Aktionstag des Bündnisses gegen Sozialabbau in Kiel

Am 19. Dezember gab es auf dem Rathausplatz eine Kundgebung gegen Sozialabbau und anschließend einige Aktionen in der Holstenstraße. Der Vorschlag, noch vor Weihnachten eine Demonstration gegen die „Agenda 2010“ zu organisieren, hatte sich im neugegründeten Bündnis gegen Sozialabbau, in dem auch ver.di und die IGM vertreten sind, nicht durchsetzen können. Wir dokumentieren nachfolgend eine der Kundgebungsreden. Das Bündnis hat sich kurz nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe getroffen, so dass über die nächste Planung noch nichts berichtet werden kann.

Liebe Kielerinnen und Kieler, liebe Kolleginnen und Kollegen,

mein Name ist Dietrich Lohse, ich bin Drucker von Beruf und Mitglied im ver.di-Fachbereich 8 in Kiel. Seit dem 1. November 2003 bin ich erwerbslos - der Betrieb, in dem ich beschäftigt war, ist pleite. Keine Sensation in Kiel, leider alltägliche Normalität.

Ihr werdet verstehen, dass mich wie viele unserer Kolleginnen und Kollegen die Abstimmung, die heute im Bundestag vor sich gegangen ist, mit besonderer Wut erfüllt. Während die Reichen in diesem Land immer reicher werden und eine Steuererleichterung nach der anderen erfahren, wird bei denen gekürzt, die heute schon wenig oder kaum noch etwas haben. Für die Noch-Beschäftigten wird die kleine Steuererleichterung aufgefressen von den überall steigenden Zuzahlungen und Eigenleistungen, den nicht mehr Beschäftigten wird zwar keine Arbeit angeboten, aber der Lebensunterhalt weiter erschwert. Die heute beschlossene Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln für die Arbeitsaufnahme wird den Druck auf die Löhne weiter erhöhen und zu Lohnsenkungen beitragen, die Ausweitung des Prinzips ungehinderten Heuerns und Feuerns in den Betrieben soll den Druck auf die arbeitenden Menschen weiter erhöhen, ihre Widerstandsbereitschaft untergraben, sie und uns alle mutlos machen.

Um der Bevölkerung den angeblichen Nutzen dieser asozialen Politik plausibel zu machen, hat die Bundesregierung in den letzten Tagen in deutschen Städten ein kleines rotes Heftchen verteilen lassen. Draufgedruckt ist "Agenda 2010 - Deutschland bewegt sich", reingedruckt sind viel Demagogie und eine Menge Lügen. Wie viele -zig-Tausend Euro der Spaß wohl gekostet hat? Auch ihre eigene Verdummung muss die Bevölkerung schließlich selbst bezahlen ...

Auf dem Foto eines Transparents demonstrierender StudentInnen habe ich heute in der "Frankfurter Rundschau" einen bemerkenswerten Ausspruch Adornos gelesen: "Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen." - Ja, diese Aufgabe müssen wir unter anderen lösen: Aufklären, den Lügen die Wahrheit entgegenhalten. Dazu gibt es übrigens von meiner Gewerkschaft einige sehr hilfreiche Veröffentlichungen; kleine rote Heftchen drucken, das können wir auch. Die Inhalte zu prüfen und gegeneinander abzuwägen, können wir euch allerdings nicht ersparen.

Wir müssen nicht nur aufklären. Uns nicht dumm machen lassen, das heißt vor allen Dingen: Erkennen, dass wir keineswegs ohnmächtig sind. Wir sind nicht ohnmächtig, wenn wir - jede und jeder für sich, nicht zuletzt aber die Belegschaften jeweils einzelner Betriebe mit einem nicht furchtgeblendeten Blick über den eigenen Brunnenrand hinaus - begreifen, dass immer noch wir es sind, die den Reichtum dieser Gesellschaft produzieren, dass ohne uns auch in der "globalisierten" Wirtschaft des modernen Kapitalismus nichts läuft, wenn wir einig sind und uns dem Zwang verweigern. Das wird nicht ohne Kampf und Mühen abgehen, und die Angst jeder und jedes Einzelnen ist verständlich.

Angst überwindet man nicht durch Nachdenken, sondern durch erfahrene Solidarität. Diese Erfahrung im gemeinsamen Handeln der arbeitenden und in der die Erwerbslosigkeit gezwungenen Menschen zu ermöglichen, das gilt es zu organisieren, das ist das Gebot der Stunde und die vordringliche Aufgabe aller Gewerkschaftsorganisationen. Dabei reichen wir die Hand über die Grenzen unseres Landes und hoffen darauf, dass uns die so wie wir und oft schlimmer bedrängten Menschen in den anderen Ländern ebenso die Hände reichen. Wir sind sehr darauf angewiesen.

Außerdem wissen wir, dass wir das Bündnis nicht nur der noch oder gezwungenermaßen nicht mehr abhängig Beschäftigten, sondern aller Menschen brauchen, die sich der Politik zumindest des ungebremsten Kapitalismus und des Sozialkahlschlags in all seinen Formen widersetzen wollen. Auch im Bewusstsein der Größe der eigenen Organisationen ist Bescheidenheit und offenes Zugehen auf andere Organisationen in diesem Zusammenhang angebracht.

Schließlich müssen wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter uns bewusst machen, dass das Handeln unserer eigenen Organisationen oftmals die Lehren nicht beherzigt, die sich unter anderem aus der Lektüre unserer Publikationen ergeben. Zahlreiche mit Zustimmung von Gewerkschaftsorganisationen abgeschlossene Tarifverträge unterlaufen Lohn- und Manteltarife, ermöglichen gar (häufig unbezahlte) Überstunden in einer Zeit, da die allgemeine weitere Arbeitszeitverkürzung dringend geboten ist. Auf die konkreten Bedingungen solcher Abschlüsse kann ich hier nicht eingehen, und ich bin weit entfernt davon, Kolleginnen und Kollegen, die sich in der bereits angesprochen begründeten Angst um die eigene Zukunft zu solchen Opfern bereit finden, einfach Vorwürfe zu machen. Aber wir müssen uns der gesellschaftlichen Auswirkungen unseres Handeln zu jeder Zeit bewusst bleiben, und eins ist sicher: wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, hier eine andere Richtung durchzusetzen, werden wir Schiffbruch erleiden. Auch die Tarifautonomie, deren Erhalt eine der zentralen Forderungen auch des Kieler Aktionsbündnisses ist, verteidigen wir nur dann sinnvoll, wenn wir nicht nur ihren Namen verteidigen - indem wir uns etwa freiwillig zu all den Aufweichungen bereit finden, die  Unter- nehmerverbände, Parteien und auch die Schröder-Regierung von uns fordern, damit ein Eingreifen des Gesetzgebers verhindert werde. Nein, hier müssen wir  in- haltliche Zeichen setzen und uns zur Not auch gegen Gesetzesmaßnahmen mit unseren ureigenen Mitteln zur Wehr setzen. So schwer das zur Zeit zu verwirklichen scheint: ich bin davon überzeugt, dass wir dabei um den Einsatz der Waffe des Streiks nicht herumkommen werden.

Heute wurde das Projekt "Hartz IV" von den Regierenden abgesegnet. Schlimmeres noch ist bereits angedroht. Wir sind nicht entmutigt. Wir akzeptieren die asoziale Politik der Herrschenden nicht. Wir leisten heute einen weiteren Beitrag zur Organisierung des Widerstands in unserer Stadt Ich danke für eure Aufmerksamkeit.