Die Kirche und die Judenverfolgung:

Herbeifantasierte „Rassen“

Am 8. Mai jährt sich zum 60. Mal die Befreiung vom Faschismus, der endgültige Zusammenbruch des Nazi-Regimes, das, nachdem es die deutsche Arbeiterbewegung blutig unterdrückte, ganz Europa und Nordafrika mit Krieg überzogen hatte. 55 Millionen Menschen starben in diesem Inferno. Etliche Millionen davon waren Zivilisten, die dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer fielen. Geistig und körperlich Behinderte, Sinti und Roma (Zigeuner, wie sie in Deutschland lange abfällig genannt wurden), Polen, Serben und Russen, die deutschen Expansionsplänen im Wege waren und vor allem sechs Millionen Juden in den Massakern, die deutsche Spezialeinheiten in Osteuropa anrichteten und in Vernichtungslagern wie Auschwitz.

Unter den Opfern waren auch viele deutsche Juden, Menschen, die zum Beispiel seit Generationen hier in Kiel gelebt hatten, die von der Mehrheit der Bevölkerung nichts weiter unterschied, als ihre Religion, oder nicht einmal das. Es reichte schon jüdische Großeltern zu haben, um auf die Todeslisten der Nazis zu gelangen. Wir sprachen mit dem Kieler Historiker Stephan Linck über die unrühmliche Rolle der christlichen Kirchen bei der Erfassung der Menschen, die sich schon bald auf den Transporten in die Konzentrationslager wiederfanden, wenn ihnen nicht mehr rechtzeitig die Flucht ins rettende Ausland gelang.(wop)

LinX: Der allergrößte Teil der deutschen Juden war 1933 seit vielen Generationen voll in die deutsche Gesellschaft integriert. Wie konnten die Nazis überhaupt ihre Listen erstellen, mit denen Juden und solche, die sie dafür hielten, erst aus vielen Arbeitsplätzen entfernt und später dann deportiert werden konnten?

Stephan Linck (S.L.): Zum einen hatte man in den Finanzämtern ja die Religionszugehörigkeit erfasst und konnte bei den Synagogen Listen der Gemeindemitglieder anfordern. Dann gab es 1933 eine allgemeine Volkszählungen, bei der die Frage nach der Religionszugehörigkeit gestellt wurde. Aber damit erfasste man die vielen Menschen, die sich nicht mehr wie ihre Vorfahren zur jüdischen Religion bekannten, nicht. Also gab es 1939 eine zweite Volkszählung, bei der auch die Herkunft, das heißt die sogenannte Rassezugehörigkeit abgefragt wurde. Beide hatten eindeutig zum Ziel, die jüdische Bevölkerung zu erfassen.

LinX: Nun war 1939 längst klar, dass die Nazis wirklich Schlimmes vor hatten, auch wenn viele – auch der späteren Opfer – sich immer noch nicht vorstellen konnten, dass es wirklich zum großen Massenmord kommen würde. Wieso haben die Menschen also ihre Vorfahren angegeben?

S.L.: Weil die Daten inzwischen nachprüfbar waren. Bei der zweiten Volkszählung wurden tatsächlich mehrere Hunderttausend Menschen im Deutschen Reich als “Juden“, “Halbjuden“ oder “Vierteljuden“ erfasst, als Menschen also, die von den Nürnberger Rassegesetzen betroffen waren, die 1933 oft gar nicht gewusst hatten, dass sie jüdischer Herkunft waren. Es gibt zahlreiche Berichte von Jugendlichen, die sich für ganz normal deutsch und meist auch christlich gehalten hatten, und von ihrer Herkunft gar nichts wussten.

LinX: Sie wurden also zu Juden gemacht, könnte man sagen.

S.L.: Ja. Es wurde eine Volkszugehörigkeit herbeifantasiert, die nur sehr schwer zu greifen ist. Sofern es um die Juden ging, waren es zumeist Menschen, die seit gut hundert Jahren eine deutsche Identität hatten, sich also als Deutsche jüdischer Religionszugehörigkeit ansahen und voller Begeisterung im Ersten Weltkrieg „für Kaiser und Reich“ kämpften. Das Nationalbewusstsein dieser Menschen war seit Generationen ganz eindeutig deutsch. Darüber hinaus waren viele vollständig assimiliert, das heißt sie hatten keine Beziehung mehr zur jüdischen Religion. Vielfach waren bereits ihre Eltern oder Großeltern zum Christentum übergetreten.

LinX: Aber wie konnte man diese Menschen überhaupt erfassen? Weshalb haben sie in der Volkszählung nicht einfach ihre Vorfahren verschwiegen?

S.L.: Die Nationalsozialisten haben bereits 1933 im sogenannten “Berufsbeamtengesetz” festgelegt, dass jeder, der weiter beschäftigt werden will, nachweisen muss, dass er “Arier“ ist. Die Frage war, wie man das nachweisen konnte. Alle Versuche mit Schädelvermessungen und ähnlichen pseudowissenschaftlichen Verfahren schlugen fehl. Die von den Nazis herbeifantasierten “Rassen“ ließen sich absurder Weise nur über die Religionszugehörigkeit nachweisen. Hier kommen die Kirchenbücher ins Spiel, in denen festgehalten war, wer einst vom Judentum zum Christentum übergetreten war. Anhand derer konnten jüdische Vorfahren nachgewiesen werden.

LinX: Wie sah es mit der Kooperationsbereitschaft der Kirchen aus? Hat man die Bücher bereitwillig herausgegeben?

S.L.: Ja, so wie es insgesamt 1933 in den evangelisch-lutherischen Kirchen eine sehr große Zustimmung zum Nationalsozialismus gegeben hatte. Viele Pastoren haben neben ihrer normalen Arbeit nächtelang über den Büchern gesessen und Abstammungsnachweise ausgefüllt, die, wie bereits erwähnt, ab 1933 verlangt wurden, wenn man seine Beamtenstelle behalten wollte. Es zeigte sich allerdings sehr bald, dass die Pastoren in den Gemeinden mit der anfallenden Arbeit überfordert waren, also hat man zentrale Kirchenbuchstellen eingeführt. Da hat man dann mit großen Personalaufwand die “Ariernachweise” ausgefüllt. In kirchlicher Regie.

LinX: Man kann also zusammenfassen, dass die Ausgrenzung der Juden bzw. “Juden“ und die schließliche Ermordung derjenigen, die nicht rechtzeitig das Weite suchen konnten, nur aufgrund der tatkräftigen Zuarbeit der Kirchen möglich war.

S.L.: Ja. Insofern der säkuralisierte Teil des deutschen Judentums bzw. die Christinnen und Christen jüdischer Herkunft gemeint sind, kann man das sagen. Die Identifizierung  dieser Personen war nur durch die kirchliche Zuarbeit möglich und liegt in der Verantwortlichkeit der Kirche. Das war den Handelnden zunächst nicht bewusst, aber der übersteigerte Nationalismus der Nazis stieß in den evangelischen Kirchen auf einen vollständigen Konsens.

Stephan Linck ist Mitherausgeber des gerade erschienenen Buches “Eine Chronik gemischter Gefühle”. Bilanz der Wanderausstellung Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933 – 1945. Das Buch wurde von der Edition Temmen in Bremen herausgebracht und kostet 12,90 Euro.
 
 

“Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen” (1543; hier das Titelblatt einer "Volksausgabe" von L. Parisius) - Im Jahr 1938 gab Landesbischof Sasse aus Eisenach die Schrift neu heraus unter dem Titel "Martin Luther über die Juden - Weg mit ihnen!" Im Vorwort schreibt der evangelisch-lutherische Landesbischof: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird ... die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der Gott gesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden."
Quelle: www.theologe.de