60. Jahrestag der Befreiung:

Nazi-Fluchtburg

Als 1950 die CDU zum ersten Mal in Schleswig-Holstein die Landesregierung stellte (an der sie dann für die nächsten 37 Jahre festhalten konnte), gab es nur einen einzigen Minister, der nicht der NSDAP angehört hatte. Das war ken Zufall: Schleswig-Holstein war bereits lange vor 1933 eine Hochburg der Nazis gewesen, insbesondere auch die Kieler Uni, und nach dem Krieg waren in Schleswig-Holstein besonders viele Nazis abgetaucht. Wir sprachen mit dem Kieler Historiker Stephan Linck, wie es dazu gekommen war. (wop)

LinX: Wie kam es zu der hohen Nazi-Dichte im Nachkriegs Schleswig-Holstein?

Stephan Linck (S.L.): Es gab mehrere Ursachen: Zum einen hatte es schon vor 1933 in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein klare Mehrheiten für die NSDAP gegeben. Das lag unter anderem daran, dass die starke Landvolkbewegung hierzulande frühzeitig von den Nationalsozialisten dominiert wurde. Zum anderen war 1945 eine sehr ungewöhnliche Situation in Schleswig-Holstein entstanden: Die Bevölkerung hatte sich durch Flüchtlinge aus dem Osten fast verdoppelt, außerdem gab es im Frühjahr 1945 eine Art Machtvakuum. Die Briten, zu deren Besatzungszone Schleswig-Holstein gehörte, ließen eine Teilkapitulation zu. In der Folge wurde die Wehrmacht, insgesamt eine Million Soldaten, in größeren Regionen wie der Halbinsel Eiderstedt und dem Kreis Ostholstein interniert. Das waren große Menschenmengen, in denen man leicht untertauchen konnte, wobei Teile der Besatzungsbehörden auch des öfteren einfach weggeschaut haben. Schließlich kam hinzu, dass Schleswig-Holstein in der Endphase des Krieges das Rückzugsgebiet der NS-Führung gewesen war. In Flensburg residierte mehrere Wochen die Regierung unter Großadmiral Dönitz. Die Stäbe vieler Ministerien, sowie große Teile des SS-Führungspersonals bzw. des SS-Polizeiapparates zogen nach Flensburg. Dort ist man dann untergetaucht und hat neue Identitäten angenommen. Viele Subalterne, Kripo-Beamte zum Beispiel, machten sich diese Mühe nicht erst, sondern boten sich der Besatzungsmacht an und wurden von dieser übernommen und konnten so ihre Nachkriegskarriere starten.

LinX: Was haben die Untergetauchten gemacht? Sind sie auf den einschlägigen Fluchtrouten nach Lateinamerika geflohen?

S.L.: Nein. In der Regel hatten sie es nicht nötig. In Schleswig-Holstein war das Fluchtverhalten meist anders, so weit es sich rekonstruieren ließ. Es gab zum Beispiel im großen Umfang Fälschung von Personalpapieren. In den ersten Maitagen sind im Flensburger Polizeipräsidium Tausende von Polizeidienstausweisen mit falschen Personaldaten für Himmlers Stäbe ausgefüllt worden. Die Briten haben eineinhalb Monate gebraucht, bis sie dahinter gekommen sind. In der schleswig-holsteinischen Bevölkerung gab es eine Grundtoleranz gegenüber “nationalsozialistisch Belasteten“. In dem Moment wo jemand als “belastet“ galt, wurde nicht gefragt, was dahinter stand. Es interessierte nicht, ob jemand ein Mörder war, oder nur durch eine einfache NSDAP-Mitgliedschaft kompromitiert war.

LinX: Das heißt, die Nazi-Verbrecher konnten in der Bevölkerung untertauchen?

S.L.: Ja. Ein klassischer Fall ist der Werner Heydes, des Leiters des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten, nach dem wegen der Ermordung von 100.000 Behinderten gefahndet wurde. Heyde konnte hier in Schleswig-Holstein untertauchen, obwohl in den 1950er Jahren zahlreiche Honoratioren, die “oberen Zehntausend“ eben, Kenntnis von seiner wahren Identität hatten. Der gemeinsame Nenner war: Der wird von den Alliierten gesucht und deshalb gedeckt. Heyde war 1945 festgenommen worden, konnte aber fliehen und in Flensburg unter dem Namen Sawade untertauchen. Durch Kontakt zu einem Staatsanwalt hat er als Gutachter für verschiedene Gerichte gearbeitet. Insofern wussten viele Staatsanwälte und Richter von seiner Identität, denn das Dauerproblem war, dass dieser Gutachter seine Approbation zum Arzt nicht vorweisen konnte.Ein andere Fall ist der Werner Catels, einem der Chefgutachter der Kindereuthanasie, der in den 1950er Jahren Direktor der Kieler Universitäts-Kinderklinik war.