EU-Verfassungsstreit:

Doch kein Durchmarsch

Das hatten sich die Regierungen in Berlin und Paris anders vorgestellt: Ursprünglich sollte die neue EU-Verfassung im Schnelldurchgang bis zum Jahresende abgenickt werden, und eigentlich wollte man am liebsten überhaupt keine Änderungen an dem unter der Ägide des ehemaligen französischen Präsidenten Valery Giscard d'Estaing entstandenen Entwurf zulassen.

Doch nicht immer läuft es in der EU nach Plan der Großmächte. In Brüssel scheiterte Mitte Dezember die EU-Regierungskonferenz über den Verfassungsentwurf vorläufig. Der Text kann damit nicht mehr wie ursprünglich vorgesehen noch in diesem Jahr verabschiedet werden. Insbesondere konnten sich Spanien und Polen auf der einen sowie Frankreich und Deutschland auf der anderen Seite nicht über die Abstimmungsmodi im Ministerrat und im Europäischen Rat, der vierteljährlichen Konferenz der Staats- und Regierungschefs, einigen. Stein des Anstoßes ist die sogenannte doppelte Mehrheit. Nach der müssten künftig, wie es der Verfassungsentwurf vorsieht, in wichtigen Fragen nicht nur die Mehrheit der ab Mai 25 EU-Mitglieder zustimmen, sondern diese müssen auch mindestens drei Fünftel der Bevölkerung repräsentieren. Das gäbe den drei größten Staaten, zum Beispiel Deutschland, Frankreich und Italien, die Möglichkeit, Beschlüsse zu blockieren. Entsprechend sind Berlin und Paris Fans dieser neuen Regelung und hatten bereits im Vorfeld der jüngsten Gespräche mehrfach erklärt, dass diese Forderung keinesfalls verhandelbar ist. Madrid und Warschau beharrten hingegen bis zum Schluss auf den gültigen Verträgen von Nizza, wo man im Jahre 2000 nach langem hin und her die Stimmenzahlen für die einzelnen Länder festgelegt hatte, die nach dem 1. Mai 2004 gelten sollen, wenn zehn neue Staaten in die Union aufgenommen werden.

In Deutschland unterstütz unterdessen eine große Koalition die harte Haltung der Regierung, wenn es auch im Einzelnen hier und da Kritik an der Verhandlungsführung gibt. Was allerdings bei allem Gezeter über die angeblich undemokratischen Nizza-Regeln gerne übersehen wird, ist dass auch der deutsche Bundesrat eine ähnliche Diskrepanz zwischen Stimmenzahl und Bevölkerungsgröße kennt. Nordrheinwestfalen hat mit seinen fast 18 Millionen Bürgern nur sechs Stimmen, während Niedersachsen mit knapp acht Millionen Einwohnern das gleiche Gewicht und Bremen mit 0,67 Millionen noch drei Stimmen hat. Ähnlich haben seit dem Gipfel von Nizza Deutschland und Frankreich 29 Stimmen sowie Polen und Spanien, deren Bevölkerung jeweils in etwa halb so groß ist wie die deutsche, 27 Stimmen. Doch während am Kräfteverhältnis im Bundesrat seit 50 Jahren niemand Anstoß nimmt, sind die Regelungen von Nizza hierzulande den Führungen aller großen Parteien ein Dorn im Auge. "Gerechte Gewichtung nach Bevölkerungsgröße" sei eine "demokratische Unverzichtbarkeit" sekundierte zum Beispiel CSU-Chef Edmund Stoiber dem Kanzler und zeigte viel Verständnis, dass dieser die Regierungskonferenz in Brüssel hatte platzen lassen.

Der Vergleich macht deutlich, dass hinter dem nun lautstark vorgetragenen Forderungen nach Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit etwas anderes steckt: Paris und Berlin wollen sicher stellen, dass sie ihre Politik auf jeden Fall in der Union durchsetzen können. Bundesaußenminister Joseph Fischer hatte schon im Vorfeld der Verhandlungen gedroht, dass Deutschland und Frankreich sich zum Alleingang entschließen werden, sollte es keine Einigung auf den Verfassungstext geben. Ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" sei die zwangsläufige Folge, meinte auch Bundeskanzler Schröder am Samstag. Aus Paris wurden bereits im Vorfeld des Brüsseler Treffens Überlegungen kolportiert, die deutsch-französische Zusammenarbeit solle im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen außerhalb des EU-Rahmens vertieft werden. Im Auge hat man dabei an Spree und Seine vor allem die Außen- und Militärpolitik, für die man mit dem Rüstungskonzern EADS und gemeinsamen Brigaden bereits vor einigen Jahren eine materielle Basis geschaffen hat.

Die Friedensbewegung sollte daher zwar weiter die EU-Verfassung wegen der mit ihr verbundenen Militarisierung der EU-Außenpolitik kritisieren. Auch die dagegen geplante Kampagne macht viel Sinn und hat nach dem Scheitern in Brüssel sogar ein wenig mehr Zeit. Aber darüber sollte man nicht aus dem Augen verlieren, was sich hinter den Kulissen zwischen Paris und Berlin anbahnt.

(wop)