Das Elend der Gewerkschafts-Theorie

Als ich am 19.12.03 davon sprach, dass ver.di auch kleine rote Broschüren drucken könne, hatte ich die mit dem Titel "Autos kaufen keine Autos" gemeint. - Kennt ihr nicht? Nun, es lohnt sich schon, mal reinzusehen. Hier werden nützliche, statistisch untermauerte Argumente gegen die Demagogie der Bundesregierung zusammengestellt, mit dem Ziel, gegen die Agenda 2010 zu mobilisieren. Das tut bitter Not, und die Verweigerung der Gefolgschaft gegenüber einer SPD-geführten Regierung ist für Gewerkschaften keine Selbstverständlichkeit. Viele der ver.di-Statistiken werden übrigens auch von attac bei gegen die Regierungspolitik gerichteten Veranstaltungen benutzt, unsere wirtschaftspolitische Abteilung genießt dort hohes Ansehen.

Leider hat die offizielle gewerkschaftliche Argumentation in der Regel starre Grenzen. Es kann noch so deutlich zu Tage treten, dass in der Auseinandersetzung mit den Plänen von Kapital und Regierung Interessengegensätze ausgetragen werden, dass tatsächlich unterschiedliche Klasseninteressen gegeneinander stehen - die Gewerkschaften möchten das nicht anerkennen. Sie nehmen regelmäßig selbst heute noch für sich in Anspruch, mit ihren Forderungen die gesamtgesellschaftliche Vernunft, ja in Wahrheit auch die eigentlichen Interessen der Unternehmer selbst mit zu vertreten.

Die IG Metall hat im Dezember in halbseitigen Zeitungsanzeigen behauptet, ihre Anliegen seien "auch für die Unternehmen" gut. Nun schützen auch die schönsten selbstgebastelten Scheuklappen nicht vor der Erkenntnis, dass die Unternehmer das ganz anders sehen. Bleibt nur der Schluss: Sie wissen eben nicht, was gut für sie ist. Wie gut, dass wir es wissen. Wenn wir sie doch bloß überzeugen könnten, das zu tun, was ihnen - und damit uns - wirklich nutzt... Diese Argumentation ist hilflos, in diesem Volksgemeinschaftssumpf können wir nur stecken bleiben und versinken.

Auch die ver.di-Werbung für eine "aktive Arbeitsmarktpolitik", die auf eine Stärkung der Binnennachfrage zur Ankurbelung der Wirtschaft setzt, besticht durch die zur Schau gestellte Ignoranz gegenüber den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die die kapitalistische Wirtschaft beherrschen. Sie kennt nur eine falsche Politik, der die richtige entgegengesetzt werden muss, um alle Probleme innerhalb der gegebenen Gesellschaftsordnung zu lösen. Im Vorwort der erwähnten Broschüre heißt es: "Die rot-grüne Bundesregierung reagiert (auf die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt) mit Maßnahmen, die wir noch aus der Zeit von Helmut Kohl kennen: Löhne runter, Sozialausgaben kürzen, Unternehmenssteuern senken. Diese Politik hat sich als falsch erwiesen. Trotzdem wird sie munter fortgesetzt, u.a. auch durch die `Agenda 2010´. Ein Richtungswechsel in der Politik ist zwingend erforderlich.

Ursache für die Massenarbeitslosigkeit ist in erster Linie die viel zu schwache Binnennachfrage. Was wir daher brauchen, ist eine Stärkung der Nachfrage.  Lohn- senkungen und Sozialabbau helfen nicht weiter."

Es ist eine Sache, festzustellen: Die Politik der Bundesregierung wird sich fatal auf die Lage am Arbeitsmarkt aus, stürzt viele Menschen in Armut und wirkt in bestimmten Bereichen krisenverschärfend. Sie ist zutiefst unsozial und muss bekämpft werden von allen, die davon negativ betroffen sind; politisch gewollte Maßnahmen können durch eine andere Politik zu Fall gebracht werden - das ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Und ver.di macht durchaus unterstützenswerte Vorschläge für eine Reformpolitik, die diesen Namen - gemessen an den gegebenen Verhältnissen - tatsächlich verdiente.

Es ist eine andere Sache, die arbeitenden und die in die Erwerbslosigkeit gezwungenen Menschen davon abzuhalten, dem Übel tatsächlich an die Wurzel zu gehen. Die Wurzel des Übels liegt im Wirtschaftssystem selbst, das auf der privaten Aneignung des gesellschaftlich geschaffenen Reichtums beruht; diese Aneignung wird durch den privaten Besitz an den Produktionsmitteln möglich. Diese Verhältnisse stehen einer bedürfnisorientierten planmäßigen Verteilung des Reichtums, die auf einer bedürfnisorientiert gesellschaftlich geplanten Produktion beruhen müsste, entgegen. Und so wirkt jede Konjunkturphase, in der die Menschen relativ viel Geld in der Tasche haben und es vor allem ausgeben (die Binnennachfrage also hoch ist), eben nicht krisenverhindernd, sondern geht regelmäßig einer (Überproduktions-)Krise voraus, in der gerade die übergroße Masse an Konsumgütern dazu führt, dass sie nicht mehr konsumiert werden können, wie auch die übergroße Masse an Produktionskapazitäten den Zusammenbruch von Produktion und die Zerstörung von Produktionseinheiten zur Folge hat.
Statt den Unternehmern Tipps zu geben, wie sie doch bitte in unser aller gemeinsamem Interesse zu handeln hätten, sollten wir den Mut aufbringen, die Sache ohne Unternehmer selbst in die Hand zu nehmen. Dann könnten (und müssten) wir auch beweisen, dass wir wissen, wie im gesamtgesellschaftlichen Interesse gewirtschaftet werden muss. Solange wir uns das nicht zutrauen, werden wir Bittsteller und Ausgebeutete bleiben.

Ver.di möchte davon wohl wirklich nichts wissen. Just am 19.12. bekam ich ein neues Heftchen meiner Gewerkschaft in die Hand, über das ich mich zunächst vorbehaltlos gefreut habe: Eine prompte Reaktion auf das Werbeheftchen der Regierung für die Agenda 2010, im gleichen Format, den Titel aufnehmend und verfremdend. Es enthält wiederum hilfreiche Argumente, aber das ganze grundsätzliche Elend der vorherrschenden gewerkschaftlichen Theorie wird schon in den ersten beiden Absätzen deutlich. Sie lauten, unter der Überschrift "Alternativen für unser Land":
"Wir brauchen mehr Geld. Damit unser Lebensstandard nicht weiter abrutscht. Vor allem auch, damit wir mehr kaufen können. Denn nur so haben die Betriebe wieder volle Auftragsbücher und die Chefs stellen wieder ein.

Neue Jobs entstehen nur dann, wenn die Unternehmen erwarten, dass ihre Produkte und Dienstleistungen auch gekauft werden."

Die Aussage des zweiten Absatzes finden die AutorInnen so bedeutend, dass sie ihn fett drucken und zusätzlich mit einem roten Ausrufezeichen am Rand versehen lassen.

Man könnte sagen: Nun sind sie so nah dran und schießen doch daneben... Man könnte schon anmerken, dass die Frage danach, was produziert und gekauft werden soll, gar nicht gestellt wird. Hauptsache kaufen! Hauptsache, die Chefs stellen wieder ein! Vor allem aber sollte man den zweiten Absatz - der nicht falsch ist, aber dennoch die Verhältnisse verschleiert - anders formulieren: Jobs gibt es nicht, wenn bzw. weil es gesellschaftliche Bedürfnisse gibt, die durch Arbeit zu befriedigen wären. Jobs gibt es nur dann, wenn "Unternehmer" aus unserer Arbeit Profit schlagen. Sonst unternehmen sie mit ihrem Geld was anderes, als es in die Schaffung von Arbeitsplätzen zu investieren, d. h. unsere Arbeitskraft zu kaufen. Und wir, die auf deren Verkauf angewiesen sind, weil wir unsere schöpferische Kraft sonst nicht zur Anwendung bringen dürfen (außer in Systemen der Zwangsarbeit), stehen draußen. So ist es und so wird es bleiben unter kapitalistischen Verhältnissen. Zur Umwälzung dieser Verhältnisse gibt es eben wirklich keine Alternative. Weder in unserem noch in irgendeinem anderen Land.

Hoffnung macht, dass dies in den Gewerkschaften heute offen diskutiert werden kann und die antikapitalistische Stimmung anwächst. Wie ich in der letzten LinX mit Verweis auf Leonhard Mahlein gezeigt habe, gibt es durchaus auch sozialdemokratische Traditionen, auf die nutzbringend zurückgegriffen werden kann. Im Kampf  der Gewerkschaften für Arbeitsplätze, für Aus- statt Abbau von Sozialleistungen und Tarifrechten, den wir vordringlich zu organisieren haben, gilt es auch dieser Stimmung organisierten Ausdruck zu verleihen.

(D.L.)