Redebeitrag am 6. März:

Auf nach Berlin!

Nie war es vernünftiger, der Hauptstadt einen Besuch abzustatten, als am 3. April 2004." So heißt es in einem Flugblatt des Kieler Bündnisses gegen Sozialabbau und Lohnraub. Mit Hinweis auf zahlreiche, vielen nur allzu gut bekannte Beispiele wird darin verdeutlicht, warum wir, die wir in einer Stadt mit offiziell 13,7 Prozent Arbeitslosen leben, beim europaweiten Aktionstag gegen Sozialkahlschlag dabei sein sollten. Jedenfalls, soweit wir nicht zu den ProfiteurInnen der großangelegten Umverteilung von unten nach oben gehören, die zur Zeit stattfindet. - Zu denen spreche ich hier nicht. Aber über sie will ich ein paar Worte verlieren. Ebenso über die aktuellen politischen Skandale im Zusammenhang mit der Arbeitsvermittlung. Dabei gilt es festzuhalten: Der eigentliche Skandal ist die Tatsache, dass in Deutschland an die sieben Millionen Menschen erwerbslos sind, und den Regierenden außer immer neuen Statistikbereinigungen und asozialen Schikanen der Betroffenen nichts einfällt, um dem Abhilfe zu schaffen! Und eins soll auch gleich klargestellt werden: Arbeit um jeden Preis ist nicht unsere Losung!

Für die Herren und Damen in den Konzern- und Bankenzentralen sind die bisher von der Bundesregierung für sie erbrachten Dienstleistungen erklärtermaßen nur der Anfang einer Entwicklung, für die sie keine Grenzen gesetzt sehen wollen. Für manche von ihnen stehen etwa die Sozialhilfeleistungen in Gänze zur Disposition, weil der Sozialhilfesatz wie eine Lohnuntergrenze wirkt, und das halten sie für unzeitgemäß. Und sie fühlen sich stark, sind doch viele Kolleginnen und Kollegen angesichts des drohenden Arbeitsplatzverlusts und des angesichts der neuen Gesetzeslage - Hartz IV! - bei Arbeitslosigkeit voraussehbaren Sturzes in die Armut verunsichert und zu Zugeständnissen bereit.

Mit fatalen Folgen: Trotz anhaltender Massenarbeitslosigkeit und sinkender Binnennachfrage werden aktuelle Tarifabschlüsse zu Lohndrückerei und Verlängerung der Arbeitszeiten in großem Umfang genutzt, vom kleinen Krauter - sofern der überhaupt tarifgebunden ist - bis hin zum "global player" wie Daimler-Chrysler. Gerade die großen Konzerne nutzen jede Gelegenheit, ihre "Kriegskassen" zu füllen, indem sie ihre Profiterwartung durch Lohndrückerei steigern, weil sie im internationalen Konkurrenzkampf stehen und sich auf dessen weitere Verschärfung einstellen. Sollte es irgendwann wieder zu einem Aufschwung kommen, wollen sie diesen mit dem "Standortvorteil" einer disziplinierten und geduckten Arbeiterschaft angehen. Die aktuellen Angriffe auf die Gewerkschaften dienen eben diesem Ziel. Als Klammer, Erklärung, Begründung, manchmal auch Sündenbock für solche Politik dient heute der Begriff "Globalisierung"; es ist allerdings, was es vor der neuesten technischen Revolution auch schon war: imperialistischer Kapitalismus. Keine geheimnisumwitterte neue Epoche mit unbekannten Gesetzmäßigkeiten. - Eine solche Betriebspolitik, die heute auch noch ganz unverhohlen die Gesellschaftspolitik, die regierenden PolitikerInnen in Dienst nimmt für ihre Interessen, erscheint unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vielleicht unsinnig, folgt aber der einzigen Logik, die der Kapitalismus kennt. Es liegt an uns, ihrem Wirken ein Ende zu setzen.

Zunächst aber führen wir einen Abwehrkampf gegen den brutalsten Angriff auf unsere Arbeits- und Lebenssituation seit Bestehen der Bundesrepublik. Die landläufig bekanntesten Stichworte dafür sind "Agenda 2010" und Hartz".

Hartz I bis IV, das ist die Geschichte unsäglicher politischer Maßnahmen von der Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit bis zur vollständigen Streichung einer bisherigen Lohnersatzleistung - Hartz I steht u. a. für die Personalserviceagenturen (PSA), Hartz IV für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Was die PSA wert sind, hat uns die Maatwerk-Pleite gerade gezeigt; fast 10000 Menschen sind nun sozusagen doppelt arbeitslos, für die Bundesagentur sind damit an die Firma gezahlte Grundbeiträge von schätzungsweise 10 Millionen Euro verloren. Damit das Bundesamt jetzt Bundesagentur heißen kann - und die Erwerbslosen Kunden, von denen sich allerdings wohl niemand wie ein König fühlt - wurden 27 Beratungsfirmen engagiert und werden in 2003 und 2004 70 Millionen Euro verpulvert. Die Ausgaben für Leistungen wie Weiterbildungsmaßnahmen aber sollen weiter heruntergefahren werden. Dafür wird der Druck auf die Erwerbslosen erhöht. Jedem und jeder von ihnen wird erklärt: "Mit der Verpflichtung, sich aktiv um eine Beschäftigung zu bemühen, hat der Gesetzgeber betont, dass in erster Linie Sie gefordert sind, ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden". Arbeitsvermittler sollen bei der Arbeitssuche nur "beraten und unterstützen". Und zum Suchen wird über aufwendige Werbemaßnahmen die Internet-Jobbörse der Agentur angepriesen, die nicht nur nicht viel taugt, sondern gerade dieser Tage als weiteres Millionengrab bekannt geworden ist. Kann man seine "Eigenbemühungen" seinem "Arbeitsvermittler" nicht überzeugend darlegen, droht, auch rückwirkend, der Entzug des Arbeitslosengeldes. Da zur Zeit Arbeit in vielen Bereichen schlicht nicht zu vermitteln ist, beschränkt sich die Tätigkeit in den sogenannten "Jobzentren" im wesentlichen auf die Kontrolle der Erwerbslosen. - Ich spreche hier aus eigener Erfahrung. Denn der Betrieb, in dem ich die letzten 13 Jahre beschäftigt war, ist insolvenzbedingt seit dem 1.11.03 geschlossen. Ich bin Drucker von Beruf und 51 Jahre alt. Die Druckindustrie ist eine der Branchen, in denen am deutlichsten zu spüren ist, wie die mit dem technischen Fortschritt verbundenen Möglichkeiten zur Arbeitsersparnis und Arbeitserleichterung für alle unter privatkapitalistischen Bedingungen umschlagen in Mittel zur Steigerung der Arbeitshetze, Ausweitung der Arbeitszeit und Entlassung arbeitsfähiger und qualifizierter Menschen in langdauernde Erwerbslosigkeit. Die Druckunternehmer wollen mit der angestrebten Veränderung des Manteltarifvertrages im Jahr 2005 zurück zur 40-Stunden-Woche. Und Hartz IV führt dazu, dass Langzeitarbeitslose, auch wenn sie etwa 35 Jahre lang Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, nach 12 Monaten auf Sozialhilfe gesetzt werden. Für sie ist dann jede Arbeit zumutbar, was dem allgemeinen Lohndumping neue Beschleunigung verleiht. -Mit gutem Grund erklärt die Gewerkschaft ver.di: "Jede Arbeit annehmen zu müssen, ist unzumutbar."
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Kommunen durch Hartz IV nicht nur nicht entlastet werde, sondern dass auf sie zusätzliche Belastungen in Millionenhöhe zukommen.

Parallel dazu geht der Sozialabbau in allen Bereichen voran. Für jede/n spürbar etwa bei der Gesundheitsreform. "Bilanz der Gesundheitsreform: Sozial Schwache meiden den Arzt", so die Überschrift eines Artikels in der FR vom 2.3. Die Folgen sind absehbar. Wer arm ist, muss früher sterben - das ist die bittere Wahrheit in einem der reichsten Länder der Erde. Der Angriff auf die Renten, verbunden mit der Erhöhung der Lebensarbeitszeit - der in Wahrheit vor allem der Kostenreduzierung, nicht der Arbeitsbeschaffung dient - gehört in dieselbe Kategorie unmenschlicher Politik.

Meine Gewerkschaft ver.di hat Alternativen zur gegenwärtigen Politik formuliert. Ich möchte einen Absatz aus der Broschüre "Es gibt Alternativen! - Das wollen wir" zitieren. Unter der Überschrift "Arbeitsplätze mit Mindesteinkommen" heißt es: "Wir wollen reguläre Arbeitsplätze für alle. Die Ausweitung von Minijobs und die verstärkte Anrechnung von Partnereinkommen" - wenn es nämlich um die Prüfung der Bezugsberechtigung vom neuen Arbeitslosengeld II geht - "drängt Frauen wieder zurück in die Rolle der Zuverdienerin. Das ist ein altmodisches Rollenbild - unbrauchbar für eine zukunftsorientierte Gesellschaft." Zur gefälschten Erwerbslosenstatistik gehört übrigens auch, dass viele Frauen zwar gerne Erwerbsarbeit annähmen würden, sich aber nicht "arbeitslos" melden, weil sie weder Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung haben noch Jobaussichten. Recht hat auch die Frankfurter Rundschau mit ihrer Feststellung: "Da die BA immer weniger für Fort- und Weiterbildung sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgibt und mehr für Existentgründer, werden sich die Gewichte weiter zu Ungunsten der Frauen verschieben." Zugleich belegen aktuelle internationale Studien, dass die im Zuge der "Globalisierung" geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen für internationale Konzernpolitik den Schutz der Rechte von abhängig Beschäftigten weiter verschlechtert, was wiederum besonders zu Lasten von Frauenrechten (etwa in der Textil- und Lebensmittelindustrie) geht.

Am kommenden Montag, dem 8. März, ist internationaler Frauentag. Auch er steht im Zeichen des Widerstandes gegen die Agenda 2010 in Deutschland und imperialistische Politik weltweit. Liebe Kollegen, eure Freundinnen und Ehefrauen, Partnerinnen und Kolleginnen erwarten nicht nur das obligatorische Blümchen, sondern das erneuerte Versprechen des solidarischen Zusammenstehens, die Unterstützung und Partnerschaft im Kampf für eine lebenswerte Zukunft, am 8. März und allen anderen Tagen.

Eines sei allen, die uns heute noch zu Geduld und Mäßigung raten, in aller Deutlichkeit gesagt: Wir fahren nicht deshalb nach Berlin, um uns - wenn es denn die erwartete machtvolle Demonstration wird - hinterher versprechen zu lassen, das man uns dann eben in diesem oder jenem Punkt vielleicht doch nicht ganz so weh tun möchte wie ursprünglich geplant. Falls RegierungspolitikerInnen uns solcherart ihr Verständnis bekunden sollten, werden sie wohl insgeheim schon davon ausgehen, dass spätestens der Bundesrat solche Konzessionen schon wieder kassieren wird; so, wie das beim letzten Mal mit den Versprechen geschehen ist, die man der verschnittenen innerparteilichen Opposition der SPD beim Thema "Zumutbarkeit" gemacht hatte. Denn trotz der vielen Wahlkämpfe in diesem Jahr werden wir von einer ganz großen Koalition der Sozialkahlschläger und Lohnräuber regiert. Wenn die sich untereinander streiten, geht es nur noch um Pöstchen und Pfründe. In jedem Fall auf unsere Kosten.

Unser Ziel lautet: Weg mit der Agenda 2010! Die Reichen sollen die Krise bezahlen! Schluss mit der Umverteilung von unten nach oben - für eine Umverteilung von oben nach unten!

Wir wollen uns nach der Demonstration am 3. April auch von niemandem erzählen lassen, jetzt seio erst mal wierder Ruhe und Abwarten angesagt. Nein, wir wollen die Demonstrationen von Berlin, Köln und Stuttgart als eine Heerschau verstanden wissen, die nun endlich den Auftakt gibt zu Aktionen des Widerstandes, der sich auf Wochenenddemonstrationen nicht mehr beschränkt. Ich wünsche mir von Herzen, dass es vielen Kolleginnen und Kollegen gelingt, diesem verbreiteten Wunsch bereits während des regionalen und betrieblichen Aktionstags am Freitag, 2. April, Ausdruck zu verleihen.

Wir zeigen mit diesem europaweiten Aktionstag auch, dass es uns nicht um die Optimierung des Standorts Deutschland geht. Wir wollen mit unserer Forderung nach gesellschaftlichen Reformen, die diesen Namen verdienen, nicht eine "auf Innovation gepolte Wirtschaft" pushen, damit diese "eine Chance hat, ihren Spitzenplatz als Exportweltmeister zu sichern", und unsere Kritik an der Regierung besteht nicht darin, dass sie angeblich diesem von ihr erkannten Ziel keine "Taten folgen" lässt. Diese Vorgaben machte uns der DGB-Vorsitzende Sommer in seiner Neujahrspressekonferenz am 12. Januar 2004. Nein, Kollege Sommer, hier werden wir dir nicht folgen. Und wir werden in Berlin auch am Gendarmenmarkt zum Ausdruck bringen, dass es uns um die internationale Solidarität der arbeitenden und in die Erwerbslosigkeit gezwungenen Menschen gegen die Politik von Banken, Konzernen und Regierungen gleich welcher Nationalität und Standorthaftung geht, und wir wollen unsere Gewerkschaftsorganisationen benutzen, dies und nichts anderes zu organisieren.

(D.L.)