Linke im Zugzwang

Zum diesjährigen Treffen der Gewerkschaftslinken in Stuttgart kamen am vergangenen Wochenende über 300 statt der erwarteten 100 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Allein dies war schon ein Beleg dafür, dass es dringenden Bedarf dafür gibt.

Konkretisiert wurde dies im Einladungstext zum Kongress der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken: "Es ist in der Nachkriegsgeschichte beispiellos, in welcher Art und Weise Beschäftigte von Konzernen oder Arbeitgeberverbänden erpresst werden", hieß es da. Daimler-Chrysler, Siemens, Opel, Karstadt, VW seien "nur die schlagzeilenträchtige Spitze des Eisberges". Öffentliche Einrichtungen oder die Tarifgemeinschaft der Länder für den öffentlichen Dienst folgten ihrem Beispiel, und "die Gewerkschaften stehen diesen Angriffen mehr oder weniger hilflos gegenüber". Sie kämen "der zentralen Aufgabe, die Abwehrkämpfe überbetrieblich zu organisieren sowie auf die gesellschaftliche Ebene zu heben", nicht nach. "Ein dramatischer Verlust an politischem Einfluss ist die zwangsläufige Folge, ebenso wie die Bindung der Mitglieder an ihre Organisation zurückgeht. Weder sind Versuche, aus der Defensive herauszukommen, noch Ansätze zur Internationalisierung der Abwehrkämpfe sichtbar."

Dieser Analyse folgten wohl alle Teilnehmer. Auffallend und wichtig für die eigene Positionierung ist dabei, dass sich im Laufe der Jahre die Unterscheidung der "Gewerkschaftsführung" oder der "Gewerkschaftsbürokratie" von der Gewerkschaftsbasis bzw. den Gewerkschaftsmitgliedern durchgesetzt hat. Dies zeugt von der realistischen Einschätzung der Verhältnisse innerhalb des DGB, dokumentiert die eigene Distanzierung, macht Hoffnung auf die Überlebensfähigkeit der Gewerkschaftsbewegung. Es bedeutet aber keineswegs, dass alle Mitglieder den Kurs der Gewerkschaftsspitzen kritisieren oder diese gar, wie es so schön heißt, von ihnen an der Revolution gehindert würden. Entsprechend war auch zu dem Kongressmotto "Gewerkschaftspolitik jenseits von Standort- und Wettbewerbsfähigkeit!" kein durchgängiger Konsens zu erwarten.

So kann die Unzufriedenheit mit dem tarif- oder sozialpolitischen Gewerkschaftskurs bei den Kongressteilnehmern als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Erstmals traf auch die Feststellung, die Führungen würden nicht nur die erwünschte Politik unterlassen, sondern "uns aktiv in den Rücken fallen", kaum auf Widerspruch. Die naheliegenden Konsequenzen daraus machen vielen noch Angst, bleiben unausgesprochen oder weichen der Sorge um die befürchtete Spaltung der Gewerkschaftsbewegung.

Ähnlich verhält es sich mit der seit langem beklagten Politik der "Standort- und Wettbewerbsfähigkeit", deren Kritik in nur wenigen Fällen zu faktischen Konsequenzen in Betrieb oder Gewerkschaft geführt hat. Aus Wissen um den hier fehlenden Konsens wird die Systemfrage nur am Rande angesprochen, während andere Teilnehmerkreise auf die Wiederkehr des Fordismus und die Wiederbelebung der Sozialpartnerschaft hoffen. Zwar wird einhellig der Konkurrenz die internationale Solidarität entgegengestellt, in der praktischen Umsetzung bei den Kämpfen des Jahres 2004 muss sich aber auch die Gewerkschaftslinke Kritik gefallen lassen.

Aus dieser Kritik folgen unterschiedliche Lösungsansätze. Oft angesprochen und breit diskutiert wurde die Notwendigkeit einer stärkeren Profilierung und strafferen Organisierung der Gewerkschaftslinken, um in den Gewerkschaften mehr Einfluss zu gewinnen und bei sozialen Protesten gemeinsam aufzutreten. Muss jedoch dafür der Arbeitsausschuss der Vernetzungsinitiative eine formalere, gewählte Form erhalten? Oder ist es nicht sinnvoller, verstärkt örtliche bzw. regionale Gruppen auf- und auszubauen? Bisher delegieren alle in der Vernetzungsinitiative beteiligten Gruppen einen Vertreter in den Arbeitsausschuss als Koordinierungsgremium - der Ausbau dieser Basis würde die Gewerkschaftslinke stärken und zugleich das Gremium bereichern, ohne hieraus einen handlungsunfähigen "Kopf ohne Körper" zu machen.

Ähnlich kontrovers kann der erneute Ruf nach einer "Plattform" der Gewerkschaftslinken diskutiert werden. Einer solchen Plattform-Debatte soll sich ein zweiter Kongress in der Mitte des Jahres widmen.

Unter dem Label "Plattform-Debatte" besteht immerhin eine Möglichkeit, die überfällige inhaltliche Diskussionen zu führen, die leider auch bei diesem Kongress nur in Nebensätzen ihre kontroverse Brisanz durchblicken ließen. Dazu zählen neben der angesprochenen Systemfrage u. a. der Umfang der unhinterfragt notwendigen Arbeitszeitverkürzung, die Höhe des zu fordernden Mindestlohns ebenso, wie die Höhe der akzeptierten Forderung nach einem Grundeinkommen für alle. Noch brisanter dürfte die Frage nach der Bedingungslosigkeit dieses Grundeinkommens werden. Sie macht jenseits aller Schlagwörter die Positionierung zu den "Aussortierten" dieser Gesellschaft deutlich. Interessant könnte nicht zuletzt auch die Debatte um Probleme wie öffentlicher Dienst, öffentliche Güter und Bürgerrechte werden. Sie müssen dringend - auch in den regionalen Gruppen - geführt werden.

Mag Wompel aus junge welt vom 22.01.2005