öfteren geredet und geträumt wurde, nämlich, dass der Funke aus Frankreich, Italien oder zuletzt Österreich überspringen würde, könnte endlich wahr werden. Die überraschend gute Beteiligung am 1. November zeigt, dass auch hier die Lunte inzwischen gelegt ist. Selbst in Kiel hat sich  ein Bündnis gegen Sozialabbau gegründet, das erste Aktionen vorbereitet.
Nur sollte man sich nicht der Hoffnung hingeben, dass das Ganze nur eine Frage einer einzigen Explosion sein kann, und dann in vielleicht einem oder zwei Jahren das Ruder herumgerissen ist. Selbst in Ländern mit sehr starker Mobilisierung, wie Italien, Griechenland oder Frankreich hat man den Kurs der Regierung bisher nicht grundsätzlich ändern, wohl aber manches verzögern können. Für eine grundsätzliche Wende braucht es jedoch einen längeren Atem und vor allem den Aufbau von Organisationen, Bündnissen, Medien (auch die LinX könnte eine nützliche Rolle spielen, wenn sie mehr unterstützt wird) usw., das heißt von einer Kultur des Widerstandes. Und dafür sind die Zeiten im Augenblick so gut wie seit langem nicht..

(wop)