Das globale Dorf wächst weiter zusammen:

Globalisierungsschub

Nimmt man die vorgegaukelte Realität der Medienwelt zum Maßstab könnte man hierzulande vielleicht auf die Idee kommen, Globalisierung sei out, von der Zeit überholt, nur ein weiteres inzwischen verblühtes Modethema, da die Heerscharen stromlinienförmiger TV-Plapperer längst weitergeflogen sind.
Das wirkliche Leben sieht allerdings etwas anders aus. Dort hat es 2004 einen regelrechten Globalisierungsschub gegeben. Das Internet und mit ihm die weltweite Kommunikation wächst unaufhaltsam weiter. Vor allem in Asien kamen dutzende Millionen neuer Nutzer hinzu. In China zum Beispiel werden bald mehr Menschen online sein, als im Heimatland des Netzes der Netze, den USA. Derweil entwickelt Indien sich immer mehr zur Welt-Software-Schmiede und dank verbesserter Satelliten- und Telefontechnik auch zum Call-Center des Globus. Nicht nur britische und US-amerikanische Firmen lassen ihre Kunden kostengünstig in Warteschleifen auf dem Subkontinent schmoren, auch deutsche Unternehmen beginnen, ihre internationale Kundenbetreuung durch billige indische Arbeitskräfte mit guten Englischkenntnissen abwickeln zu lassen.

Doch Kommunikation ist nur ein Aspekt der Globalisierung. Ein anderer ist der wachsende internationale Personenverkehr. Die Luftfahrtbranche hat sich von ihrem Terrorschock erholt, auf den Linienflügen muss man sich wieder zwischen seine Nachbarn quetschen, und die Orderbücher der Hersteller sind prall gefüllt. Letzteres insbesondere beim deutsch-französischen Flugzeugbauer EADS, der in diesem Jahr erstmalig den Erzrivalen aus Seattle, Boeing, überrunden konnte.
Allerdings ist die wachsende Mobilität genauso wie der Zugang zu den modernen Kommunikationsmitteln noch immer sehr partiell. Mehrere Milliarden Menschen werden durch wirtschaftliche, politische und kulturelle Barrieren ausgeschlossen. Während im globalen Maßstab die Zahl der Menschen wächst, die sich Auslands- und gar Fernreisen leisten können, ist die Mehrheit der Menschheit nicht nur bitterarm, sondern hat in den reichen Ländern von Singapur über Japan bis zu den USA und Westeuropa mit sich stetig weiter verschärfenden Einreisebedingungen zu kämpfen. In Singapur we rden Indonesier, die trotz abgelaufenem Visum im Lande bleiben, mit Stockhieben bestraft, in Südkorea macht man Jagd auf so genannte illegale Arbeiter, während an Europas Südküsten Flüchtlinge zu hunderten ertrinken und Australien sie auf verödete Südseeinseln ohne ausreichend Trinkwasser verbannt oder in abgelegene Wüsten in Internierungslager einsperrt.

Denn die Regierenden zwischen Canberra und Berlin, Brüssel und Washington, Seoul und Singapur mögen zwar die Globalisierung gerne beschwören und auf ihre angenehmen Seiten verweisen, im Sinn haben sie jedoch immer nur das eine: Die Wirtschaft, den Handel, das Interesse der jeweils eigenen Unternehmen. Und bei diesen knallte im ausgehenden Jahr mancher Champagnerkorken. Wiedereinmal ist der Welthandel mit voraussichtlich 10,2 Prozent deutlich schneller als das weltweite Sozialprodukt (plus vier Prozent) gewachsen. Damit setzt der grenzüberschreitende Warenaustausch nach dem Kriseneinbruch 2001 seine rasante Expansion fort, die Anfang der 1990er begonnen hatte. Die Tatsache, daß der internationale Handel seit nunmehr bald 15 Jahren schneller wächst als die Produktion ist ein wichtiges Indiz für die wachsende ökonomische Verflechtung. Ein anderes ist der nach wie vor historisch einmalig hohe Kapitalexport, mit dem die führenden Industriestaaten einander gegenseitig Durchdringen und Positionen in wichtigen Schwellenländern aufbauen. Passend dazu zeichnet sich derzeit in Nordamerika und vielleicht demnächst auch in Europa der Beginn einer neuen Welle von Mega-Fusionen und -Aufkäufen ab.

Nicht einmal der starke Ölpreis und die von der Talfahrt des US-Dollars verursachten Spannungen im internationalen Währungssystem konnten bisher den Aufschwung bremsen: „Hinter den steigenden Preisen für Öl und andere Rohstoffe steckt eine hohe Nachfrage, und die Märkte scheinen damit keine größeren Probleme zu haben“, kommentierte bereits Ende Oktober der thailändische Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Supachai Panitchpakdi. Motor dieser starken Nachfrage waren nicht mehr allein die nordamerikanischen Konsumenten, die nach wie vor kräftig auf Pump leben, sondern erstmalig auch das aufstrebende China. Für die nächsten Jahre sagen die meisten Prognosen bereits voraus, daß das Land der Mitte zur alleinigen Lokomotive der Weltwirtschaft wird.
Besonders bemerkenswert an der Situation ist der Sog, den China auf viele andere Entwicklungsländer ausübt. Der chinesische Boom hat nach zwei Jahrzehnten des Verfalls die Rohstoffpreise inzwischen auf historische Höchststände getrieben. Zu den Profiteuren gehören viele Entwicklungsländer, so daß deren Wirtschaft 2004 nach Angaben der Weltbank durchschnittlich um voraussichtlich 6,1 Prozent wuchs. Das ist ein Rekord für die letzten drei Jahrzehnte. Mit dazu beigetragen haben auch die deutlich gestiegenen Preise für Agrarprodukte, die bereits die Ernährung der Ärmsten gefährden, aber zum Beispiel für einige hundert Millionen bisher vom Boom abgeschnittener chinesischer Bauern neue Chancen eröffnen.

Die sozialen Bewegungen in aller Welt beobachten die Entwicklung indes mit gemischten Gefühlen. Zum einen stellt der Aufstieg von Ländern wie China, Indien und Brasilien mittelfristig die Supermacht USA in Frage. Die ist für viele nicht zuletzt wegen der anhaltenden Aggression im Irak der Hauptgegner, wie sich im Januar auf dem Weltsozialforum in indischen Mumbai und ein gutes halbes Jahr später beim europäischen Ableger in London gezeigt hatte. Bei beiden Gelegenheiten war einmal mehr zu spüren, daß aus der internationalen Bewegung der Globalisierungskritiker längst auch eine Antikriegsbewegung geworden ist. Auch am Rande des nächsten Weltsozialforum Ende Januar 2005 im brasilianischen Porto Alegre wird es wieder eine große Versammlung der globalen Friedensbewegung geben.
Zum anderen wissen Umweltbewegungen und Gewerkschaften in aller Welt nur zu gut, dass Wirtschaftswachstum nicht automatisch mehr Lebensqualität und Wohlstand bringt. Der Abbau von Erzen und Erdöl geht oft genug mit Raubbau an der Natur und den Lebensgrundlagen vieler Menschen einher, wovon Bauern und Fischer im Nigerdelta ein genauso leidvolles Lied singen können, wie ihre Kollegen im indonesischen Teil Neuguineas. Außerdem sind Bergbau und Ölfelder oft in den Händen ausländischer Konzerne, oder die Einnahmen werden für den Schuldendienst ausgegeben, so daß der Reichtum selten im Lande verbleibt. Ob also das jüngste Wachstum der Entwicklungsländer nachhaltig ist, wird vor allem davon abhängen, in wessen Taschen die Exporteinnahmen fließen, und ob sie in eine produktive und vielfältige Industrie investiert werden. Auch das wird für viele Bewegungen vor allen in den Ländern des Südens in den kommenden Jahren eine wichtige Frage sein und den Kurs der Globalisierung wesentlich bestimmen.

        (wop)