Veranstaltung der IG Metall mit Rainer Roth:

“Nur das Bündnis zwischen Arbeit und Kapital ist unmöglich“

Am 27. Mai fand im Lichtsaal des Legienhofes eine Veranstaltung mit Professor Rainer Roth von der Fachhochschule Frankfurt (Main) statt. Eingeladen hatte die IG Metall. Auf dem Einladungsflugblatt hieß es: „Das Kapital kann sich den Sozialstaat nicht mehr leisten – sagen seine Sachwalter. Und wir fragen uns: Können wir uns das Kapital noch leisten?“

Rainer Roth ließ keinen Zweifel daran, dass in der Herrschaft des Kapitals die Ursache der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und der Politik des Sozialkahlschlags begründet ist: „Nicht eine falsche Politik, sondern eine falsche Ökonomie ist für die Krise verantwortlich.“ Und: „Die Tiefe und die Dauer der Krise – die eine Überproduktionskrise und eine Finanzkrise ist – erklärt die Aggressivität der politischen Angriffe.“ Anschaulich, wie man es von ihm kennt, nahm er die Agenda 2010 und ihre Hintergründe auseinander. Die ZuhörerInnen im sehr gut besetzten Versammlungsraum hörten den Ausführungen bis zum Schluss aufmerksam zu. Die Veranstaltung war eine eindrucksvolle Werbung für den Widerstand gegen die Politik von Kapital und Regierung, für dessen Organisierung breite gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden sind. „Bündnisse von Jungen und Alten, von Erwerbslosen und Erwerbstätigen sind möglich, unmöglich ist nur das Bündnis zwischen Arbeit und Kapital.“

Einige Auszüge aus Rainers Referat:

„Wir brauchen ein Bündnis von Arbeitslosen und Beschäftigten und nicht die Unterstützung von Reformen, die Arbeitslosen und Beschäftigten in den Rücken fallen. Das Kapital versucht, dieses Bündnis zu verhindern. Wir müssen es fördern. Und es wird nicht gefördert, wenn Gewerkschaften den Arbeitslosen die Agenda 2010 als Chance zu verkaufen. Arbeitslose erleben tagtäglich das Gegenteil.

Dieses Bündnis zu fördern, setzt voraus, die gemeinsamen Interessen zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten herauszuarbeiten und in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist nur möglich, wenn der Zusammenhang zwischen Sozialabbau und Lohnabbau im Zentrum steht. Nur so können die KollegInnen in den Betrieben sehen, dass sich Angriffe auf Arbeitslose und Arme letztlich gegen sie selbst richten. Nur auf dieser Basis gibt es gemeinsame Aktionen, nur auf diese Weise kommt der Protest gegen Kürzungen bei Arbeitslosen auch in die Betriebe.

Beschäftigte sind an einem möglichst hohen Mindestlohn Sozialhilfe (bzw. Arbeitslosenunterstützung) interessiert, nicht an Kürzungen bei Arbeitslosen und Armen. Das Kapital will sie mit dem trojanischen Pferd der Senkung der Lohnnebenkosten und der Steuern ködern. Das Kapital lockt mit einer Erhöhung des Nettolohns, wenn durch Kürzungen bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern Ausgaben verringert und deshalb Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und Steuern gesenkt werden können.Das Ziel der Senkung der Lohnnebenkosten, richtet sich gegen Arbeitslose, weil es nur mit Kürzungen zu Lasten der Arbeitslosen durchzusetzen ist. Es kann nicht unser Ziel sein.Umgekehrt sind Arbeitslose an möglichst hohen Löhnen interessiert und nicht an möglichst niedrigen. Das gibt das Kapital vor, um Arbeitslose gegen Tarifverträge und die beschäftigten KollegInnen und gegen Gewerkschaften aufzuhetzen.

Notwendige Grundlage eines Bündnisses zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen muss m.E. die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen sein. Zehn Euro brutto die Stunde (rd. 1.700 Euro brutto bei einer 38,5 Stundenwoche oder 1.000 - 1.100 Euro netto) liegen knapp über der Pfändungsfreigrenze von 940 Euro, die seit einigen Jahren gilt. Ein solcher Mindestlohn würde ein bescheidenes Niveau der Lebenshaltung erlauben und dem Lohndumping entgegenwirken. Gesetzliche Mindestlöhne sind notwendig, weil erstens eine wachsende Zahl von Betrieben nicht tarifgebunden ist und zweitens viele Tarife Löhne unterhalb des Existenzminimums festschreiben. Andererseits ist eine Grundsicherung für alle Arbeitslosen notwendig, und zwar nicht in der Höhe der abgesenkten Sozialhilfe namens ALG II, sondern m.E. auf einem Niveau von etwa 800-850 Euro für einen Alleinstehenden. Dieser Betrag würde deutlich über dem Niveau der heutigen Sozialhilfe für einen Alleinstehenden liegen, die sich auf etwa 650 Euro beläuft (nach Angaben des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln). Er würde aber auch unter dem festzusetzenden gesetzlichen Mindestlohn liegen. Der Mindestlohn muss das Sozialleistungsniveau übersteigen, da Arbeitende gegenüber Nicht-Arbeitenden einen höheren Bedarf haben.

Neben gesetzlichen Mindestlöhnen und Grundeinkommen für Erwerbslose und RentnerInnen, dem Ausbau der Sozialversicherung zu Lasten der Privatversicherungen und massiver Arbeitszeitverkürzung steht auch die Rücknahme aller Senkung von Gewinnsteuern auf der Agenda der LohnarbeiterInnen.“
„Das Misstrauen gegenüber dem ganzen System und seinen Repräsentanten nimmt zu. Und diese spüren es auch. ‘Immer mehr Bürger begegnen der politischen und der unternehmerischen Führungselite mittlerweile mit offener Verachtung. Es gibt eine zunehmende Vertrauenskrise im Grundsätzlichen, die eine andere Qualität bekommt als das bisherige Auf und Ab des Meinungspegels. Diese Vertrauenskrise kann ganz schnell in eine Akzeptanzkrise des gesamten politischen und marktwirtschaftlichen Systems umschlagen.’ So der Fraktionsführer der CDU im Bundestag, Friedrich Merz.Nur noch die Hälfte im Westen und ein Viertel im Osten trauen nämlich laut Meinungsumfragen dem Wirtschaftssystem zu, die Probleme zu lösen. (Merz in Financial Times Deutschland 23.03.2004) Daran sollten wir anknüpfen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als ob das Kapital die Probleme lösen könnte. Also nicht: die könnten es, wenn sie nur einsehen würden, dass sie die falsche Politik machen, sondern: die können es nicht.

Lernen, Nein zu sagen

Die arbeitenden Menschen müssen lernen, Nein zu sagen, die eigenen Interessen zu formulieren und zu vertreten, ohne Rücksicht auf das, was das Kapital will und ohne Illusionen in das Kapital. Und zwar auch dann, wenn man zu Zugeständnissen gezwungen ist, die den eigenen Zielen und Interessen entgegenlaufen, auch dann, wenn man nicht die Kraft hat, Niederlagen zu vermeiden. Von denen, die selbst keine Lösung haben, braucht man sich nicht vorwerfen lassen, man hätte selber noch keine.Das Kapital kann keine Gesamtlösung für die Probleme, die es verursacht. Es versucht nur, die Folgen der selbst verursachten Krise auf dem Rücken der LohnarbeiterInnen abzuladen. Umgekehrt gilt es zu versuchen, die Folgen der Krise, die das Kapital verursacht, möglichst weitgehend auf seinem Rücken abzuladen. Das ist zunächst einmal eine Alternative gegenüber dem freien Fall nach unten. Man kann auch kämpfen, wenn man noch keine Gesamtlösung hat.

Es ist möglich etwas durchzusetzen bzw. aufzuhalten, z.B. die Agenda 2010 zu bremsen. Die Agenda 2010 ist ins Stocken geraten. Das ist ein Erfolg der massiven Ablehnung der Agenda durch große Teile der Bevölkerung. Aber der Kapitalismus wird dadurch nicht sozial und gerecht, dass er zu den früheren Zuständen zurückkehrt, aus denen die heutigen entstanden sind.

Unabhängige Strukturen örtlich und überregional erhalten und ausbauen

Am 3.4.2004 haben die größten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte stattgefunden.Ohne die Demonstration am 1.11., die gegen den erklärten Willen der DGB-Führung stattgefunden hat, wäre es dazu nicht gekommen. Und ohne Kräfte, die sich örtlich und bundesweit außerhalb von Gewerkschaftsstrukturen organisiert haben, wäre wiederum das nicht zustandegekommen. Deshalb ist die erste Schlussfolgerung, dass diese unabhängigen Strukturen unbedingt aufrechterhalten und gestärkt werden müssen.

Frankfurter Appell unterstützen

Grundlage dafür sollte der Frankfurter Appell sein, der im Januar 2004 auf einer Konferenz von rd. 500 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet entwickelt wurde. Ich bitte euch, den zu unterstützen und weitere Unterschriften zu sammeln. Der Frankfurter Appell fordert u.a. gesetzliche Mindestlöhne, ein ausreichendes Mindesteinkommen für Erwerbslose, keine Privatisierung der Sozialversicherung, massive Arbeitszeitverkürzung usw. Es wird eine Aktionskonferenz am 19. September geben, auf der die weiteren Schritte besprochen werden sollen.

Gewerkschaften gegen die Angriffe des Kapitals verteidigen

Noch einmal zu den Gewerkschaften. Kannegießer, der Präsident von Gesamtmetall, hat als Reaktion auf den 3.4. die Existenzberechtigung der Gewerkschaften offen in Frage gestellt.Das Kapital möchte am liebsten die Gewerkschaften zerstören, auch wenn die DGB-Führung schon dabei ist, das bis zu einem gewissen Grad selbst zu besorgen. Auch das ist noch lästig. Es hemmt und bremst die Entwicklung. Aber die Abschaffung der Tarifverträge, des Kündigungsschutzes, der Arbeitslosenversicherung usw. ist auch mit diesen Gewerkschaften und ihren Führungen nicht möglich. Man sollte sich daran erinnern, dass ab 1934 die Lohnfindung völlig auf die betriebliche Ebene verlagert worden war. Der Betriebsführer setzte die Löhne fest. Tarifverträge galten nicht mehr. Und die Gewerkschaften waren zerschlagen.

In diesem Sinne kommt es darauf an, Gewerkschaften zu verteidigen. In diesem Sinne kommt es darauf an, Gewerkschaften stärken, Mitglied werden bzw. als Gewerkschaftsmitglied aktiv zu sein. Die Interessen der Millionen Gewerkschaftsmitglieder müssen besser zum Ausdruck kommen. Auch das setzt eigenständige Organisationsformen innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften voraus. Die Demonstration am 1.11. 2003 ist außerhalb gewerkschaftlicher Strukturen beschlossen worden. Aber ohne die Unterstützung durch zahlreiche Gewerkschaftsgliederungen wäre sie so nicht möglich gewesen.

Jeder Schritt, bei dem Gewerkschaften Flagge zeigen, ist notwendig, um sich selbst zu erhalten und zu stärken.
LohnarbeiterInnen müssen ihre eigenen Interessen vertreten, so wie das Kapital die seinen. In dieser Hinsicht kann man viel vom Kapital lernen.“

Der vollständige Text des Referats ist im labournet abrufbar.

(D.L.)