Deutsches Sozialforum in Erfurt:

Zeit für unseren Plan B

Manche Leute sind mutig, oder haben schlechte Redenschreiber: "'Hartz IV' muss nachgebessert werden", forderte der DGB-Chef des Bezirks Hessen-Thüringen, Stefan Körzell, am Samstag in Erfurt und erntete ein gellendes Pfeifkonzert. So etwas hörte man auf dem ersten deutschen Sozialforum gar nicht gern, auch nicht unter den zahlreichen Gewerkschaftern, die in Thüringens Hauptstadt  ge- kommen waren.

 
 
Dreieinhalb Tage lang hatte man diskutiert. Über Mindestlohn und Grundeinkommen, über Gentechnik und zivilen Ungehorsam, über Weltwirtschaftspolitik und die Besatzung in Irak und Palästina, über die Kommunebewegung und Montagsdemonstrationen. Wer die europäischen Sozialforen in Florenz, Paris und London mit ihren zehntausenden Teilnehmern erlebt hat, könnte ein bisschen enttäuscht gewesen sein. Die Teilnehmerzahlen blieben mit vielleicht 3.500 - die Veranstalter sprechen von 5.000 - hinter manchen Erwartungen zurück. Auch die Breite der vertretenen Bewegungen ließ etwas zu wünschen übrig. Die Umweltbewegung fehlte fast vollständig, Studenten wurden nur wenige gesichtet und die Einwanderer, Hauptbetroffene der sozialen Ausgrenzung und der Hartz-Gesetze, waren deutlich unterrepräsentiert. "Warum", so fragte Abdullah Ates von der Anatolischen Förderation, "sitzen eigentlich so wenig Migranten auf den Podien?" Bei sechs so genannten Themenkonferenzen hatte lediglich ein Vertreter einer Einwandererorganisation  mit- diskutieren können. Auch am Sonntag, als über die Zukunft der sozialen Bewegungen gesprochen wurde, blieben die Deutschen unter sich.

Gut vertreten waren hingegen die Friedensbewegung, lokale Sozialforen und Bündnisse gegen Sozialabbau. Auch linke Gewerkschafter waren zahlreich gekommen und viele Diskussionen drehten sich um den Widerstand gegen die Reformagenda der  Noch-Bundes- regierung und den Zumutungen, die man von der nächsten erwartet. Besonders schön brachte ein Transparent einer  ver.di-Arbeitslosen- gruppe aus Oldenburg die Stimmung auf den Punkt: "Unsere Agenda 3010: 30 Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, 10 Euro pro Stunde Mindestlohn."

Anders, als man es in einem solchen Zusammenhang vielleicht erwarten würde, spielte "Die Linkspartei." nur am Rande eine Rolle. Viel Beifall gab es auf einem von etlichen Hundert Menschen besuchten Podium über die Zukunft der sozialen Bewegungen, als Peter Grottian von der Initiative für ein Berliner Sozialforum aufforderte, nicht auf das neue Linksbündnis zu schielen. Sich selbst in Bewegung zu setzen, sei die Devise. Auch Hagen Kopp vom Netzwerk "Kein Mensch ist illegal" erntete reichlich Beifall, als er die Rolle Oskar Lafontaines bedenklich nannte, da dieser einer der ersten gewesen sei, die Ende der 1980er die Abschaffung des Asylrechts gefordert hatten.

Einen breiten Raum nahm in den Diskussionen hingegen der EU-Verfassungsvertrag und die Krise ein, in die die Europäische Union nach den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden geraten ist. Verschiedene Redner wiesen darauf hin, dass vermutlich im ersten Halbjahr 2006 die österreichische EU-Ratspräsidentschaft den Vertrag wiederbeleben will. Er sei keineswegs vom Tisch. Vor allem würde versucht, so Claudia Haydt von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen, seine militärischen Komponenten auch ohne Ratifizierung umzusetzen. Es sei daher "Zeit für unseren Plan B", so Haydt, die für weitere Aufklärung und europaweit vernetzen Widerstand plädierte.

Das passte ganz gut zu Vorschlägen, wie sie von Mitgliedern des Euromarsch Netzwerks diskutiert wurden. Im Juni 2006 findet in Wien ein EU-Gipfel statt, und Österreichs Hauptstadt drängt sich aufgrund ihrer Lage im Zentrum des Kontinents förmlich für große internationale Demonstrationen auf. Deshalb schlagen die Euromarschierer einen europaweiten Sternmarsch in die Donaumetropole vor. Inhalt: Gegen die Ausgrenzung der Arbeitslosen, für ein bedingungsloses Grundeinkommen, für ein soziales Europa. Viel Gewicht wird auf die Einbeziehung der sozialen Bewegungen Osteuropas gelegt, wie auch sonst zahlreiche Gäste aus Ost- und Westeuropa, aber auch aus Lateinamerika an prominenter Stelle an den Diskussionen des Erfurter Forums teilnahmen.

(wop)




Aus Kiel waren u.a. die DFG/VK und die DKP in Erfurt vertreten. Der Termin einer geplanten Nachbereitungsveranstaltung in Kiel war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt.