125 Jahre Sozialistengesetz:

Eine anregende Tagung

Ende November fand im Kieler Gewerkschaftshaus eine wissenschaftliche Konferenz zum 125. Jahrestag des Inkrafttretens des Sozialistengesetzes statt. Die Vorträge werden in einem Buch veröffentlicht, das vermutlich im Frühjahr 2004 erscheint. Dann wird es in der LinX besprochen werden.
In den Diskussionen während der Tagung wurde häufig der Bogen zur heutigen Situation geschlagen. Die heutige SPD hat mit der Sozialdemokratie des “proletarischen Heldenzeitalters” nur noch den Namen gemein, politische und gewerkschaftlicher Widerstand müssen gegen ihre Regierungspolitik entfaltet werden.
Die LinX wurde auf der Konferenz mit einer Beilage verteilt, die in der Versandauflage nicht enthalten war. Ein Beitrag daraus sei hier (etwas erweitert) wiedergegeben, weil man darin eine inhaltliche Plattform findet, auf deren Grundlage man heute mit oppositionellen Sozialdemokraten gemeinsam das notwendige Handeln organisieren könnte.

100 Jahre nach Erlass des Sozialistengesetzes formulierte ein nicht ganz unbekannter sozialdemokratischer Gewerkschafter seine Bilanz so:

Sozialistengesetz und Gegenwart

“Beginnt jede Generation mit ihrer Geschichte immer wieder von vorne? Wird Erfahrung immer nur dem `hier und heute´ zugeordnet?  (...) Aus der Geschichte lernen, ist ... keine modische Forderung. Niemand anders, als die Millionen, die in den letzten 100 Jahren in Kriegen und Konzentrationslagern sterben mussten, sind für uns Auftrag, geschichtsbewusst zu leben und tätig zu sein. Lehrstücke bieten uns die letzten 100 Jahre Arbeiterbewegung in Fülle.
Nachdem 1878 von Tätern, die nichts mit der Arbeiterbewegung zu tun hatten, zwei Attentate auf den Kaiser verübt worden waren, stieß Bismarck (so wird berichtet) seinen Eichenstock auf die Erde und beschloss: `Dann lösen wir den Reichstag auf´. Einige Monate später ... trat das `Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie´ in Kraft. (...)

Die zurückliegenden 100 Jahre sind für die Arbeiterbewegung von großer Bedeutung. Im Jahre 1875, drei Jahre vor dem Sozialistengesetz, vereinigten sich die verfeindeten Arbeiterparteien, die `Lasalleaner´ und `Eisenacher´. Viele hatten das für unmöglich angesehen, und die Reaktionäre um Bismarck hatten nichts so sehr gefürchtet als diese Vereinigung. Die politische Einheit der Arbeiterbewegung wurde Quelle einer Kraft, die sich in 12 Jahren brutaler Unterdrückung als unbesiegbar erwies. Die Epoche von 1878 bis 1890 ist auch das früheste Beispiel dafür, dass kapitalistische Krise, Unterdrückung und Militarismus in einem engen Zusammenhang stehen.

Die 1873 einsetzende Krise war die erste, in deren Verlauf die herrschenden Klassen mit der Existenz einer entwickelten Arbeiterbewegung in Deutschland zu rechnen hatten. Die Antwort der Herrschenden hieß Terror, Aufrüstung und schließlich Krieg. (...)

Auch heute befinden wir uns in einer Krise ... auch sie ist eine kapitalistische, die unversöhnliche gesellschaftliche Widersprüche sichtbar macht. Krisen haben immer die gleichen Ursachen, nämlich das Missverhältnis von Produktivkraft-Entwicklung und gesellschaftlicher Herrschafts-Struktur, von privater Verfügung über die Produktionsmittel und den Erfordernissen der gesellschaftlichen Arbeit.

Krisen sind Wendemarken der Geschichte, entweder Motor für den demokratischen Fortschritt oder Anlass für den Rückfall in autoritäre Verfestigung. In der Krise versuchen die Unternehmer scheibchenweise zurückzuholen, was die Arbeiterbewegung in 100 Jahren erkämpft hat.
Uns Gewerkschafter muss es als erste alarmieren, wenn die politische Initiative mehr und mehr auf reaktionäre Kräfte übergeht. Hier hilft es nicht, sich allein mit juristischen Mittel zur Wehr zu setzen. Wir müssen solchen Entwicklungen auch entschiedenen politischen Widerstand entgegensetzen. (...) Für uns Gewerkschafter ... heißt aus der Geschichte lernen, die Unternehmerideologie zu durchschauen und Widerstand zu entwickeln gegen alle Versuche, die Koalitionsfreiheit einzuschränken und das Streikrecht auszuhöhlen, die gewerkschaftliche Unabhängigkeit zu gefährden und die Existenz freier Gewerkschaften in Frage zu stellen.
Welche Erkenntnisse haben wir also aus dem Ringen um die einfachsten demokratischen Rechte während der 12jährigen Diktatur des Sozialistengesetzes zu ziehen?

Es ist erstens die Einsicht in die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit.

Es ist zweitens die Erfahrung, dass der Widerstand gegen das Unternehmertum nur organisiert möglich ist, und dass den Gewerkschaften dabei eine große Bedeutung zukommt.

Drittens vermittelte der Kampf gegen das Sozialistengesetz die Erkenntnis, dass die Waffe des Streiks unverzichtbar ist. Die Gewerkschaftsbewegung entstand aus der Streiknotwendigkeit und sie war dort erfolgreich, wo sie bereit und fähig war, die Waffe des Streiks zu gebrauchen.

Viertens lehrt uns dieser Kampf, dass es nicht die Politik gutgläubiger Partnerschaft war, sondern die politische und gewerkschaftliche Kampfkraft, die den herrschenden Klassen Zugeständnisse abrang, das “Schandgesetz” unwirksam werden ließ und am Ende zu Fall brachte.”

(Leonhard Mahlein, Vorsitzender der Industrie-Gewerkschaft Druck und Papier: “Hundert Jahre danach – Sozialistengesetz und Gegenwart”. Rede beim DGB-Kreis Bielefeld am 18. Oktober 1978. In: “Leonhard Mahlein”, Nachrichten-Verlags-Gesellschaft Ffm, 1986)