Gesundheitsreform:

Operation gelungen - Patient tot?

Auf einer Veranstaltung des Kieler Forum der IG Metall am 24.02.2004 hielt Eva Dockerill, ver.di, das im Nachfolgenden dokumentierte Referat. Hauptreferent war Ralf Hermes vom Vorstand der IKK-Schleswig-Holstein.

These 1

“Gesundheit ist keine Ware”, diese Parole hört man z.Z. immer wieder bei den zahlreichen Protesten gegen die Gesundheitsreform der rotgrünen Regierung. Gesundheit ist keine Ware! - das ist falsch. Gesundheit ist eine Ware.

Ärztliche, pflegerische und sonstige heilende Tätigkeiten werden als Dienstleistungen gekauft und verkauft. Der Unterschied der Ware Gesundheit zu den uns sonst als Waren geläufigen Handelsartikeln ist, dass bei Dienstleistungen – so z.B. auch im Bereich der Bildung oder des Transports und anderen Diensten – die Phase der Produktion mit der der Konsumierung der Ware zusammenfällt. Ihr Nutzeffekt (oder ihr Gebrauchswert) ist nur konsumierbar während des Produktionsprozesses. Das verschleiert den Warencharakter des Produkts Gesundheit, das u.a. jeder niedergelassene Arzt in seinem Kleinunternehmen Praxis verkauft.
Nebenbei gesagt ist der Warencharakter der Gesundheit ja auch weltweit anerkannt:

1995 wurde von der WTO  (Welthandelsorganisation) das GATS (General Agreement on Trade in Services) – also die Regulierung des weltweiten Handels mit Dienstleistungen beschlossen. Seither unterliegen alle Vorleistungen der öffentlichen Daseinsfürsorge wie Gesundheit, Bildung, Strom- und Wasserversorgung in erster Linie den Kriterien sogenannter Wirtschaftlichkeit.

Die damit einhergehende Liberalisierung, d.h. Befreiung der Wirtschaftsbosse von jeder humanen Rücksichtnahme, traf zunächst mit aller Härte die Unter- und Mittelschichten der ärmeren und ärmsten Länder, die sich endlich im letzten Herbst in Cancun weigerten, die nächsten Liberalisierungsschritte nach dem Diktat des Kapitals der reichen Nationen weiter mit zu vollziehen. Inzwischen entfaltet eben dieses Diktat seine ganze menschenfeindliche Wirkung auch innerhalb der weltweit vorherrschenden Industrienationen und bei uns wurde ihm mit der Agenda 2010 nun Tür und Tor geöffnet.

Die Parole “Gesundheit ist keine Ware” ist also genau betrachtet eher der hilflose Stoßseufzer einer ratlosen Bewegung: “Gesundheit darf doch eigentlich keine Ware sein”. Und wir müssen uns schon einen Kopf machen, wie wir zu Verhältnissen kommen, in denen Gesundheit keine Ware mehr ist.

These 2

Das Problem ist nicht neu. Und die Maßnahmen, die jetzt von der Agenda 2010 in Gang gesetzt werden, sind alle samt auch überhaupt nicht neu. Beispielsweise die berühmt-berüchtigte “Selbstkostenbeteiligung”:

1923/24 als die Inflationsjahre nach dem ersten Weltkrieg u.a. zum Bankrott der Krankenkassen geführt hatten, sah eine Notverordnung zu ihrer Sanierung eine Kostendämpfung im Gesundheitswesen vor. Verordnet wurde u.a. eine höhere Selbstbeteiligung der Kranken.

1928/29 im Jahr der Weltwirtschaftskrise wieder: Höhere Beteiligung der Versicherten an Arztkosten, Medikamenten und anderen Heilmitteln. Außerdem Krankengeldzahlung nur bei objektiv nachweisbarer Arbeitsunfähigkeit, die durch einen Vertrauensarzt bestätigt werden musste und Regresspflicht für den Kassenarzt, der “fahrlässig” Arbeitsunfähigkeit bescheinigen würde. Dazu Herabsetzung des Krankengeldes von 75 auf nur noch 50%.

1958 tischte ein Gesetzentwurf des Arbeitsministers Blank wieder die Selbstbeteiligung der Versicherten auf.

Im Unterschied zu heute scheiterte aber der Blanksche Gesetzentwurf an einer kampfbereiten Arbeiterklasse, deren großer Streik 1956 in Schleswig-Holstein gerade erst die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter durchgesetzt hatte.

Solange es ein organisiertes Gesundheitswesen bei uns gibt, also spätestens seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der 80er Jahre des 19.Jahrhunderts, stand und steht es unter dem Zeichen der Klassenauseinandersetzung.

Bekanntlich war die organisierte deutsche Arbeiterbewegung in jenen Jahren harten Verfolgungen durch das Sozialistengesetz von 1878 ausgesetzt. Das – so wörtlich – “Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie”.

Übrigens, mal abgesehen davon, dass der aufstrebende deutsche Imperialismus an der Sozialgesetzgebung interessiert war, weil er dringend gesündere Arbeiter und Soldaten brauchte als die ruinöse ursprüngliche Kapitalakkumulation ihm hinterlassen hatte, -

Abgesehen davon, war beiden Seiten des Klassenkonflikts die Funktion der Sozialgesetzgebung als Instrument der Klassenversöhnung völlig klar: 1883 erklärte der deutsche Kaiser, dass “die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich auf dem Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter zu suchen sei.”

Und August Bebel hatte schon 1881 im Reichsstag in der Debatte zur gesetzlichen Krankenversicherung ausgeführt: “Da heißt es gleich am Eingang, dass der gegenwärtig uns vorliegende Gesetzentwurf seine Existenz dem Umstand verdanke, dass die bei Beratung des Gesetzes vom 21,Oktober 1878, betreffend die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, abgegebenen Versprechen, nämlich auch für positive Maßregeln zum Wohl der Arbeiter zu sorgen und damit die Sozialdemokratie zu bekämpfen seinen Ursprung verdanke. Meine Herren das freut uns ganz außerordentlich, denn damit ist ja bewiesen, dass wir eigentlich die Urheber dieses Gesetzentwurfes sind, und das wird bei den deutschen Arbeitern einen gar nicht ungünstigen Eindruck machen; dessen versichere ich Sie.”

Dieser Doppelcharakter der Krankenversicherung, einerseits wirkliche Errungenschaft der Arbeiterbewegung zu sein, andererseits Instrument, das zu ihrer Unterdrückung dient und sogar zu ihrer freiwilligen Unterwerfung führen kann, blieb bis auf den heutigen Tag erhalten.Politisch zementiert ist diese Zwieschlächtigkeit dadurch, dass die Arbeitgeberseite in den Kassen paritätisch mitbestimmen kann.

Solange wir das dulden, dass die allein aus den Beiträgen der Lohn- und Gehaltsempfänger finanzierten Kassen praktisch von der Pharmaindustrie und allen anderen kapitalisierten Gesundheitsbereichen gelenkt werden, kann sich an der Misere kaum was ändern. Was dabei für uns aktuell herausgekommen ist, hat der Hauptreferent dieser Veranstaltung gerade sehr anschaulich geschildert: Ein wahres Horrorszenario.

These 3

Ein zentrales aktuelles Anliegen der Unternehmerseite ist die Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten. Damit sind jene Lohnbestandteile gemeint, die der Arbeitgeber zwar selbst unter Lohnkosten verbucht, aber vorgibt aus eigener Tasche zu bezahlen. Also der sogenannte Arbeitgeberanteil an den  Kranken- kassenbeiträgen der gesetzlichen Krankenkassen.

Im Bündnis für Arbeit 1998 traten Arbeitgeberverbände, Bundesregierung - und der DGB gemeinsam für Senkung der Lohnnebenkosten ein. Mir ist nicht bekannt, dass der DGB-Chef Sommer inzwischen diesbezüglich zugelernt hat – dafür müssen wir als Gewerkschafter aber sorgen.

Wer von Lohnnebenkosten spricht, muss über den Lohn Bescheid wissen. Der muss wissen, dass es sich beim Lohn nicht, wie uns weis gemacht wird, um Entgelt für bestimmte Leistungen handelt, sondern um den über den Arbeitsmarkt ausgehandelten Preis der Ware Arbeitskraft, und dass dieser Preis die durchschnittlichen Lebensunterhaltungskosten der Arbeiterinnen und Arbeiter abdecken muss. Wer über Lohnnebenkosten spricht, muss daher auch wissen, dass hier und heute selbstverständlich Gesundheitsvorsorge, wie alle andere Daseinsvorsorge das Lohnniveau mitbestimmt. Das jedenfalls sollte man vom DGB-Vorsitzenden erwarten dürfen. Die Verkäufer der Ware Arbeitskraft müssen ihre Rechnung aufmachen, wenn sie sie verkaufen. Schließlich macht das Kapital ja auch seine Rechnung auf.
Erfreulicherweise wird unter jenen Gewerkschaftern, die mit der Berlindemo am 1.November wieder in Bewegung geraten sind, über diesen Aspekt des Sozialkahlschlags der rotgrünen Regierung bereits laut nachgedacht: Die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn beginnt sich öffentlich zu artikulieren.
Auf dem DGB-Bundeskongress im Mai 2002 wurde die Debatte um einen gesetzlichen Mindestlohn bzw. Mindesteinkommen noch innerhalb der Gewerkschaften abgeblockt. Die IG-Bau, ver.di und NGG hatten beantragt, eine Kampagne durchzuführen für ein existenzsicherndes Mindesteinkommen von 1.500 € brutto, jedoch kam keine Einigkeit zustande. Weder über die Summe, die manchen zu hoch erschien, noch über das Wort Mindesteinkommen, das einigen zu sehr nach “gesetzlichen Mindestlohn” roch. Die meisten Gewerkschaftsführungen – gerade auch die der IGM – sahen darin einen Angriff auf die Tarifautonomie, d.h. auf die Rolle der Gewerkschaften, gemeinsam mit den Arbeitgebern Tarife festzusetzen. Eine Rolle, die z.Z. von Arbeitgeberseite immer mehr missachtet wird.
In der neu entstehenden Bewegung gegen Sozial- und Lohnabbau wurde inzwischen als die am weitesten gehende Forderung formuliert: Gesetzliche Mindestlöhne deutlich oberhalb der Armutsgrenze – statt staatlich subventionierten Armutslöhnen.

Das bedeutet so und so Herausforderung der Staatsmacht gegen das Kapital. Das Kapital soll per Gesetz gehindert werden, Armutslöhne zu zahlen. Darüber hinaus würde es als Verursacher allen sozialen Elends kenntlich werden, wenn der Staat nicht mehr mit Kombilohn, “negativer Einkommensteuer”,  “Bürgergeld” , kurz mit Steuergeldern die Schäden verschleiert, die die kapitalistische Produktionsweise anrichtet.

Nachbemerkung:

Was die Fragen der Einladung zu dieser Veranstaltung betrifft, habe ich sie sehr mangelhaft beantwortet. Vielleicht noch am eindeutigsten diese:

Wessen Interessen verfolgt die Gesundheitsreform?

Sie dient allein dem Interesse des Kapitals, das übrigens nicht nur das eigentliche Problem ist, sondern vor allem auch selbst große Probleme hat, durch dahinschwindende Profitraten, von denen sein Leben abhängt. – dazu konnte ich in der Kürze aber nichts sagen.

Eine wichtige Interessengruppe bezüglich der Gesundheitsreform habe ich aus Zeitmangel völlig beiseite gelassen, obwohl sie sehr engagiert und einflussreich ist: Das sind die Ärzte, genauer ihre Standesorganisationen. Anders als in den Gewerkschaften herrscht bei ihnen Zwangsmitgliedschaft, so dass sie ihre Interessen straff organisiert und daher erfolgreich vertreten können und konnten - meist gegen das Interesse der Arbeiterklasse. So bereits seit 1872, weiter 1883, 1909, 1913/14, 1923, 1931 1934/35, 1949, 1955. Manches Mal verhalf ihnen die Androhung von Ärztestreiks und auch schon mal deren Durchführung zum Erfolg.
Was die in der Einladung angesprochenen Beschäftigten- und Bürgerversicherungen betrifft, so scheinen sie mir ähnlich fragwürdig, wie beispielsweise Kombilohn und andere staatliche Lohnsubventionen – das werden wir in den Gewerkschaften noch genauer diskutieren müssen.
Schließlich: Ist eine einheitliche Krankenversicherung sinnvoll – denkbar – machbar?

Dass sie sinnvoller ist als die Konkurrenz der Kassen untereinander, versteht sich wohl von selbst – dachte ich. Aber wie das Hauptreferat des Abends zeigte und auch sein Echo in dieser Versammlung, scheint der “Wettbewerb” (das ist mit Verlaub knallharte Konkurrenz) auch unter Gewerkschaftern noch als wünschenswert durchzugehen. Interessant war für mich aber, dass z.Z. immerhin schon Gedanken an eine “kassenübergreifende Fusion” auftauchen.

Ist einheitliche Krankenversicherung denkbar? Sie wurde im Lauf der Geschichte schon häufiger ernsthaft angedacht und fand sich – meines Wissens – auch schon in Gewerkschafts-Programmen. Wie auch deren Verwaltung allein durch die Versicherten selbst. Und wurde sie in Staaten des ehemaligen Ostblocks nicht sogar verwirklicht – bis hin zur Gesundheitsversorgung zum Nulltarif für jedermann?

Dann wäre auch schon bewiesen, das sie machbar ist. Ansonsten können wir die Frage nach der Machbarkeit der selbstverwalteten Einheitskasse auch für uns hier nur praktisch-politisch beantworten. Das heißt wir müssen es tun.