Weltsozialforum:

Der Traum von einer anderen Welt

Im brasilianischen Proto Alegre ging am 31. Januar das V. Weltsozialform (WSF) zu Ende. Wie bereits im Vorjahr spielten der US-Krieg gegen den Irak und das israelische Besatzungspolitik in Palästina eine herausragende Rolle in den Diskussionen und verschiedenen Aktionen auf dem weitläufigen Forumsgelände, das eine Zeltstadt für weit über 100.000 Teilnehmer und Besucher beherbergte. (Die Organisatoren sprechen von 150.000 Teilnehmen und Besuchern.) „Man kann nicht vom Aufbau einer anderen Welt sprechen, ohne den Krieg der USA und die Drohungen gegen den Iran, Kuba, Nordkorea und Venezuela anzuprangern“, bringt Medea Benjamin von Cod Pink, einem US-amerikanischen Frauen-Friedensnetzwerk, die Stimmung auf den Punkt. Auch die Solidarität Venezuela und Kuba, die von den USA bedroht werden, spielte auf dem naturgemäß von der lateinamerikanischen Teilnehmern dominierten Forum eine große Rolle. Entsprechend hat sich die Versammlung der sozialen Bewegungen zum Abschluss des WSF auf globale Aktionstage gegen Krieg und Besatzung am 20.März geeinigt. Einiges deutet daraufhin, dass die Mobilisierung gegen den US-Krieg in Nahost neuen Schwung bekommen wird. Etwas ärgerlich war allerdings der aktionistische Überschwang, der vor allem von der trotzkistischen Sozialistischen Arbeiterpartei (SWP, Mutterorganisation der deutschen Gruppe “Linksruck”) aus Großbritannien und ihren diversen Satelliten in die Versammlung getragen wurde. Das führte unter anderen zu so irreführenden Einschätzungen wie, dass es heute mehr Opposition denn je zuvor gegen die US-Aggression gebe, die sich im Aufruf der Anti-Kriegsversammlung findet. Diese hatte sich am Rande des Forums getroffen und den einen entsprechenden Vorschlag für die Versammlung der sozialen Bewegungen erarbeitet.
 
 


 

Unüberschaubar

Eine wichtige Rolle wird für die sozialen Bewegungen auch die Ministertagung der Welthandelsorganisation WTO spielen. Zu dem Treffen der Freihändler, das im Dezember in Hongkong stattfindet, wird vor allem in Ost- und Südostasien stark mobilisiert werden. Desweiteren rief die Versammlung auf, sich auch an den Protesten der indigenen Völker und des Welfrauenmarsches zu beteiligen. Der soll am 8.März in Brasilien starten und am 17. Oktober in Burkina Faso enden. Thema wird unter anderem der Kampf gegen Frauenhandel sein.

Rund 2400 Diskussionsrunden, Workshop und ähnliches hat es in diesem Jahr gegeben, wobei diesmal weitgehend auf zentrale Großveranstaltungen verzichtet wurde, sieht man einmal von der Auftaktdemo mit mindestens 150.000 Menschen und anschließendem Konzert ab. In den Veranstaltungen ging es um Themen wie Menschenrechte, Privatisierung der Waserversorgung, Solidarität mit den Tsunami-Opfern, gewerkschaftliche Kämpfe, Probleme der Kleinbauern mit Freihandelsabkommen, um die drohenden und aktuellen Kriege von Kolumbien bis Tschetschenien, von Palästina über Irak bis Nordkorea und vieles, vieles mehr. Zu viel, um hier einen objektiven Überblick zu geben.

Herausgegriffen sei zum Beispiel eine größere Podiumsdiskussion, auf der sich Literatur-Nobelpreisträger José Saramago aus Portugal, der uruguayische Autor Eduardo Galeano, der ehemalige UNESCO-Direktor Federico Mayor aus Spanien, der brasilianische Minister für besondere Aufgaben Luiz Dulci und der Herausgeber der internationalen Zeitung Le Monde Diplomatique Ignacio Ramonet vor rund 3000 Zuschauern Gedanken über Utopien und die Zukunft der sozialen Bewegungen. Während Saramago nur Notwendigkeiten gelten lassen wollte und meinte, Utopien hätten für die Armen dieser Welt keine Bedeutung, beharrte Galeano darauf, daß dieser Begriff seit Thomas Moores Buch „Utopia“ für den „Traum einer anderen Welt, in der es weder Mein noch Dein gibt“, steht und deshalb nicht aufgegeben werden sollte. Ramonet wurde indes praktischer und schlug der Versammlung einen Fünf-Punkte-Konsens für das WSF vor: Eine weltweite Steuer für die Bekämpfung des Hungers, Schließung der Steueroasen, Streichen der Schulden der Entwicklungsländer, sauberes Trinkwasser für alle und eine internationale Solidaritätssteuer auf die größten Vermögen. Der Vorschlag erntete tosenden Applaus, doch die Frage bleibt, wie er auf einem derartig großen Ereignis wie dem WSF diskutiert werden kann und weshalb der Kampf gegen den Krieg fehlt. Ramonet gehörte auch zu den Unterzeichnern eines erweiterten programatischen Vorschlages, der von 19 Prominenten zum Ende des Forums veröffentlicht wurde. Der viel auf ein geteiltes Echo. Neben dem Fehlen von Forderungen gegen die Besetzung des Iraks wurde vor allem kritisiert, dass der Vorschlag dem Forum übergestülpt werde.

Kritik an Lula

Auf der erwähnten Podiumsdiskussion wurde unterdessen Luiz Dulci reichlich ausgebuht, als er versuchte, die Politik seiner Regierung zu verteidigen. Nach zwei Jahren im Amt ist sein Regierungschef Luis Inacio „Lula“ da Silva von der linken Arbeiterpartei PT inzwischen bei Brasiliens sozialen Bewegungen nicht mehr besonders beliebt. Er regiere im Interesse der Reichen, heißt es zum Beispiel bei der Gewerkschaft der Justizangestellten. Sein Programm der Hungerbekämpfung sei gescheitert. Auch unter ausländischen WSF-Teilnehmern regte sich Widerspruch. Lula sei der „Liebling Washingtons“, meinte Walden Bello, Direktor des globalisierungskritischen Instituts Focus on the Global South in Bangkok. „Lula hat sich zum Partner von EU und USA gemacht und die WTO-Verhandlungen wieder in Gang gesetzt.“

Im Anschluss an das Forum trafen sich Vertreter von rund zwei Dutzend radikal-sozialistischen Parteien aus aller Welt zum Meinungsaustausch. Gekommen waren Parteien, die verschiedenen internationalen trotzkistischen Strömungen angehören, aber auch viele, die nicht in dieses Schema passen, wie der portugiesische Linksblock oder die Revolutionäre Arbeiterpartei von den Philippinen. Zum ersten Mal hatte man sich vor einem Jahr am Rande des Weltsozialforums in Mumbai (Bombay) getroffen. Die Initiative war seinerzeit von der Europäischen Antikapitalistischen Linken, einem vergleichbaren Parteienbündnis in Europa, und der Kommunistischen Partei Indiens/Marxisten-Leninisten ausgegangen.
 
 

Schwerpunkt Krieg

In der Diskussion zeigte sich, dass die Gewichte unterschiedlich gesetzt werden. Während Chris Harmann von der SWP den Widerstand gegen den Krieg im Irak zum zentralen Anliegen aller machen wollte, wiesen verschiedene andere Parteien auf die Rolle der aktuellen Verteidigungskämpfe der Lohnabhängigen hin, ohne damit die herausragende Bedeutung des Kampfes gegen die US-Aggressionen in Frage stellen zu wollen.

Die meisten Anwesenden - darunter Vertreter aus Thailand, Südkorea, Griechenland, Chile, Südafrika und verschiedenen westeuropäischen Ländern - waren sich einig, dass beim diesjährigen Forum die antikapitalistische Stimmung eher zugenommen habe. Andere wie Harmann sehen reformistische Kräfte am Werk, die den Foren den antikapitalistischen Zahn ziehen wollen. Als Beleg nannte er dafür unter anderem die Kritik an der Durchführung des Europäischen Sozialforums in London. Die war allerdings vornehmlich aus der linken, antikapitalistischen Ecke gekommen, womit Harmann mit seinem Ausfall wiedereinmal belegt, dass die SWP mit Kritik an ihren autoritären Methoden nicht sachlich umzugehen versteht.

Einig war man sich hingegen in der Verurteilung der Angriffe der Kommunistischen Partei der Philippinen auf die übrige revolutionäre Linke des Landes, die bereits zu mehreren politischen Morden geführt haben. “Gewalt, insbesondere militärische, in innerlinken Auseinandersetzungen ist unakzeptabel”, heißt es in einer verabschiedeten Erklärung. Ansonsten verabredete man, die Kommunikation untereinander zu verstärken und eventuell im nächsten Jahr eine internationale Konferenz abhalten zu können.

Zukunft des Forums

Indes wird das Weltsozialforum 2006 zum ersten Mal dezentral abgehalten. Ursprünglich hatte der Internationale Rat des Forums, in dem rund 130 Organisationen aus aller Welt vertreten sind, beschlossen, erst 2007 wieder zu tagen, und zwar in Afrika. Jetzt setzte sich jedoch vorerst die Ansicht durch, man dürfe angesichts der Barbarei von Krieg und Neoliberalismus nicht nachlassen. Entsprechend werden in einem Jahr auf verschiedenen Kontinenten simultan Foren abgehalten, die über Videokonferenzen und ähnliches miteinander kommunizieren sollen. Bisher steht nur Caracas als Austragungsort fest, die anderen werden auf der nächsten Ratssitzung im April festgelegt. In der Diskussion sind unter anderem Marokko, Indien und Pakistan.

Die Dezentralisierung ist sicherlich zu begrüßen. Sie mindert die Reisekosten, sie macht den Forumsprozess vielfältiger und damit (noch) weniger steuerbar für Prominente und Strategen aller Art, und vor allem macht sie die Foren zugänglicher für die Basis der sozialen Bewegungen aus aller Welt. Die hat nämlich in Porto Alegre – sieht man einmal von Lateinamerika ab – weitgehend gefehlt. Einmal mehr waren in Porto Alegre Osteuropa, Asien und Afrika extrem unterrepräsentiert. Nur kleine Delegationen waren aus einigen afrikanischen Ländern oder von den unglaublich vielfältigen sozialen Bewegungen Indiens vertreten. Aus China, dem bevölkerungsreichsten Land des Planeten, das zu dem schon bald zum bestimmenden Faktor der Weltwirtschaft werden dürfte, war nur eine Hand voll Akademiker gekommen. In die meist benutzte Sprache des Planeten, Putonghua (Hoch-Chinesisch), wurde nicht einmal übersetzt. Ohne Zweifel war Porto Alegre wiedereinmal vor allem ein Forum der europäischen Sprachen, der Bewegungen Westeuropas sowie Nord- und Südamerikas.

Das ist nicht leicht zu ändern, denn wer kann sich in einer Welt, in der noch immer täglich abertausende Kinder an Armut, Hunger und schmutzigem Wasser sterben, einen Flug um die halbe Welt leisten? Diejenigen, die die Subjekte der „anderen, möglichen Welt“ sein müssen, meist nicht. Aber die Dezentralisierung könnte die Repräsentativität deutlich verbessern. Ein Teilforum im Maghreb (Nordwestafrika) könnte zudem einen wertvollen Brückenschlag zwischen den sozialen Bewegungen der arabischen Welt, von denen in Porto Alegre ebenfalls kaum etwas zu sehen war, und Europa bilden.

In Porto Alegre macht sich indes bei dem Einheimischen ein wenig Beklemmung breit. Sollte es tatsächlich das letzte Forum in der südbrasilianischen Metropole gewesen sein? Immerhin ist das Großereignis nicht nur ein Wirtschaftsfaktor gewesen, sondern auch ein zugkräftiger kultureller und politischer Magnet, mit dem die Linke gesellschaftliche Akzente in der Region setzen konnte. So sehr, dass die bürgerliche Regierung der Stadt, die die Arbeiterpartei im Winter abgelöst hatte, nicht im Traum daran dachte, das Forum zu behindern. Schade wäre es auch um das erhebliche technische und organisatorische Know-how, das mit den Foren in Porto Alegre und Umgebung durch die Foren angehäuft wurde und in diesem Jahr für einen nahezu reibungslosen Ablauf sorgte, sieht man einmal von den üblichen Problemen mit der Übersetzungstechnik ab. Aber vielleicht kann die Stadt ja eines der nächsten lateinamerikanischen Sozialforen an die Ufer des Lago Guaibo holen, oder Brasilien organisiert ein nationales Forum, als das die Weltsozialforen bisher insgeheim mitfungiert haben. Und mancher Foren-Bummler wird es sicherlich begrüßen, wenn in einigen Jahren, nach Afrika und vielleicht Asien auch mal wieder ein Weltforum in der hektischen aber liebenswerten Metropole der Gauchos zu Gast ist.

 (wop)