Kongress von in Berlin:

Perspektivensuche nach den Großdemos

Mit rund 2000 Teilnehmern war der Berliner "Perspektivenkongress" vom 14. bis zum 16. Mai deutlich besser besucht, als von den Veranstaltern - einem breiten Spektrum aus Gewerkschaften, Sozialverbänden, dem globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC, bis hin zu kirchlichen Organisationen - erwartet worden war. Im Zentrum der Debatten, die in 125 Veranstaltungen unterschiedlicher Größe stattfanden, stand die Frage nach Alternativen zum derzeit vorherrschenden neoliberalen Politikmodell. "TINA - There is no alternative" ("Es gibt keine Alternative"), diesem einst von Margret Thatcher geprägten und seither permanent wiederholten Satz wollten die aus der ganzen Bundesrepublik angereisten Aktivisten etwas entgegensetzen. "Es gibt Alternativen, die sich an Solidarität statt an Ausgrenzung orientieren", erklärte Annelie Buntenbach von der IG BAU. Das Problem sei, dass die u.a. von den Gewerkschaften formulierten Alternativkonzepte in den Medien "totgeschwiegen werden", beklagte der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters. Auch der ehemalige Vorsitzende der IG Medien, Detlev Hensche, monierte die in der Presse vorherrschende "hochgradige Konformität", zeigte sich aber überzeugt, dass "die Menschen oftmals ganz anders denken". Pedram Shayar von ATTAC beschrieb bei der Kongresseröffnung am Freitag die Mechanismen "der Homogenisierung auf neoliberaler Grundlage": Die neoliberal geprägte Politik habe Vereinzelung und Entsolidarisierung zur Folge, was die Menschen wiederum für diesen Politikansatz empfänglicher mache. Er forderte, die sozialen Bewegungen müssten "näher an die sozial Ausgegrenzten, an die Verlierer der Globalisierung, ran".

"Dieser Kongress ist qualitativ etwas völlig Neues", hob ATTAC-Sprecher Philipp Hersel hervor und meinte damit das breite Spektrum der an der Vorbereitung und Durchführung beteiligten Organisationen. Eine Vielzahl von Rednern betonte, man wolle "nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame" in den Vordergrund schieben. "Auf diesem Kongress sind ganz unterschiedliche Organisationen mit ganz unterschiedlichen Traditionen vertreten, und unsere Aufgabe ist es, aus dieser Vielfalt Kraft zu schöpfen", sagte ver.di-Chef Frank Bsirske. Gemeinsam müsse man diskutieren, "was wir der neoliberalen Konterrevolution, wie Milton Friedman es genannt hat, entgegensetzen können", so der Gewerkschaftsboss.

Überall spürbar war das Bedürfnis der Teilnehmer und Organisationsvertreter nach Harmonie. "Was uns eint, ist das Unbehagen über die herrschende Politik", fasste der Politikwissenschaftler Roland Roth beim Abschlussplenum zusammen. Gestört wurde die harmonische Stimmung indes durch die Frage der Gründung einer neuen Linkspartei. Diese war zwar im offiziellen Konferenzprogramm nicht vorgesehen, kam aber immer wieder auf und wurde kontrovers diskutiert. Thomas Händel von der "Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" meinte, Massendemonstrationen wie die am 3. April könnten nur wirksam werden, "wenn wir auch androhen, zur Auseinandersetzung um die politische Macht anzusetzen". Er betonte, die von bayrischen IG-Metall-Funktionären formierte Initiative wolle "keine Splitterpartei ins Feld setzen, sondern einen politischen Arm als Plattform der sozialen Bewegungen bilden". Andere Diskutanten reagierten mit teils heftiger Kritik auf das Vorhaben. Sven Giegold von ATTAC äußerte die Befürchtung, "dass wir bald nicht mehr über Gemeinsamkeiten diskutieren, sondern darüber, wie wir gegeneinander kandidieren". Die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Margret Mönig-Raane meinte ebenso wie Adolf Bauer vom Sozialverband Deutschland (SOVD), man dürfe "SPD und Grüne nicht einfach abschreiben", sondern müsse "Anknüpfungspunkte in diesen Parteien suchen". Zum Verhältnis zur SPD befragt, sagte Bsirske: "Dies ist eine Partei, an deren Politik wir ein besonderes Interesse haben". Die Gewerkschaft mache aus ihrer Kritik an Regierung und Opposition jedoch keinen Hehl.

Klaus Ernst, Bevollmächtigter der IG Metall in Schweinfurt, sagte hingegen: "Die Diskussion über das angeblich kleinere Übel hängt mir zum Hals raus". Er befürchte, dass sich ein Teil der Gewerkschaften im Vorfeld der Bundestagswahl 2006 der Sozialdemokratie erneut annähern könnte. Horst Schmitthenner vom "IG Metall-Verbindungsbüro soziale Bewegungen" plädierte dafür, die Debatte um eine Wahlalternative nicht auszugrenzen, "trotz der Bauchschmerzen, die alle von uns nach den Erfahrung mit Grünen und PDS haben". In den Gewerkschaften habe der Rechtsschwenk der SPD "einen noch nicht offen ausgetragenen Strategiekonflikt" ausgelöst.

Das Thema Wahlalternative stand auch im Zentrum einer Abendveranstaltung, die verschiedene sozialistische Gruppierungen am Rande des Kongresses organisiert hatten. Ein interessiertes Publikum von gut Hundert Menschen lauschte Vorträgen von Vertretern der Sozialistischen Partei Schottlands (SSP), der Revolutionär-Kommunistischen Liga (LCR) aus Frankreich und der hiesigen "Wahlalternative". Bill Scott von der SSP beschrieb, wie sich in Schottland die dortige Linke vor dem Hintergrund einer verheerenden neoliberalen Politik zusammengeschlossen und in Abwehrkämpfen, unter anderem gegen die Kopfsteuer (Poll Tax), die SSP aufgebaut hat. Bei den schottischen Regionalwahlen 2003 erzielte sie sieben Prozent. Wichtig sei, so Scott, dass die Parlamentsarbeit mit den sozialen Kämpfen verbunden werde und vor allem diesen diene. Das sah Patrick Auzende von der LCR ganz ähnlich und betonte wie Scott, dass eine Linkspartei auf antikapitalistischer Grundlage stehen müsse. Helge Meves von der "Wahlalternative" sah sein Projekt hingegen nicht als "klassische sozialistische Partei" sondern möchte es breiter angelegt wissen. Unklar blieb, wie das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen aussehen soll, aus denen, so Meves, keine Partei gemacht werden dürfe.

Am Sonntag, dem letzten Kongresstag, und nach dessen Abschluss beim "Vernetzungstreffen" ging es um die weitere Zusammenarbeit der beteiligten Kräfte. Als zentrale Themenbereiche kristallisierten sich dabei der Widerstand gegen die verschärften Zumutbarkeitskriterien für Erwerbslose und gegen die Privatisierung öffentlicher Güter, die Forderungen nach Mindestlohn und einer gerechteren Steuerpolitik, sowie die Frage der Arbeitszeit heraus. Hugo Braun von der "Initiative für ein Sozialforum in Deutschland" forderte die sozialen Bewegungen auf, den Konflikt um eine Arbeitszeitverlängerung im öffentliche Dienst "als gesellschaftliches Problem zu verstehen und aufzugreifen". Auch Sybille Stamm von ver.di Baden-Württemberg argumentierte dafür, an dieser Frage die Verbindung der betriebliche Auseinandersetzungen mit der sozialen Bewegung zu knüpfen.

 (dab, wop)