1. Mai 2004:

“Unser Europa”?

Unser Europa – frei, gleich, gerecht”. So lautet das Motto des DGB für den diesjährigen 1. Mai. Der Aufruf beginnt so: “Europa wächst zusammen. Wir Gewerkschaften begrüßen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Gemeinsam wollen wir ein soziales Europa der Freiheit, Gleichheit und Tolerenz gestalten.” Er endet mit den Worten “Europa, so wie wir es wollen, bietet allen Menschen gleiche Chancen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ohne die Lebensperspektiven der Menschen in anderen Teilen der Welt zu beschneiden. Das setzt eine Politik für Arbeit und soziale Gerechtigkeit voraus. Nur sie kann dafür sorgen, dass Freiheit und Gleichheit in Europa wachsen. Nur ein gemeinsames Europa ist die Garantie dafür, dass unser Kontinent von weiteren Kriegen verschont bleibt. Auf dem Fundament einer stabilen Demokratie und einer sozialen Wirtschaftsordnung lässt sich Globalisierung mit menschlichem Antlitz gestalten.”

Die real existierende EU, die dieser Tage um zehn Staaten erweitert wird, entwickelt sich vor unser aller Augen zu einem vollendet undemokratischen, dem ungehemmten Kapitalismus womöglich bald verfassungsrechtlich verpflichteten, auf militärische Einsätze in aller Welt zum Schutze imperialistischer Interessen eingeschworenen Staatenbund. Trotz unterschiedlicher außenpolitischer Orientierung der Mitgliedstaaten zeichnet sich eine Verschärfung der Widersprüche dieses vergrößerten imperialistischen Machtblocks etwa zu den USA ab.

Diese Entwicklung wird vor allen Dingen von der Bundesrepublik vorangetrieben, und die aktuelle Bundesregierung vertritt sie mit einem ganz eigenen Schwung.
Vor diesem Hintergrund gibt es Anlass zu der Besorgnis, die im Maiaufruf des DGB geäußerten Wünsche könnten leere Worte bleiben, wenn auch die Massenmobilisierung zum Europäischen Aktionstag am 3. April besonders in Deutschland dazu geführt hat, dass die Forderung nach einem völlig anderen sozialpolitischen Kurs als dem derzeit verfolgten nicht zum Schweigen gebracht werden kann und ihren Niederschlag in gewerkschaftlicher Politik noch stärker als vor diesem Tag finden wird. – Bereiten wir uns darauf vor, dass uns dabei auch innergewerkschaftliche Hürden in den Weg gestellt werden. Um sie überwinden zu können, müssen wir sie frühzeitig erkennen.

Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, erklärte in Berlin, auf der Grundlage der Agenda 2010 werde es den Schulterschluss, zu dem die SPD die Gewerkschaften aufgefordert hatte, nicht geben. Die Rolle der Bundesregierung im Prozess des Sozialkahlschlags verfälschend, schilderte er allerdings zur gleichen Zeit die politische Situation so: “Es gibt zurzeit in der Bundesregierung nur wenige Ansätze einer spezifisch rot-grünen Politik.” (Als hätte nicht Gerhard Schröder unter dem Beifall der grünen Partei die schon vor den nachfolgenden Kungeleien mit den Unionsparteien vollkommen asoziale Agenda 2010 verkündet, sondern Edmund Stoiber.) So geschehen in einem Interview mit dem DGB-Magazin “einblick” am 29.3.04. Darin fährt Sommer fort: “Etwa in der Außenpolitik, zu der die Gewerkschaften keinen Dissenz haben, oder in Teilen der Innovationspolitik.” Die hier als “spezifisch rot-grün” bezeichnete und ausdrücklich unterstützte Außenpolitik aber führt das von mir oben skizzierte Europa herbei, das auf die entschiedene Ablehnung der organisierten ArbeiterInnenbewegung stoßen müsste. Und Gewerkschaftsführer, die den Zusammenhang zwischen imperialistischer Außenpolitik und einer ihr entsprechenden Innenpolitik in einer gegebenen konkreten Situation nicht erfassen können, können wir uns eigentlich nicht leisten.

Michael Sommers Perspektive ist falsch und gefährlich: “Solange ich DGB-Vorsitzender bin, will ich nicht hinnehmen, dass dieses Land in amerikanische Verhältnisse abdriftet.” Hier erlebt der Mythos vom guten (alten) Europa, vor allem doch des guten Deutschland mit Verhältnissen, die uns allen bisher so gut bekommen sind und die nun – vollkommen unverständlich! und wie unvernünftig! – von Kapital- (pardon: Unternehmer-) Kreisen und PolitikerInnen aufgekündigt werden, seine spezifisch nationalgewerkschaftliche Ausprägung. - Keiner will “amerikanische Verhältnisse”, wenn damit die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik des US-Imperialismus gemeint ist. Aber die Gefahr, sich im Zuge dieser Ablehnung vor den Karren der eigenen Imperialisten spannen zu lassen, ist real; Kolleginnen und Kollegen in Betrieben, die “Opfer der Globalisierung” werden – die infolge der internationalen Kapitalkonkurrenz Arbeitsplätze in Deutschland vernichten – erliegen ihr immer wieder. Es sei auch an Sommers Neujahrsansprache erinnert, in der er die Bundesregierung aufforderte, eine Politik zu machen, die der Bundesrepublik ihren Rang als Exportweltmeister sichern hilft. (Dazu nämlich dient nach seinem Verständnis die DGB-Forderung nach einer “auf Innovation gepolten” Wirtschaft.) Auf den Punkt gebracht hat die bei Sommer angelegte Tendenz einmal mehr die gute alte IG Chemie (nein, muss richtig heißen: die neue IG BCE) in ihrem speziellen Aufruf zum 3. April: “Wir demonstrieren für das Modell Deutschland in einem modernen Europa.” Die Schilder mit der schönen schwarz-rot-goldenen “1” und der absurden Parole “Modell Deutschland ... zuerst der Mensch!” waren denn auch vielerorts zu sehen. Das sind so die Aussagen, die es auch ganz rechten und Gewerkschaften grundsätzlich feindlich gegenüber stehenden politischen Kreisen möglich erscheinen lassen, sich mit nationalistischen Aufrufen und Volksgemeinschafts-Parolen in den sozialen Protest einzuklinken. Ein Grund mehr, sie nicht zu akzeptieren.

Ein Europa freier Menschen ist auf kapitalistischer Grundlage gleich welcher Ausprägung nicht denkbar. Es kann nur geschaffen werden im Grenzen überwindenden Kampf der arbeitenden und erwerbslosen Menschen gegen die Herrschaft des Kapitals und die ihm hörigen Kabinette. Unsere Gewerkschaften müssen wir so umgestalten, dass sie für diesen Kampf taugen. Und dafür demonstrieren wir am 1. Mai.

(D.L.)