Erfurt auch heute aktuell
Als sich die SPD bzw. deren Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen kürzlich in Erfurt trafen und wieder einmal demonstrierten, wie billig die Masse der "Abweichler" im Zaum zu halten ist, wurden sie doch aufgeschreckt durch das im Sitzungssaal umherschwirrende Gespenst einer "neuen Partei". Wer diesem Gespenst Körperlichkeit verleihen wolle, so war den Worten des inzwischen neuen SPD-Chefs und Großen Hoffnungsträgers Müntefering zu entnehmen, sei "kein Sozialdemokrat" mehr. Dabei sind vielleicht gerade unter denen, die sich mit dem Gedanken der Gründung einer Wahlalternative für die Bundestagswahl tragen, einige, die sich darauf zu besinnen beginnen, dass es Zeiten gab, als die Bezeichnung "deutscher Sozialdemokrat" noch Achtung hervorrufen konnte. Und dass dies etwas mit der Stadt Erfurt zu tun hatte.
Im Oktober 1891, nach dem Fall des Sozialistengesetzes, gab sich die SPD auf ihrem Parteitag in Erfurt ein neues Programm, das demzufolge als "Erfurter Programm" bekannt wurde. Es sollte zum Vorbild für alle Parteien der II. Sozialistischen Internationale werden, unter anderem für die russischen Bolschewiki. Denn trotz einiger Mängel war es das wissenschaftlich reifste Programm einer Arbeiterpartei in der damaligen Zeit. Ein revolutionäres Programm selbstverständlich, denn damals galt noch das Wort eines Wilhelm Liebknecht und keines Franz Müntefering, wenn es darum ging, das Wesen des Begriffs "Sozialdemokrat" zu beschreiben: "In dem Boden des proletarischen Klassenkampfes liegt die Kraft unserer Partei ... Wir hören auf, die Sozialdemokratie zu sein, wenn wir aufhören, eine proletarische Partei, die Partei des proletarischen Klassenkampfes zu sein."
Die heutige SPD hat sich längst nicht nur von den Erkenntnissen des wissenschaftlichen Sozialismus abgewandt, sondern auch etlicher der vor über hundert Jahren für das kaiserliche Deutschland aufgestellte Reform-Forderungen entledigt. Dazu gehörten damals etwa die Forderungen nach "Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung" und "Abschaffung aller indirekten Steuern".
Das Erfurter Programm, von dessen Erkenntnissen übrigens auch die VerfasserInnen des Aufrufs der "Initiative Arbeit & soziale Gerechtigkeit" - auf dessen Grundlage eventuell die neue Wahlpartei entstehen soll - weit entfernt sind, lohnt die Lektüre noch heute. Es gibt - obwohl gerade erst an der Schwelle des Eintritts der kapitalistischen Gesellschaften ins Zeitalter des monopolistischen Kapitalismus, des Imperialismus geschrieben - einen unendlich viel klareren Blick auf die gegebenen und sich entwickelnden Verhältnisse und damit selbst auf die heutigen Zustände als alle wortgewaltigen Manifeste über unsere angebliche Wissens-, Informations- oder Sonstwie-Gesellschaft, die aktuell im Schwange sind. Es ist kurz und präzise geschrieben, so dass es leicht fällt, zur Untermauerung dieser Behauptung wesentliche Absätze des Hauptteils hier einfach zu zitieren.
"Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft
... trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn
in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol
einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und
Großgrundbesitzern werden.
Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht
die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe,
geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes
Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile
dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern
monopolisiert. (...)
Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.
Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.
Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel
war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute
zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren
und die Nichtarbeiter - Kapitalisten, Großgrundbesitzer - in den
Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen
Privateigentums an Produktionsmitteln - Grund und Boden, Gruben und Bergwerke,
Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel - in gesellschaftliches
Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für
und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß
der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der
gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus
einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der
höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß
des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den
heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse
sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter
sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und
die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen
Ziel haben.
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist
notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen
Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht
entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel
in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen
Macht gekommen zu sein.
Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen
zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen - das ist die
Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.
Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. (...)
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für
neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung
der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte
und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung.
Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft
nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter,
sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung ..."
So zeigt sich einmal mehr, dass die Besinnung auf unsere Geschichte
den Blick in die Zukunft zu klären vermag. Den Einfluss der SPD -
die sich deutlich sichtbar wiederum als Steigbügelhalter für
die schwärzeste Reaktion erweist - auf die Arbeiterbewegung zu brechen,
alle Ansätze zu einer klassenkämpferischen ArbeiterInnenbewegung
zusammenzubringen, unsere Gewerkschaften in diesem Sinne umzugestalten
und dieser Bewegung auch wieder eine starke parteipolitische Vertretung
zu schaffen, darum und um nichts weniger geht es heute. Bestehende linke
politische Parteien und Organisationen erweisen ihren Nutzen umso besser,
je sichtbarer ihr Beitrag dazu ist.
(D.L.)