"Kosten der Unterkunft" bei ALG II

Zwangsumzug Ermessensfrage

Minister Clement gab sich empört: "Ich weiß nicht, was einem noch alles einfallen kann, um Menschen in Angst und Schrecken zu jagen", schimpfte er. Der Anlass für den Zorn des Ministers: Mieterschutzbund und Paritätischer Wohlfahrtsverband hatten vor einer "Gettoisierung in Billigwohnblöcken" in Folge der Arbeitsmarktreform gewarnt. Sinn und Zweck von Arbeitslosengeld II (ALG II) sei, Menschen in Arbeit zu vermitteln, so Clement. Auch NRW-Arbeitsminister Harald Schartau dementierte eilig: "Wir wollen nicht die größte Umzugsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik organisieren." Das mag sein. Auch der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Absichten gepflastert. Deshalb sind die Absichten von Clement, Schartau & Co. das eine. Die Festlegungen in Hartz IV aber sehen anders aus. "Sicher ist …, dass alle SGB II Bedarfsgemeinschaften von einem System der freien Wohnungswahl mit Anspruch auf Wohngeld in ein System der Abhängigkeit von kommunalen Leistungen mit wahrscheinlichen Begrenzungen und Genehmigungsvorbehalten überführt werden" (SGB = Sozialgesetzbuch). So hatte das Mieterforum Ruhr schon im Mai in einem Brief an Clement zu Recht festgestellt.

Sicher ist auch, das berichtete der Berliner "Tagesspiegel" am 25. Juli: "In Leipzig und Halle halten die Wohnungs- und Baugesellschaften eigenen Angaben zufolge bereits unsanierte Plattenbauten bereit, sollte es nach Vollzug der Hartz- IV-Reform ab Januar Bedarf geben."
Regierung und Opposition haben im Vermittlungsverfahren zu Hartz IV Ende letzten Jahres eine gravierende Änderung im Wohngeldgesetz beschlossen. Ab 1. Januar 2005 erhalten alle Empfänger von ALG II, von Leistungen der Grundsicherung im Alter oder von Sozialgeld und alle Asylbewerber keinen Cent Wohngeld mehr.

Für Bezieherinnen von ALG II gilt stattdessen: Sie erhalten über die Agentur für Arbeit, aber finanziert von Städten und Gemeinden, im Bedarfsfall angemessene "Kosten der Unterkunft". Was "angemessen" ist, entscheiden die Städte und Gemeinden. Die freie Wahl der Wohnung war schon bisher für Sozialhilfebezieher aufgehoben. Ihnen konnte die Kommune - wenn sie wollte - die Wohnung innerhalb gewisser Grenzen vorschreiben. Und genau diese Regel haben Clement, Schartau, Koch, Stoiber & Co in das neue SGB II, bekannt als Hartz-IV-Gesetz, hineingeschrieben.

Was bedeutet in Zukunft "angemessener Wohnraum" für Bezieher von ALG II? "Gute Frage", bekam eine Arbeitslosenberaterin der IG Metall zur Antwort, als sie sich kürzlich bei der Senatsverwaltung für Soziales in Berlin erkundigen wollte. Die Behörde wusste es auch noch nicht.
Laut Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gilt in Berlin derzeit: 45 Quadratmeter Wohnraum für eine alleinstehende erwachsene Person sind "angemessen". Für jede weitere Person kommen 15 Quadratmeter hinzu - macht 60 qm für ein Paar oder eine alleinstehende Frau mit Kind, 90 qm für eine Familie mit zwei Kindern usw. Auch die angemessenen Mietkosten sind definiert, in Berlin 200 Euro Kaltmiete für 45 qm, 30 Euro Heizung und 90 Euro Nebenkosten, maximal also 320 Euro. Bei zwei Personen sind 405 Euro angemessen usw.

Was bedeutet die Neuregelung in der Praxis? Möglicherweise zunächst wirklich wenig. Denn trotz aller Panik der Betroffenen wollen viele Kommunen keine neuen Gettos, keine soziale Entmischung in Wohngebieten. Städte und Gemeinden haben zudem nach heftigem Krach erreicht, dass der Bund ihnen Mehrkosten für Unterkunft auch in Zukunft erstattet. "Der Bund beteiligt sich zweckgebunden an den Leistungen für Unterkunft und Heizung …, um sicherzustellen, dass die Kommunen … um jährlich 2,5 Milliarden Euro entlastet werden", lautet die neue Klausel in § 46 SGB II. Das ist ein wichtiger Erfolg. Damit liegt das Kostenrisiko für Unterkünfte auch in Zukunft beim Bund, die Zuweisung von Wohnungen aber geschieht weiter durch die Kommunen. So besteht für die Kommunen wenig Grund,Druck auf Bezieher von ALG II auszuüben.

Das aber kann sich ändern. Denn in § 27 von SGB II steht, dass der Minister per Rechtsverordnung festlegen darf, was "angemessener" Wohnraum ist. Davon will er, so Clement, vorerst keinen Gebrauch machen. Mal sehen, wie lange das währt.

(aus: Politische Berichte 16-17/2004 - Zeitung für Sozialistische Politik)