EU-Erweiterung:

Traum erfüllt

Am 1. Mai war es so weit. Zehn neue Mitglieder wurden in die Europäische Union aufgenommen, und die deutschen Eliten kamen einem alten Traum ein deutliches Stück näher: Europa wächst zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammen. Zwischen Sagres in Portugal und Narva in Estland, zwischen Kiruna in Schweden und Famagusta auf Zypern wird es keine Zollgrenzen mehr geben. Man fühlt sich an jene alten Denkschriften und Briefe erinnert, die Reinhard Opitz einst in seiner Quellensammlung “Europastrategien des deutschen Kapitals“ zusammengefasst hat. Die Einigung Europas unter deutscher Führung war in beiden Weltkriegen nicht nur das Ziel größenwahnsinniger Politiker, sondern führender Bankiers, Industrieller und Militärs. Doch natürlich wird man Hinweise auf derlei historische Details in den unvermeidbaren Festtagsreden umsonst suchen.

Nun ist die Erinnerung an diese Kontinuitäten noch keine Strategie für eine linke Gegenwehr, keine Antwort auf die Frage, wie denn nun mit der real existierenden EU, dem Aufbau einer europäischen Armee, dem europaweiten Lohndumping und Sozialabbau umzugehen sei. Aber angesichts einer parlamentarischen Linken, die – sofern nicht längst vollends zum linken Flügel des Neoliberalismus mutiert  – nach wie vor darauf besteht, diesen zentralistischen, undemokratischen und vorrepublikanischen Moloch mit dem alten Traum der Arbeiterbewegung von den Vereinigten Staaten von Europa zu verwechseln, ist  der gelegentliche Verweis auf macht- und wirtschaftspolitische Realitäten mitunter ganz nützlich. Das schützt das Denkorgan vor dem Verkleben durch die allgegenwärtigen Propaganda.
Zu den erwähnten Realitäten gehört unter anderem, dass deutsche Konzerne ganz enorm und mehr als alle anderen vom 1992 eingeführten EU-Binnenmarkt profitieren. In den 1970ern und 1980er Jahren war die Bedeutung der EU für die deutsche Exportwirtschaft kontinuierlich zurückgegangen. Anfang der 1990er Jahre ging schließlich weniger als 50 Prozent der deutschen Ausfuhren nach Westeuropa. Der Fall der Schlagbäume hat diesen Trend umgekehrt, und zwar trotz der Tatsache, dass Deutschlands Exporte auch in den Rest der Welt stark zugenommen haben. Im Jahre 2003 nahm die EU rund 55 Prozent deutschen Ausfuhren auf, weitere 8,5 Prozent gingen in die Beitrittsländer. Ab dem 1. Mai wird die hiesige Wirtschaft folglich fast zwei Drittel ihrer Exporte innerhalb der EU-Grenzen abwickeln. Ohne lästige Zollgrenzen oder anderen Handelhindernisse und zumeist auch ohne die Gefahr von Kursschwankungen, denn die neuen EU-Mitglieder werden mit einiger Wahrscheinlichkeit bald den Euro übernehmen.

Wie sehr sich die Verhältnisse zum Vorteil deutscher Unternehmen entwickeln ist unter anderem auch am enormen Handelsbilanzüberschuss abzulesen, der allerdings nicht zu Lasten der neuen, sondern ausschließlich der alten EU-Mitglieder geht. Zuletzt betrug er rund 100 Milliarden Euro und war in den Jahren zuvor stark gestiegen. Siemens, VW, DaimlerChrysler und Co. konnten also einerseits mit der Wirtschafts- und Währungsunion und der Auflösung des Ostblocks reichlich neue Märkte erobern ohne andererseits auf dem deutschen Binnenmarkt allzu viel Terrain abgeben zu müssen. Das ansehnliche Sümmchen, das man in diesen Geschäften machte, wurde unter anderem in den strategischen Industrien der mittel- und osteuropäischen Länder angelegt.

Symptomatisch für den Charakter der Union ist derweil, dass die Bundesregierung zwar einerseits gerne diesen Nutzen der EU für das deutsche Kapital herausstreicht, gleichzeitig jedoch mit Märchen wie dem vom “Zahlmeister Deutschland“ auf der nationalistischen Klaviatur herumklimpert. Die EU-Kommission will den Unions-Haushalt kräftig ausweiten, um mit Strukturhilfen in der neuen Peripherie das Armutsgefälle ein wenig abzuschwächen. Doch so wie in Deutschland in den letzten Jahren der Unwillen zum finanziellen Ausgleich zwischen dem reichen Süden und dem Rest der Republik wächst, so sträubt sich die Bundesregierung in den anlaufenden Brüsseler Haushaltsverhandlungen dagegen, auch nur einen Teil der deutschen Gewinne zurückfließen zu lassen. Dass mit der begleitenden Propaganda allerlei nationalistische Vorurteile bestärkt werden, nimmt man dabei billigend in Kauf. Offenbar wollen die herrschenden Eliten trotz aller politischen Integration auch künftig nicht darauf verzichten, die Bevölkerungen mit nationalistischen und wohlstandschauvinistischen Argumenten gegeneinander auszuspielen.

Doch während BDI und Bundesregierung versuchen, die Lohnabhängigen mit Standortlogik und Abwanderungs Drohungen gefügig zu machen und gegen die neuen Mitgliedsstatten aufzubringen, hat überall in Europa das Gros der Menschen mit recht ähnlichen Problemen zu kämpfen: Abbau von Renten- und Krankenversicherung, Lohndrückerei, Arbeitslosigkeit, Angriffe auf die Bildungssysteme. Die Regierungen und Unternehmerverbände koordinieren diese Politik auf EU-Ebene. Dem wird langfristig nur EU-weit etwas entgegengesetzt werden können. In sofern sind die ersten Ansätze eines Zusammenwachsen der sozialen Bewegungen in Europa, wie er sich mit den Europäischen Sozialforen zeigt, erfreulich. Aber schon der europäische Aktionstag hat gezeigt, dass zum einen noch wesentlich mehr für eine Koordination getan werden muss, und dass diese zum anderen nicht den Gewerkschaftsvorständen überlassen werden sollte. Die haben an starken europäischen Bewegungen wenig Interesse. Selbstorganisation in vielen kleinen örtlichen Initiativen, die sich vernetzen und untereinander austauschen, ist gefragt.

(wop)