Eine neue Internationale?
Vom 16. bis um 21. Januar findet im indischen Mumbai (Bombay) das vierte
Weltsozialforum statt und eines ist sicher: Die sozialen Bewegungen, die
da nächste aus (fast) aller Welt zusammen kommen, sind nichts für
Leute, die es gern übersichtlich haben. Da gibt es keine Leitung,
keinen Sprecher, kein Programm, keine gemeinsame politische Plattform,
keine einende Ideologie, ja nicht einmal den Anspruch, irgendetwas von
all dem zu schaffen. Das Weltsozialforum, heißt es immer wieder und
ist auch in seiner Charta nachzulesen, soll lediglich einen "Raum" bieten,
in dem man sich trifft, um von einander zu lernen, mit einander zu diskutieren.
Das hört sich nach wenig an, und so fehlt es auch nicht an ungeduldigen
Kritikern, die mehr wollen, die in jeder Ecke "Reformismus" wittern (und
oftmals zu recht auf mehr Transparenz, größere Staatsferne und
weniger Einflussnahme der großen Organisationen drängen). Die
Frage ist allerdings, ob es ein Mehr geben kann, bevor das Wenige erreicht
ist. Offensichtlich braucht es diesen langwierigen und komplizierten Verständigungsprozess
der sozialen Bewegungen, dem diese Foren dienen, da anders eine Einigung
auf gemeinsame Ziele und Aktionen nicht zu erreichen ist.
Ein Rückblick auf die Vorgeschichte der vielschichtigen sogenannten Antiglobalisierungsbewegung, oder globalisierungskritischen Bewegung, wie sie sich in Deutschland lieber nennt, und der Sozialforen, mag das verdeutlichen: Als am 1. Januar 1994 im lankadonischen Urwald im Süden Mexikos ein Aufstand gegen das Nordamerikanische Freihandelsabkommen losbrach, verbreitete sich die Nachricht in Windeseile um die Welt. Noch bevor die großen Medien von den Vorgängen in dieser entlegenen Ecke Mexikos Kenntnis nahmen, hatten Zehntausende in aller Welt, vornehmlich natürlich im computerisierten Norden, über Internetforen von dem Aufstand erfahren und die Aufrufe zur Solidarität gelesen. Die Zapatisten waren die ersten Guerilleros, die die neuen Möglichkeiten des Internets gezielt und rasch nutzten.
Und eben so schnell an seine Grenzen stießen: Die Welt war nicht vorbereitet. All die sozialen Gruppen, Basisgewerkschaften, Frauenorganisationen, Bauernverbände, Studentenkommitees, Umweltinitiativen, Nachbarschaftsräte, die nach Vorstellungen der Aufständischen die Gegenmacht aufbauen sollten ohne die Machtfrage zu stellen, waren vereinzelt, kannten weder einander noch jene schlecht bewaffneten Maskierten, deren Subcomandante Marcos fortan die Weltliteratur mit seinen Kommentaren und Aufrufen bereichern sollte. Alle Versuche, auf internationale Ebene Versammlungen abzuhalten, sogenannte Consultas, blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Es erwies sich, dass eine Kraft alleine nicht in der Lage war, einen Kristallisationspunkt für all die Unzufriedenen zu schaffen, die unter den Folgen von Neoliberalismus und Freihandel zu leiden hatten.
Zudem hatten - im globalen Kontext gesehen - die Zapatistas zur Unzeit losgeschlagen. In den meisten Ländern, namentlich in Europa und Nordostasien leckte die Linke nach dem Zusammenbruch des Ostblocks noch immer ihre Wunden, und in Ost- und Südostasien strebten die dortigen Schwellenländer dem Höhepunkt eines Booms zu, der alle Argumente von der Entwicklungsunfähigkeit und Ausweglosigkeit des Kapitalismus Lügen zu strafen schien. Und so war bestenfalls einigen Spezialisten klar, was die Kommerzialisierung kommunalen Landes und die Aufhebung der Importbarrieren für Mais in Mexiko mit der Lage der kleinen Leute in Paris, Hamburg, Moskau oder Seoul zu schaffen hatte.
Ganz anders stellte sich die internationale Lage Ende der 1990er dar: 1997 hatte die sogenannte Asienkrise für einen Augenblick gedroht, die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund einer tiefen Rezension zu ziehen, und in den betroffenen Ländern die Illusionen eines immerwährenden Aufschwungs zerstört. Zugleich hatte die Krise auch in Europa den Blick darauf gelenkt, dass, während allenthalben die öffentlichen Haushalte zusammengestrichen und den Arbeitslosen die Bezüge gekürzt werden, die internationalen Finanzmärkte mit Liquidität überquellen, dass die mit Steuergeschenken fett gemachten Konzerne und oberen Mittelschichten über zu viel Kapital verfügen, als dass sie es in gewinnbringende Produktion anlegen könnten.
Dem Ansehen des Kapitalismus, zumindest seiner aktuellen neoliberalen Ausprägung, tat das nicht besonders gut. Hatte er nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in den industrialisierten Staaten und asiatischen Schwellenländern für einige Jahre als das beste aller möglichen Wirtschaftssysteme gegolten, geriet er nun zunehmend in eine Legitimitätskrise. dass die Dinge so wie sie liegen, äußerst schlecht stehen, ist heute nicht nur in Lateinamerika oder Afrika, wo man vom Boom der 1990er ausgeschlossen blieb, sondern auch in den Metropolen des Nordens gesellschaftliche Grundstimmung. Weltweit sind vermutlich derzeit die einzigen größeren sozialen Gruppen, die noch im kollektiven Optimismus schwelgen, die aufstrebenden Mittelschichten Indiens und Chinas.
Zur Legitimitätskrise gesellte sich in wichtigen Ländern eine
Zuspitzung der gesellschaftlichen Kämpfe. Als Schrittmacher für
die internationale Entwicklung in Europa erwies sich dabei vor allem Frankreich.
Im November und Dezember 1995 erschütterte ein wochenlanger Streik
des öffentlichen Dienstes das ganze Land. Die konservative Regierung
wollte die Mindestbeitragszeit der Rentenkassen verlängern und vor
allem die Eisenbahner wehrten sich nicht nur hartnäckig, sondern nahmen
den Gewerkschaftsführungen auch das Heft aus der Hand, in dem sie
den Ausstand mittels täglicher Betriebsversammlungen eigenständig
organisierten. Diese Erfahrungen inspirierten in den folgenden Monaten
und Jahren so unterschiedliche Gruppen wie die Sans Papiers, das heißt
die in die Illegalität getriebenen Einwanderer, die Kleinbauernorganisation
Confederation Paysanne oder die Arbeitslosenorganisationen. Letztere nutzten
den von den Streiks eingeleiteten Wandel des gesellschaftlichen Klimas
um mit Besetzung von Arbeitsämtern und einem nationalen Sternmarsch
massiv auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
Aus ihren Reihen entstand auch im Herbst 1996 der Vorschlag die Erfahrungen
der französischen Märsche auf die EU zu übertragen. Die
Idee eines Europäischen Marsches gegen Erwerbslosigkeit und soziale
Ausgrenzung war geboren und wurde vor allem in den romanischen Ländern
begierig aufgegriffen, allerdings nicht nur dort: Aus allen Ecken der EU
und aus Bosnien machten sich im April und Mai Gruppen von Erwerbslosen
und anderen Aktivisten zu einem Sternmarsch nach Amsterdam auf den Weg,
wo im Juni 1997 der turnusmäßige Gipfel der EU stattfand. Als
Höhepunkt und Abschluss des Marsches demonstrierten 40.000 Gewerkschafter,
Arbeitslose, Kriegsgegner, Autonome, Frauenrechtlerinnen und Studierende
gegen das Treffen der EU-Chefs. Heute hat man sich an eine solche Größenordnung
bei derartigen Gipfeln gewöhnt, aber für damalige Verhältnisse
war es ein Riesenerfolg, nicht zuletzt auch wegen der internationalen Zusammensetzung:
Die Mehrheit der Teilnehmer war aus dem Ausland angereist, und zwar auch
noch aus den entlegensten Winkeln der Union. Insofern war Amsterdam wahrscheinlich
die erste jener großen internationalistischen Manifestationen, die
seither den Mächtigen dieser Welt viele Rendezvous vergällen.
In Amsterdam hatte es auch einen Gegengipfel gegeben. Das war schon
damals kein ganz neue Idee mehr, aber wohl selten zuvor hatte es eine derartig
international zusammengesetzte Konferenz von Basisaktivisten, linken Gewerkschaftern,
Arbeitslosen und ähnlichem gegeben, die vier Tage lang miteinander
ihre Erfahrungen austauschen und anfangen konnten, gemeinsame Forderungen
zu entwickeln. Einig war man sich vor allem in der Ablehnung der unsozialen
EU-Politik, die kurz zu vor in den Maastricht-Verträgen, in der die
Euro-Staaten auf strenge Haushaltsdisziplin verpflichtet werden, fixiert
worden war. Auch die beginnende Militarisierung der, ihre repressive Flüchtlingspolitik
und Pläne für eine EU-Polizei wurden seinerzeit schon kritisiert.
Amsterdam sollte kein Einzelfall bleiben. Die Proteste gegen die Gipfel der EU aber auch der G7 und anderer internationalen Institutionen häuften sich in den Folgejahren und wurden zumeist zu internationalen Kristallisationspunkten der sozialen Bewegungen. Den globalen Durchbruch brachten im Spätherbst 1999 die Proteste gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO im US-amerikanischen Seattle. Ein gut organisiertes Netzwerk junger Aktivisten, in Europa würde man sie vermutlich als libertär bezeichnen, hatte Straßenblockaden vorbereitet und im ganzen Land Mobilisierungsveranstaltungen organisiert. Verbraucherorganisationen und Gewerkschaften hatten ebenfalls zu Protesten aufgerufen, und die Family Farmers Association, der US-Kleinbauernverband, eine Organisation die sowohl im Kampf für Bürgerrechte als auch gegen das Agrobusiness zuhause ist, hatte im Vorfeld den Sprecher der französischen Confederation Paysanne José Bové im Lande herum gereicht. Der hatte kurz zu vor in Frankreich höchst öffentlichkeitswirksam eine McDonalds-Filiale eingerissen, um gegen den hochsubventionierten "schlechten Fraß" der Agroindustrie zu protestieren, der die Kleinbauern ruiniert.
In Seattle sorgten schließlich 40.000 Blockierer und Demonstranten, nicht wenige davon aus dem nahe gelegenen Kanada und zahlreiche kleine Delegationen aus aller Welt, sowie ein maßlos überzogener Polizeieinsatz dafür, dass der Protest zum globalen Medienereignis wurde und der Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung reichlich Zulauf verschaffte. (In Deutschland sollte der Durchbruch allerdings noch bis zum Sommer 2001 auf sich warten lassen, als nach einer Demonstration mit 200.000 Teilnehmern gegen einen G-7-Gipfel in Genua und einem extrem brutalen Polizeieinsatz, der ein Menschenleben forderte, überall im Lande Attac-Gruppen wie Pilze aus den Boden schossen.)
Der Erfolg in Seattle - immerhin konnte man sich zumindest einen kleinen Anteil am Scheitern der seinerzeitigen WTO-Verhandlungen zu schreiben - gab schließlich den letzten Anstoß zu der Idee, nicht mehr nur den Mächtigen hinterher zu reisen und sich auf Demonstrationen und Gegen-Gipfeln zu treffen, sondern ein eigenes Forum zu schaffen. In den folgenden Monaten nahm sie konkrete Gestalt an, und bei der starken brasilianischen Bewegung der Landlosen, der MST, und ihren Bündnispartnern in Arbeiterpartei (PT) und Gewerkschaftsbund (CUT) fand man potente Gastgeber. So fand schließlich im Januar 2001 im PT-regierten Porto Alegre das erste Weltsozialforum statt.
Schon 2001 kamen 10.000 aus 122 Ländern und in den folgenden Jahren wuchs sich die Veranstaltungen zu einem wahren Mega-Ereignis aus. Zuletzt waren es im Janaur 2003 etwas über 100.000 Delegierte, Beobachter und Journalisten, die sich in Porto Alegre gegenseitig auf die Füße traten. Klar, dass da auch mancher Politiker sich ins Rampenlicht drängte und in Großveranstaltung sich alles um die Prominenz und Stars der Bewegungen drehte. 2003 war der Promi-Auflauf besonders groß: 15.000 wollten den US-amerikanischen Linguisten und linken Publizisten Noam Chomsky sehen; zu dem Auftritt des frischgekürten und von der Arbeiterpartei gestellten brasilianischen Präsidenten drängten gar 75.000 begeisterter Fans. Auch Venezuelas Präsident Hugo Chavez ließ sich zu einem "Überraschungsbesuch" blicken und verkündete, dass seine Regierung Teil des Sozialforumprozesses sei. Einige Beobachter, wie die kanadische Pubilizistin Naomi Klein, sprachen daher schon davon, das WSF sei von Parteien und großen Männer gekidnapped worden und die Idee der partizipativen, dezentralisierten Demokratie ernsthaft in Gefahr.
Andere sahen es eher als einen widersprüchlichen Prozess: Das Forum sei außer Kontrolle geraten, schrieb Peter Waterman, ein altgedienter britischer Aktivist und Publizist, sowohl im negativen, wie im positiven Sinne. Im negativen, da es zu groß, zu undurchschaubar, zu sehr der alten Politik der Parteien und großen internationalen Nichtregierungsorganisationen dienlich geworden sei. Im positiven Sinne, da der Geist aus der Flasche sei, da sich an seinem Rande unzählige kleine, selbstorganisierte Prozesse abspielen würden, die vom Zentrum nicht mehr zu kontrollieren seien.
In der Tat bestehen die Welt- wie auch die europäischen Sozialforen
nicht nur aus den Großereignissen und -Veranstaltungen, sondern vor
allem auch aus unzähligen Seminaren, Diskussionsrunden und kleineren
Veranstaltungen. Dort festigen sich alte Netzwerke, neue werden gebildet
und wichtige internationale Initiativen entstehen. So ist zum Beispiel
die Internationale Solidaritätsbewegung, in deren Rahmen inzwischen
etliche hundert Beobachter in die von Israel besetzten palästinensischen
Gebiete gereist sind, am Rande eines Weltsozialforums entstanden. Auch
der internationale Aktionstag, der am 15. Februar 2003 weltweit mindestens
12 Millionen Menschen gegen den drohenden Krieg gegen Irak auf die Straße
brachte, ist auf einem Sozialforum, und zwar dem europäischen im November
2002 in Florenz, beschlossen worden. Nicht nur Noam Chomsky hatte dieses
Ereignis als die Geburtsstunde einer neuen Internationalen bezeichnet.
Auch in Mumbai wird das Thema Krieg in der globalisierten Welt eine
wichtige Rolle spielen. Dafür hat nicht zuletzt der "Jakarta Friedenskonsens"
gesorgt, in dem sich im Mai 2003 Friedensorganisationen aus aller Welt
als Reaktion auf den Irak-Krieg zusammengeschlossen haben. Die Initiative
war seinerzeit von asiatischen Aktivisten ausgegangen, die bereits maßgeblich
am Zustandekommen des erstens Weltsozialforums beteiligt waren. Das Netzwerk
will nicht nur zahlreiche Veranstaltungen zum Thema organisieren und neue
Initiativen entwickeln, sondern den Protest gegen die Kriege des reichen
Nordens gegen den Rest der Welt und die anhaltende Besetzung Iraks auf
die große Demonstration zum Ausklang des Forums tragen.
(wop)