Mindestlöhne:

Kontroverse Diskussion

In der Diskussion um einen gesetzlichen Mindestlohn zerren die Einzelgewerkschaften nach wie vor in zwei Richtungen. "Wir sind uns im DGB alle miteinander einig. Niemand will einen gesetzlichen Mindestlohn", wird der erste Vorsitzende der IG Metall in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) vom 27.8.04 zitiert. Und auch für den Vorsitzenden der IG BCE, Hubertus Schmoldt ist eine staatliche Lohnfestsetzung aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen. "Dann muss man sich fragen, welche Rolle Gewerkschaften noch spielen. Das würde unser System kaputtmachen." (HAZ, 3.09.04)

Ganz anders Franz-Josef Möllenberg von der NGG im Gastkommentar des Handelsblatt (HB, 6.09.04) "Konkret erwarten wir deshalb von der Bundesregierung eine Grundsicherung durch existenzsichernde Mindesteinkommen, um einer sozialen Spirale nach unten den Riegel vorzuschieben. Wir schlagen deshalb einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 1500 Euro vor." In die gleiche Richtung, doch irgendwie mit ganz anderen materiellen Orientierungen Verdi: "Vorstand und Landesvorsitzende der Gewerkschaft Verdi beschlossen gestern, sich politisch für einen gesetzlichen Mindestlohn stark zu machen. Dabei schließt Verdi auch eine einheitliche Regelung für alle Branchen nicht aus, sagte eine Sprecherin. Verdi-Vize Margret Mönig-Raane nannte einen Stundenlohn von 7,50 Euro. Das entspräche bei einer 40-Stunden-Woche 1200 Euro im Monat." (HB, 25.8.04)

Leider gehen diese Wortmeldungen teils recht locker mit den im DGB stattfindenden Diskussionen um. Dort existiert bereits seit einigen Jahren eine Arbeitsgruppe, die Strategien zur Durchsetzung von Mindestlohnbedingungen entwickeln sollte (s. a. PB 11/2004, S. 18ff.). Praktisches Ergebnis sind vor allem die beiden von allen DGB-Gewerkschaften unterzeichneten Tarifverträge für Leiharbeit. Der Stand der Debatte bezüglich Mindestlohngesetze war im Handelsblatt vom 25.8.04 nachzulesen. "Die Gewerkschaften haben sich darauf geeinigt, die Tür für branchenbezogene Lösungen zu öffnen: ,Wenn eine einzelne Gewerkschaft für bestimmte Branchen einen gesetzlichen Mindestlohn will, dann werden die anderen Gewerkschaften dies akzeptieren', sagte Heinz Putzhammer, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) dem Handelsblatt." Dieser Linie hätten alle Gewerkschaften im DGB zugestimmt, auch die IG Metall und die IG BCE, die gesetzliche Mindestlöhne bisher abgelehnt hätten.

Wesentliche Gründe für die unterschiedlichen Orientierungen in den Einzelgewerkschaften liegen in den doch stark auseinanderfallenden Niveaus der untersten Entgeltgruppen, dem unterschiedlichen Wirkungsgrad der Tarifverträge, der divergierenden Durchsetzungsfähigkeit der einzelnen Gewerkschaften und verschiedenen Einschätzungen der politischen Wirkung gesetzlich geregelter Mindestlohnniveaus. Der Streit spitzt sich folglich auf die Frage des richtigen Instruments zu. Dabei wird neben den Polen Beharren auf tariflichen Standards (Erhalt der Tarifautonomie) und einer Orientierung auf gesetzliche Mindestniveaus vor allem die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen gesetzt, die eine Festlegung von Mindestniveaus nach Branchen bzw. nach Tarifgebieten ermöglichen würde. Entsprechend wird aktuell in der IG Metall nach einer Option gesucht. "Ein nach Branchen differenzierter Mindestlohn wäre hilfreich und würde die Tarifautonomie nicht in Frage stellen", wird ein IG Metall Vertreter zitiert. (HB, 25.08.04)
Allgemeinverbindlichkeit

Die AVE von Tarifverträgen ist im Tarifvertragsgesetz (TVG) geregelt. Der entsprechende Fachminister kann nach § 5 des TVG "einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn

1. die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und

2. die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erschient."

Eine der Parteien muss die Allgemeinverbindlichkeit beantragen und der Ausschuss muss mehrheitlich entscheiden.

Allerdings hat dieses Instrument in der Vergangenheit eher ein Schattendasein geführt und einen abnehmenden Wirkungsgrad von Tarifverträgen kaum verhindert. Im Gegenteil, das Instrument ist in der Krise. In der letzten Ausgabe ihrer Funktionärszeitschrift direkt hält die IG Metall fest: Zum Zeitpunkt 1. April 2004 waren 468 Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt. Zum Vergleich: 1994 waren noch 567 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, die rd. 4 Mio. Beschäftigte erfassten (Arbeits- und Sozialordnung 1996; Köln 1996)

Bereits Mitte 2002 stellte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung fest: "Das Instrumentarium der Allgemeinverbindlichkeit befindet sich seit einiger Zeit in der Krise." (Informationen zur Tarifpolitik, Juni 2002 )

Seit Mitte der 90er Jahre sei ein Rückgang des Wirkungsgrades der Allgemeinverbindlicherklärung zur verzeichnen, in deren Verlauf die Zahl der als allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge um ca. 30% zurückgegangen sei. Von 1991 bis 2001 ist die Quote der Ursprungstarifverträge, also neuer Tarifverträge, die allgemeinverbindlich erklärt wurden von 5,4 auf 2,5% geschrumpft. Und 2004 sind es nur noch 2,1%. Und von den allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen sind nur eine kleine Zahl Einkommenstarifverträge (1993 = 30% / 2002 = 19,5%).

Warum? "Die Hauptursache dieses Negativtrends ist die äußerst restriktive Haltung der Arbeitgeberverbände gegenüber diesem seit Jahrzehnten bewährten Instrument zur Gewährleistung akzeptabler Arbeits- und Einkommensbedingungen." (ebd.) Der Anteil der im Ausschuss abgelehnten AVE-Anträge betrug Anfang der neunziger Jahre noch regelmäßig unter fünf Prozent und erreichte im Jahr 2000 einen vorläufigen Höhepunkt mit 15%."Dahinter stehen 21 abgelehnte AVE-Anträge,die sich durchaus auch auf wichtige Tarifabschlüsse in beschäftigungsstarken Branchen bezogen. Mit sechs abgelehnten Anträgen auf Allgemeinverbindlichkeit regionaler Gehalts- und Lohntarifverträge war der Einzelhandel besonders stark betroffen - eine Branche, in der zuvor die Tarifparteien in fast allen Bundesländern regelmäßig darin übereingekommen waren, für neu abgeschlossene Tarifverträge Allgemeinverbindlichkeit zu beantragen". (ebd.)
Die Gewerkschaften schlagen nun eine Reform des Verfahrens zur Allgemeinverbindlichkeit vor. Der § 5 des Tarifvertragsgesetzes soll dahingehend verändert werden, dass die 50%-Klausel abgesenkt werden soll. Denn gerade die Branchen, in denen eine sehr geringe Tarifbindung vorliegt, ziehen das Lohnniveau nach unten. Darüber hinaus soll der entsprechende Fachminister auch die Möglichkeit erhalten, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn eine mehrheitliche Zustimmung des Tarifausschusses nicht zustande kommt.

Diese Veränderung des Verfahrens würde allerdings auch den politischen Konjunkturen unterliegen und daher eine Strategie der Gewerkschaften zur tariflichen Durchsetzung von Mindestniveaus bei den Entgelten nicht ersetzen.

Diskutiert wird auch eine analoge Anwendung der Bestimmung des Entsendegesetzes, das bei den Entgelten nur eine zwingende Anwendung der Mindestentgelte, also der untersten Lohn- und Gehaltsniveaus vorsieht (AEntG §7).

Offene Fragen

Eine gesetzliche Änderung der Grundlagen der AVE könnte tatsächlich die Anwendung dieses Instrumentes erleichtern. Aber warum spielte die AVE in der bisherigen tarifpolitischen Praxis eine so untergeordnete Rolle? In den Tarifbereichen der Metallwirtschaft gibt es keinen allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag. Das Problem der Vertretung und Mobilisierung von Beschäftigteninteressen in Bereichen mit schwacher gewerkschaftlicher Bindung bleibt also bestehen. Hinzu kommt eine Tendenz in größeren und mittelständischen Unternehmen durch Auslagerung von Betriebsabteilungen und Anbindung an andere Tarife (z.B. Logistik in den Transportsektor) die tariflichen Standards zu unterlaufen. Auch dieses Problem kann über Branchenlösungen nicht aufgefangen werden und verlangt eine abgestimmte Mindestlohnpolitik.

Ein wesentliches Argument gegen gesetzliche Mindestlöhne ist die mögliche Gefährdung der Tarifautonomie und im Gefolge ein niedriges Niveau, das sich bestenfalls am Durchschnitt der bestehenden untersten Lohngruppen orientieren würde und Druck auf die besseren tariflichen Standards ausüben könnte.

Nun ist jedoch mit dem Tarifverträgen für Leiharbeit genau dies im Rahmen tariflicher Verhandlungen schon eingetreten. Mit den dortigen 6,85 Euro für die niedrigsten Entgeltgruppen wurde eine Lohnhöhe vereinbart, die eventuell in einigen Branchen relativ dicht an den Werten für die untersten Lohngruppen liegen, für die Metallindustrie, die ja Hauptnutzer von Leiharbeit ist, aber eine große Kluft zu den untersten Lohngruppen herstellt.

Das Problem des Drucks auf den Preis bestimmter Sorten von Arbeitskraft kann wohl kaum mit der Entscheidung für das eine oder das andere Instrument zur Lohnfindung gelöst werden. Es geht dabei auch um die gesellschaftliche Wertschätzung "einfacher", harter Arbeit und um die Aufhebung der Konkurrenzbedingungen in der Lohnarbeit. Ohne flankierende Aktivitäten in diesen Bereichen wird kein Fortschritt erzielbar sein für einen Lohn, der ein gesichertes Auskommen und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Bei den Gewerkschaften, die derzeit auf das Primat der Tarifautonomie gegenüber gesetzlichen Regelungen bestehen, scheint auch die Beziehung von Tarif und Gesetz nicht klar ausformuliert. Es gibt eine ganze Reihe von Arbeitsbedingungen, die sowohl im Tarif als auch in Gesetzen geregelt sind, ohne dass eine Erosion der tariflichen Standards stattfinden würde. Dies betrifft beispielsweise die Arbeitszeit, den Urlaub, den Kündigungsschutz oder die Entgeltfortzahlung.

Kaum eine Rolle spielte in der gewerkschaftlichen Debatte bisher das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitbedingungen (siehe Kasten). Mit dem Gesetz zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen wäre eigentlich ein Rahmen gegeben (dort ist ausdrücklich festgelegt, dass Mindestarbeitsbedingungen festgelegt werden, wo Gewerkschaften nicht durchsetzungsfähig oder keine Tarifpartner vorhanden sind), der die Koexistenz von Tarifautonomie und Gesetz ermöglicht. Mindestens Frankreich zeigt, dass eine Anwendung verschiedener Instrumente (Tarif plus Allgemeinverbindlicherklärung plus Mindestlohn) möglich ist. Und: warum sollte im politischen Kampf der Festsetzung des Mindestlohnes und seiner praktischen Durchsetzung keine Mobilisierung der betroffenen Menschen möglich sein? Dies wäre wohl nicht leichter oder schwerer als bei dem Verwaltungsakt der Allgemeinverbindlicherklärung.
 

(rog, aus Politische Berichte 19/2004)


 

Gesetz Über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen

Die gesetzliche Grundlage

§ 1 Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen

(1) Die Regelung von Entgelten und sonstigen Arbeitsbedingungen erfolgt grundsätzlich in freier Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien durch Tarifverträge

(2) Mindestarbeitsbedingungen können zur Regelung von Entgelten und sonstigen Arbeitsbedingungen festgesetzt werden, wenn

a) Gewerkschaften oder Vereinigungen von Arbeitgebern für den Wirtschaftszweig oder die Beschäftigungsart nicht bestehen oder nur eine Minderheit der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber umfassen und

b) die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen zur Befriedigung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer erforderlich erscheint und

c) eine Regelung von Entgelten oder sonstigen Arbeitsbedingungen durch Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages nicht erfolgt ist.

§ 4 Fachausschüsse

(1) Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung errichtet Fachausschüsse für die Wirtschaftszweige und Beschäftigungsarten, für die Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden sollen.

(2) Der Fachausschuss setzt die Mindestarbeitsbedingungen durch Beschluss fest.

(3) Die Mindestarbeitsbedingungen bedürfen der Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung.

(4) Durch Mindestarbeitsbedingungen wird die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen in einem Wirtschaftszweig festgelegt.

§ 5 Zusammensetzung der Fachausschüsse

(1) Der Fachausschuss besteht aus mindestens je drei, höchstens je fünf Beisitzern aus Kreisen der beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber und einem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bestimmten Vorsitzenden.

§ 8 Geltung von Tarifvertragsrecht

(1) Für die Mindestarbeitsbedingungen gelten, soweit sich nicht aus dem Fehlen von Tarifvertragsparteien oder aus diesem Gesetz etwas anderes ergibt, die gesetzlichen Vorschriften über den Tarifvertrag sinngemäß.

(2) Tarifvertragliche Bestimmungen gehen den Mindestarbeitsbedingungen vor.

(3) Ein Verzicht auf entstandene Rechte aus den Mindestarbeitsbedingungen ist nur durch Vergleich zulässig. Er bedarf der Billigung der obersten Arbeitsbehörde des Landes oder der von ihr bestimmten Stelle.

§ 11 Auslagepflicht

(1) Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die für ihren Betrieb maßgebenden Mindestarbeitsbedingungen an geeigneter Stelle auszulegen, sowie jedem Arbeitnehmer auszuhändigen, dessen Arbeitsverhältnis durch die Mindestarbeitsbedingungen geregelt ist.

§ 12 Überwachung

Die oberste Aufsichtsbehörde des Landes hat für eine wirksame Überwachung der Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen Sorge zu tragen. Sie kann die Aufgaben der Überwachung anderen Stellen übertragen.

§ 14 Gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen

Das Land, vertreten durch die oberste Arbeitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle kann im eigenen Namen den Anspruch eines Arbeitnehmers aus Mindestarbeitsbedingungen gerichtlich geltend machen. Das Urteil gilt auch für und gegen den Arbeitnehmer.