Buena Memoria:

Erinnerung an die Militärdiktatur in Argentinien

Wir Kinder sind mit der Angst groß geworden, die immer noch zu spüren war, weil der Putsch so brutal gewesen ist" erklärte Andrés, Schüler des Colegio Nacional in Buenos Aires. Mehr als 30.000 Menschen liessen die argentinischen Militärs während ihrer Diktatur von 1976 bis 1983 spurlos verschwinden. Nicht nur in Chile, auch in mehreren anderen lateinamerikanischen Staaten putschten sich in den siebziger Jahren ultrarechte Militärs mit Unterstützung der USA an die Macht, um die linke Opposition niederzumachen. Damit die Desaparecidos, Verschwundenen, nicht vergessen werden oder nur als namenlose Opfer an sie erinnert wird, hat Marcelo Brodsky gemeinsam mit anderen ehemaligen Schülern des Colegio Nacional dort 1996 Fotos und Erinnerungen an die 105 namentlich bekannten verschwundenen ehemaligen Mitschüler ausgestellt. Andrés beschreibt in Buena Memoria, wie diese Fotos auf ihn wirkten: "Sieht man einen Jugendlichen auf einem der Fotos, denkt man sofort an einen der eigene Mitschüler. Auf den Tafeln liest man von Situationen, die wir so heute noch erleben. Man kann es nicht vergessen. Man kann nicht wegschauen und behaupten, es sei nichts geschehen."

Marcelo Brodsky hat während der Ausstellung heutige Schüler fotografiert, wie sich ihre Gesichter beim Betrachten auf dem Glas der Fotos aus den siebziger Jahren spiegeln. Diese sind als "Brücke der Erinnerung" Teil der Ausstellung Buena Memoria, die in dem jetzt erschienenen gleichnamigen Buch dokumentiert wird. Auch der kurze Text von Andrés ist aus dem zweiten Teil der Ausstellung. Im ersten Teil geht Brodsky vom Klassenfoto seiner Einschulung 1967 in die 8. Klasse aus. Die meisten Köpfe sind eingekreist und mit Notizen beschreiben. Zwei sind durchgestrichen, die Verschwundenen aus seiner Klasse. Er porträtierte die ehemaligen Klassenkameraden einzeln vor einer Vergrößerung des alten Fotos. Über Nestor, Verwalter eines Lagerhauses, steht neben seinem Portrait, er hätte Angst gehabt und deshalb lange gezögert, sich fotografieren zu lassen. Eduardo war mehrere Jahre als politischer Häftling im Gefängnis und arbeitet heute als Psychologe.
Silvana arbeitet im Bildungsministerium an Schulprogrammen. Leonor war nach Israel ausgewandert, ist dort arbeitslos geworden, nach Argentinien zurückgekehrt und arbeitet als Psychologin. Alfredo ist der einzige, der noch in einer linken Partei aktiv ist, der FREPASO, Front für ein solidarisches Land, in der unter anderem die KP mitwirkt. Claudio ist tot: "Als die Faschisten eines Tages an die Tür des Colegio kamen, stellte er sich ihnen mit erhobenen Fäusten entgegen, und sie schlugen ihm den Kopf ein." Das war noch vor dem Militärputsch. Martín Bercovich wurde 1976 entführt und ist seither verschwunden. "Martín war der beste Freund, den ich im Leben hatte. Ich träume noch oft von ihm, obwohl schon zwanzig Jahre vergangen sind, seit sie ihn mitnahmen", schreibt Brodsky. Auf dem letzten Foto von Martín ist ein 21-jähriger großer Junge zu sehen, der mit seinen Eltern segelt. Durchschnittlicher argentinischer Mittelstand, wie die ganze Klasse. Und alle kennen jemanden, den die Militärs als Subversiven verschwinden liessen.

In dem Abschnitt "Nando, mein Bruder" sind private Fotos der Eltern von Marcelo und Fernando Brodsky zu sehen. Fernando trägt auf einem Foto ein T-Shirt mit Che Guevara drauf. Das letzte Foto von Fernando hat ein Mitgefangener in der Marineschule für Mechanik aufgenommen und herausgeschmuggelt. Fernando schaut darauf traurig in die Kamera. Die Mutter hat einen Ort der Erinnerung gestaltet: "Diesen kleinen Altar errichtete Mama im Eßzimmer ihrer Wohnung neben einer Büste von Fernando, die sie selbst anfertigte. Die Menorah und die kleinen Einwandererpuppen mit der Torah unter dem Arm erzählen davon, wie meine Eltern in den Jahren der schlimmsten Angst Zuflucht in den Traditionen und einer gewissen Abgeschiedenheit der jüdischen Gemeinde fanden."
Das Erinnern in Buena Memoria an die Verschwundenen der Militärdiktatur in Argentinien ist eindrücklich, auch wenn deren politische Vorstellungen kaum vorkommen. Politische Hintergrundinformationen kann und will Buena Memoria nicht geben, es geht darum, mit welcher staatsterroristischen Totalität und Gewalt die Militärdiktatur in das Leben ganz gewöhnlicher Jugendlicher aus Mittelschichtsfamilien eingriff. Die Innenseiten des Umschlages zeigen braune Wellen. Hinten Steht: "Sie warfen sie in den Fluß. Er wurde zu ihrem

Grab, das nicht existiert." Die argentinischen Militärs warfen ihre Verhafteten, nachdem sie sie gefoltert hatten, oft über dem Meer oder dem La Plata lebendig aus Flugzeugen oder Hubschraubern ins Wasser. 1978 fand unter diesen Bedingungen in Argentinien die Fußballweltmeisterschaft statt. Die BRD spielte dort gerne mit und kooperierte auch sonst ebenso wie die USA gerne mit der Militärdiktatur. Aber dies ist nicht das Thema des gut ausgestatteten, beeindruckenden Ausstellungsbuches. Brodskys Buch lässt sich entnehmen, was die prowestliche, antikommunistische Militärdiktatur an freedom and democracy für Jugendliche bedeutete, die sich für linke Bewegungen interessierten. Dabei gibt es in der Erinnerung an die Diktatur und ihre Opfer auch in Argentinien eine Tendenz zur Versöhnung, zur Nivellierung. Auch in einem (einzigen) Text in Buena Memoria. Der Journalist Martín Caparrós beendet seinen Beitrag so: "Heute leben wir in einer Zeit, die so anders ist als die damalige und doch so gleich. Mir gefällt die Vorstellung, dass die heutige Zeit unter anderem auch aus dieser Konfrontation hervorgegangen ist - aus der Konfrontation dieser Gesichter, die für das Argentinien von damals und von heute stehen und miteinander reden und manchmal sogar, fast ohne es zu bemerken, einen Konsens erreichen." Konsens worüber?

In einem Gedicht von Marcelo Brodsky wird die Ambivalenz deutlich, mit der er als durch die ultranationalistische Militärdiktatur Unterdrückter und für Jahre in Exil Getriebene trotzdem an dem für argentinische Linke so typischen positiven Bezug auf die Nation festhält: "Tote, Tote/auch das gabst du mir, Argentinien/und es ist nicht so, dass ich dich nicht liebe/aber diese Freunde, diese wenigen Freunde/die Brüder, die nicht wieder geboren werden/wofür? Wofür?/für nichts." José Pablo Feinmann, der dies in seinem Vorwort zu Buena Memoria zitiert, personalisiert den Nationalstaat, in dessen Namen die Militärs wüteten, ebenso wie Brodsky, wenn er über dessen Gedicht schreibt: "Es ist ja nicht so, dass er Argentinien nicht lieben würde, schließlich lieben wir alle dieses Land, aber Brüder werden nur einmal geboren."

Marcelo Brodsky: Buena Memoria. Hatje-Cantz, Ostfildern 2003, 96 Seiten, 144 farbige Abb., 14, 80 Euro

Gaston Kirsche (gruppe demontage)