Montagsdemos:

Realistische Träume

Es bewegt sich was. Erfreulich viel sogar. Auf Deutschlands Straßen braut sich ein Gewitter zusammen, und aus dem Regierunsviertel hört man schrille Töne, die verdammt nach Pfeifen im Walde klingen. "Schröder hofft auf Einsicht der Bürger", übertitelte in der Woche vor Erscheinen dieser Ausgabe eine Berliner Zeitung des Kanzlers Ankündigung, die Einführung des Arbeitslosengeldes II ohne Abstriche durchzusetzen. Kilometer-, nein lichtjahretiefe Abgründe tun sich da zwischen den Regierenden und ihren medialen Sprachrohren auf der einen und der desillusionierten Menge auf der anderen Seite auf. Man meint, der Schreiber jener Überschrift saß am Montag nicht in seiner nur einen Steinwurf vom Ausgangspunkt der ersten Berliner Montagsdemo entfernten Redaktionsstube sondern auf einem der um Alpha Centauri kreisenden Planeten. Nicht zuletzt diese lautstarke Sprachlosigkeit deutet daraufhin, dass wir uns auf eine politische Krise zubewegen, wie sie zumindest der westliche Teil der Republik seit deren Gründung noch nicht erlebt hat. Zweifellos eine äußerst erfreuliche, längst überfällige Situation. 14 Jahre Deindustrialisierung und Kolonisierung des Ostens, 25 Jahre schrittweiser Abbau sozialer Standards und Massenarbeitslosigkeit im Westen fordern seit langem ein "Basta!" der Betroffenen.

Doch ganz so weit ist es noch nicht. Unmut und Protest schwellen spürbar an, aber für Euphorie ist es ebenso zu früh, wie man sich auch vor der Hoffnung auf abgehalfterte saarländische Volkstribunen hüten sollte. Für die Regierenden und vor allem für ihre Auftraggeber von BDI und BDA steht zu viel auf dem Spiel, als dass den Montagsdemos ein schneller Erfolg vergönnt sein könnte. Millionen Arbeitslose sollen in die dauerhafte Armut gestoßen werden, Arbeitszwang auf breiter Front durchgesetzt werden, um die Löhne in einem bisher ungekannten Umfang zu drücken, die Arbeitszeit auszudehnen und die Ära der Flächentarifverträge zu beenden. Das Ziel: Den deutschen Konzernen soll eine (noch) bessere Ausgangsposition für den Kampf um den Weltmarkt und die Vorherrschaft in der EU verschafft werden.

Da werden die Demonstranten einen langen Atem brauchen und einige Zeit haben, über die bisherigen Defizite der Proteste nachzudenken, die noch als Stolpersteine auf dem Weg zum Erfolg liegen. Da sind zum Beispiel die vielen Gräben zwischen den Gruppen der Betroffenen. Zwischen Ost und West, zwischen Arbeitslosen und Noch-Nicht-Arbeitslosen, zwischen den gewerkschaftlich Organisierten und dem Rest der Bevölkerung, wie er letztes Jahr schmerzhaft in der ostdeutschen Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche deutlich wurde. Nicht zuletzt ist da die Spaltung zwischen Eingeborenen und Einwanderern, von denen letztere tendenziell am härtesten vom regierungsamtlichen Enteignungsprogramm betroffen sein werden. Dennoch sind sie bisher kaum an den Protesten beteiligt und das diesbezügliche Problembewusstsein ist vielerorts bei den Organisatoren minimal. Eine aktive Einbeziehung der Organisationen der Migranten und Flüchtlinge wäre dringend geboten. Auch ein Austausch von Rednern zwischen den Städten, vor allem zwischen Ost und West, könnte helfen, gefährliche Spaltungslinien zu überwinden. Besonders wichtig wäre es, die Proteste mit den anstehenden Tarifauseinandersetzungen zu verbinden, nicht zu letzt, weil die Unternehmer und öffentlichen Arbeitgeber in den Verhandlungen die Verlängerung der Arbeitszeit fordern.

Aber wo geht die Reise hin? Was wollen die Montagsdemonstranten? Klar: Hartz IV muss weg. Auch die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit ist wahrscheinlich konsensfähig, müsste aber viel deutlicher in den Fordergrund treten. Hinzu müssten Forderungen nach Verteidigung der Sozialversicherungssysteme kommen. Die Zuzahlungen beim Arzt und in der Apotheke sind nicht nur höchst unpopulär, sondern für Ärmere auch eine erhebliche Belastung. Da wundert es fast, dass sie bei den bisherigen Montagsdemos kaum eine Rolle spielten.

Darüber hinaus wäre es an der Zeit, sich über grundsätzlichere Fragen Gedanken zu machen: Nur 38 Millionen Menschen reichen heute, um die restlichen 44 Millionen mit zu versorgen und dazu noch einen exorbitanten Handelsbilanzüberschuss zu produzieren. Derweil ist ein gewaltiger Wasserkopf aus "Arbeitsagenturen", Sozialämtern und ähnlichem damit beschäftigt, ein paar Millionen Menschen zu gängeln und mit Brosamen abzuspeisen. Wieso nicht auf diese ganze Bürokratie verzichten und jedem Einwohner - vom Kleinkind bis zur Oma - ein Grundeinkommen von sagen wir 1000 Euro inklusive Krankenversicherung zu garantieren. Davon kann man in diesem Land leidlich in Würde leben und bezahlbar wäre es im Prinzip auch, wie Sozialhilfeinitiativen schon vor Jahren vorgerechnet haben. Die knappe Billion Euro, die dafür im Jahr benötigt würde, hören sich nach einer gewaltigen Summe an, machen aber nicht einmal die Hälfte des deutschen Bruttosozialprodukts aus. Was wäre das für ein Leben: Keine Angst mehr vor Arbeitslosigkeit und Altersarmut, keinen Zwang mehr miesbezahlte Schwerstarbeit anzunehmen. Statt dessen nur noch Arbeit, die Spaß macht, oder die durch besonders gute Bezahlung für ihre unangenehmen Seiten entschädigt. Ein Traum? Oder die einzig realistische Antwort auf die Frage, was mit dem enormen Reichtum dieser Gesellschaft angefangen werden sollte?

(wop)