Frankreich:

Erfolgreiche Streik- und Aktionstage

Einfach und klar war die Botschaft, die ein Demonstrant auf einem Pappschild vor sich hertrug: "La concurrence n'est pas la solidarité". Dass Konkurrenz und Solidarität nicht dasselbe sind, dachten wohl auch die anderen 80.000 Mitdemonstranten in Paris und die 800.000 in ganz Frankreich, die anlässlich des Streik- und Aktionstags gegen Arbeitszeitverlängerung und sozialen Kahlschlag am 10. März auf der Straße waren.
 

Es handelte sich um Gewerkschafter aus den öffentlichen Diensten, die gegen Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Bildungswesen oder im Transportsektor protestieren und bessere Löhne einfordern. Um Streikkomitees aus der Privatwirtschaft: Derzeit finden größere Ausstände beim Automobilkonzern Citroën und in der Möbel-Kaufhauskette Castorama statt, um gegen Niedriglöhne und (in den Automobilwerken, wo seit dem 3. März gestreikt wird) auch gegen rassistische Diskriminierungen zu kämpfen. Und auch viele Kritiker der neoliberalen EU-Verfassung, über die am 29. Mai dieses Jahres in Frankreich abgestimmt wird, sind bei den Demonstrationen vertreten. Denn statt auf Solidarität zwischen den Bevölkerungen der nunmehr 25 Mitgliedsstaaten basiert die Logik dieses Verfassungsvertrags eben genau auf einer wirtschaftlichen Konkurrenz, die verallgemeinert und auf bisher noch relativ geschützte gesellschaftliche Bereiche ausgeweitet werden soll. Übrigens zeichnet sich seit kurzem in den Umfragen erstmals eine mögliche Mehrheit für das "Nein" ab: In einer am 18. März veröffentlichten Umfrage hatten die ablehnenden Stimmen erstmals (mit 51 zu 49 Prozent) einen Vorsprung gegenüber den Zustimmungs-Voten, bei über 40 Prozent Enthaltung. Zwei Tage später publizierte Meinungsbefragungen bestätigen diesen Trend.
 
 

Die Regierung will über Löhne verhandeln...

Als Reaktion auf die wachsenden Proteste hat Premierminister Jean-Pierre Raffarin nunmehr angekündigt, am 22. März Lohnverhandlungen in den öffentlichen Diensten aufzunehmen. Zu Jahresbeginn hatte der Minister für den öffentlichen Dienst, Renaud Dutreil, eine Lohnerhöhung für die Staatsangestellten um 0,5 Prozent angekündigt; weitere 0,5 Prozent sollten im November 2005 folgen. Nunmehr will der konservative Regierungschef Raffarin noch über ein weiteres Prozent Anhebung mit sich reden lassen, wie er ankündigte: "Das wirtschaftliche Wachstum hat uns nunmehr einen kleinen Spielraum verschafft", rechtfertigte er sein Einschwenken.

Seit Beginn dieses Jahrzehnts ist die Kaufkraft, gemessen an der Entwicklung der Verbraucherpreise und vor allem der Mieten, nach gewerkschaftlichen Berechnungen um 5 Prozent im öffentlichen Dienst und bis zu 12 Prozent in der Privatindustrie gesunken. Dabei wirkte anfänglich die Euro-Einführung mit den bei dieser Gelegenheit durchgeführten Preiserhöhungen als Katalysator, aber dabei ist es keineswegs geblieben. Verantwortlich für den Kaufkraftverlust ist vor allem die Explosion der Mietpreise in Frankreich (+4,58 Prozent allein im Jahr 2004!), aber auch der Anstieg der Kosten für zahlreiche öffentliche Dienste von der Briefmarke (+15,2 Prozent seit 2001) über die öffentlichen Transportmittel (+13,6 Prozent seit 2001) bis zu den Wasserpreisen.

...der Kapitalistenverband  MEDEF aber nicht!

Den MEDEF, der hauptsächliche Arbeitgeberverband in Frankreich (vor 1998: CNPF), kümmert die Besorgnis der Regierung um eine gewisse innenpolitische Beruhigung unterdessen aber nicht. Er klagt vielmehr offen die Regierung an, sich aufgrund des heranrückenden französischen Referendums über die Annahme oder Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags zu populistischen und unvernünftigen (da teuren) Entscheidungen hinreißen zu lassen.

Der derzeit noch amtierende MEDEF-Vorsitzende ist der Baron Ernest-Antoine de Seillière; er wird am 21. März voraussichtlich an die Spitze des EU-weiten Arbeitgeberverbands Unice aufrücken und deswegen sein französisches Amt ab Sommer räumen. Am 15. März äußerte sich in einem Interview mit der Pariser Abendzeitung "Le Monde". Darin ließ de Seillière sich in selbst für seine Verhältnisse ungewohnter Arroganz aus. Von den drei JournalistInnen, die ihn interviewten, gehören übrigens zwei zur radikalen Linken, was dem Baron aber vielleicht nicht bekannt war.

Eine allgemeine Lohnerhöhung, so verlautbarte der Baron dabei, komme nicht in Frage, da die Situation der Unternehmen ("ihre Erfolge, ihre Märkte, ihre Konkurrenzsituation") nun einmal unterschiedlich sei. Deswegen komme für jene Unternehmen, die nicht "das Gefühl haben, dass ihre (jetzigen) guten Ergebnisse von Dauer sein werden" (O-Ton Ernest-Antoine de Seillière), statt einer Lohnerhöhung eher eine Beteiligung an den Unternehmensgewinnen in Form von Erfolgsprämien - die total von den Unternehmensprofiten abhängig sind ­ in Betracht. Nun, welcher Arbeitgeber hätte nicht das Gefühl, dass seine Profite in Zukunft bedroht sein könnten?
 

An anderer Stelle jedoch hatte der Baron, zu Anfang desselben Interviews, noch strikt gegen das Gefühl und für eine so genannte rationale Betrachtungsweise plädiert. Nämlich mit den Worten: "Seit 1999 haben die abhängig Beschäftigten das Gefühl (!), dass die Preissteigerung die Inflation übersteige." Soweit O-Ton; was der MEDEF-Chef sicherlich meinte, aber vielleicht nicht so ausdrücken wollte, war dagegen, dass die Preissteigerung jene der Löhne übersteige... Und weiter: "Dieses Gefühl ist ein bedeutendes soziales und politisches Phänomen. Es geht nicht darum, es zu bestreiten. Aber das Unternehmen kann sich damit nicht begnügen, es muss die Realität betrachten." Das soll ungefähr so viel bedeuten wie: Der Pöbel soll endlich von seinen irrationalen Gefühlsaufwallungen, denen zufolge seine Kaufkraft sinkt, ablassen und den Experten "des Unternehmens" vertrauen, denn die können die wirtschaftliche Realität interpretieren...

Die Regierung von Jean-Pierre Raffarin, so beklagte sich der Baron de Seillière ferner, habe eine schöne Gelegenheit quasi vergeigt: "Wir hatten erwartet, dass die zweite Hälfte der Wahlperiode (Anm.: also Ende 2004 bis 2007) eine Reformpolitik erlauben würde, die umso leichter fallen würde, als keine Wahlen anstanden, die sie hätten blockieren können." Denn die nächsten Wahlen sind erst wieder die Präsidentschafts- und folgenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2007. Also genügend Zeit, um soziale Grausamkeiten zu begehen und sie kurz vor den Wahlen wieder vergessen zu machen... Der Baron weiter: "Aber jetzt gibt es einen neuen Wahltermin, nämlich das Referendum. (...) Es scheint offenkundig, dass das Referendum heute die Regierung dazu bringt, im Jahr 2005 nicht die Politik durchzuführen, die sie im Sinn hatte."
 
 

Die Taktik der konservativen Regierung

Tatsächlich hat das angekündigte "Ballastabwerfen" (Chirac) hinsichtlich der Lohnpolitik im öffentlichen Dienst damit zu tun, dass Chirac und Raffarin den Ausgang der Volksabstimmung über die neoliberale EU-"Verfassung" auf keinen Fall gefährdet sehen wollen. Seit Wochen macht sich tatsächlich in Kreisen des Establishments die Sorge breit, die wachsende soziale Unzufriedenheit im Lande könne auch auf die Abstimmung durchschlagen.
Die Regierung setzt im Moment allem Anschein nach auf eine doppelte Taktik. So soll die derzeitige "Front der Unzufriedenen" aufgebrochen werden, indem den öffentlich Bediensteten einige Zugeständnisse gemacht werden. Die Beschäftigten in der Privatwirtschaft, die über einen weit schlechteren gewerkschaftlichen Organisationsgrad verfügen, werden dabei wesentlich ungünstiger dastehen. Aber auch in den öffentlichen Diensten ist nicht an soziale Wohltaten gedacht. Vielmehr läuft die Taktik der Regierung darauf hinaus, die absehbaren geringfügigen Gehaltserhöhungen mit einer Akzeptanz der so genannten "Modernisierung der Staatsfunktionen" durch die Gewerkschaften zu verknüpfen. Dabei geht es vor allem um eine erhöhte Flexibilität der Beschäftigten, die zukünftig zu Personaleinsparungen beitragen kann.

Was die Situation im Privatsektor betrifft: Am 18. März hat die Regierung die Arbeitsgruppe "Lohnpolitik" der Nationalen Tarifkommission ­ in der auch die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften sitzen ­ einberufen. Das Treffen endete jedoch nahezu ergebnislos, da die Arbeitgeberverbände (d.h. vor allem der MEDEF und die Mittelständler-Vereinigung CGPME) zu keinerlei Zugeständnisse bereit waren. Die Regierung ermahnt nunmehr das Arbeitgeberlager, in jenen Branchen, wo seit langen Jahren überhaupt keine Lohnverhandlungen stattgefunden haben ­ wie in den Supermärkten, in den Autobahngesellschaften und dem Verlagsgewerbe ­ welche zu eröffnen. Ansonsten ist eine weitere Diskussion auf nationaler Ebene auf den 10. Juni vertagt. Also auf "nach dem Referendum verschoben", wie Le Monde treffend titelt (die Volksabstimmung findet Ende Mai statt). Anders ausgedrückt, die Debatte wird dann wieder aufgenommen, wenn für die Regierung nichts mehr anzubrennen droht. Diese vertröstet einstweilen auf Gespräche zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in den einzelnen Branchen, die in der Zwischenzeit stattfinden sollen. Die CGT-Vertreterin in der Tarifkommission, Maryse Dumas, erklärte jedoch nach dem ergebnislosen Treffen vom 18. März, die Arbeitgebervertreter hätten klar zu erkennen gegeben, dass sie über nichts ernsthaft zu verhandeln gedenken. Die beiden Gewerkschaftsbünde CGT (ehemals KP-nahe) und FO (eher populistisch) erklärten sich im Anschluss "enttäuscht". Die CGT-Vertreterin Dumas rief die Lohnabhängigen dazu auf, "sich das nicht gefallen zu lassen", denn "die Beschäftigten wollen mehr Geld, die Regierung aber mehr Zeit gewinnen". Dagegen zeigte die sozialdemokratische und pro-neoliberale CFDT sich erst einmal beruhigt und bekundete ihr Vertrauen in die künftigen Gespräche auf Branchenebene. "Es wäre unseriös, schon wieder auf die Straße gehen, erst müssen wir (gemeint: die Verhandlungsexperten) arbeiten" erklärte ihr Vertreter Rémi Jouan.

Ob es der konservativ-liberalen Regierung gelingen wird, damit die sozialen Proteste zu "beruhigen", ist momentan eine offene Frage.

 (Bernhard Schmid, Paris)