Chronik einer Abschiebung:

Aus dem Leben gerissen

Seit dem 1. Juli machte Sona Shirvanyan ein Praktikum beim Gegenwind. Die junge Armenierin hatte Ende Juni in Flensburg ihren Hauptschulabschluss gemacht und wollte im August mit der Realschule beginnen. Das Praktikum beim Gegenwind wurde zunächst für die Sommerferien vereinbart, danach geht es parallel zur Schule oder anderen Aktivitäten aber weiter. Ziel ist die Berufsorientierung, Sona will Journalistin werden. Anfang August kam es zu einer brutalen Unterbrechung: Sona wurde von der Polizei in der Nähe von Flensburg festgenommen, es wurde Haftbefehl erlassen, die Ausländerbehörde schickte sie in Abschiebehaft. Drei Tage später wurde sie nach Armenien abgeschoben. Ihr erster Artikel für den Gegenwind beschreibt diese Ereignisse (Redaktion-Gegenwind).

Im Jahre 2003 bin ich mit meinem Vater und meinem jüngeren Bruder nach Deutschland gekommen. Damals war ich 17 Jahre alt. Wir haben in Dortmund Asyl beantragt, wurden aber nach Lübeck geschickt. Denn mein Vater und mein Bruder hatten bereits früher einen Asylantrag in Schleswig-Holstein gestellt. Ich habe drei Monate alleine in Lübeck in der Erstaufnahmeeinrichtung gewohnt, danach bin ich zu meiner Familie nach Harrislee geschickt worden. Ein paar Monate später ist auch meine Mutter aus Armenien gekommen, auch sie hat ihren zweiten Asylantrag gestellt. Wir lebten ungefähr ein Jahr zusammen, dann fing die allerschlimmste Zeit an, die ich jemals erlebt habe. Wir haben fast jeden Tag einen negativen Brief von der Ausländerbehörde gekriegt, dass wir zurück nach Armenien fliegen sollten. Aber damals war unser Asylantrag noch nicht abgelehnt worden, das Gericht hatte uns noch nicht gehört und noch nicht entschieden. Wieder ein paar Monate später haben wir einen Brief bekommen, dass wir einen Termin beim Gericht haben. Der Richter hörte uns dreieinhalb Stunden an, letztendlich hat er uns nicht geglaubt. Im Februar 2005 wurde unser Antrag abgelehnt. Ich war schon seit 2003 18 Jahre alt, sollte nun alleine ausreisen. Aber ich bin in Deutschland geblieben, die letzten drei Monate illegal. Denn meine Familie hatte noch eine kleine Chance, weil mein Vater sehr krank ist. Ein Gutachten von unserem Arzt sagte, dass er "reiseunfähig" ist. Der Amtsarzt in Schleswig schrieb allerdings, er wäre trotzdem "transportfähig". Deswegen stellte mein Vater, meine Mutter auch, im Juli 2005 noch mal einen Asylantrag, um nicht abgeschoben zu werden.

Meine Familie war inzwischen nach Munkbrarup umgezogen. Ich wohnte dort nicht, sondern bei einer Freundin.

Am Freitag, dem 5. August, bin ich erst spät aufgestanden, weil ich in der Nacht bis drei Uhr mit meiner Freundin geredet habe. Es war schon elf Uhr, eigentlich wollte ich nach Kiel fahren. Ich nahm meine Tasche und meine Jacke und fuhr zum ZOB in Flensburg. Ich wollte noch ein paar Sachen bei meinen Eltern abholen. Am ZOB entschloss ich mich, mit dem Bus nach Munkbrarup zu fahren. Noch während der Fahrt überlegte ich: "Mein Gott, warum riskierst du das?"

In Munkbrarup guckte ich mich sorgfältig um, sah aber keine Polizeiwagen. Als ich zur Wohnung kam, die Treppe hinaufging, wollte ich aufschließen. Aber die Tür war offen, aufgebrochen. Ich rief meinen Vater an, er sagte, ich sollte sofort weggehen. Ich sagte, ich mach das gleich, ich hole nur ein paar Sachen und esse eine Kleinigkeit. Als ich nach oben in mein Zimmer kam, sah ich, dass alle meine Sachen durchwühlt waren, die von meinem Bruder auch. Ich wusste, dass meine Eltern und mein Bruder in der Nacht nicht zu Hause gewesen waren.

Ich hatte ein paar Sachen eingepackt, aß noch ein Brot, zog mir die Sandalen an, da hörte ich ein Auto vor der Tür. Ich war gerade eine halbe Stunde dort gewesen, fünfmal hatte mein Vater angerufen und gesagt, ich sollte dort verschwinden. Ich sah, dass es ein Polizeiwagen war. Ich schloss die Tür, mein Schlüssel steckte von innen, lief nach oben und kroch in das Schlafsofa, unten in den Kasten. Aber mein Handy lag auf dem Tisch, meine Tasche stand dort, die Platte vom Herd war noch warm.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Polizisten kamen nach oben, haben alles durchsucht, auch unter dem Bett nachgesehen. Ich wusste nicht, wie viele es waren, habe ihre Stimmen gehört, ihre Füße gesehen. Einer sagte: "Ich glaube, Sona ist da. Die Tasche steht hier, das Handy ist da. Der Herd ist noch heiß." Ich hörte nur mein Herz klopfen, so laut, dass ich glaubte, sie hören das auch. Sie sind wieder runter gegangen, haben dort alles durchsucht, kamen dann wieder rauf. Es war schrecklich. Jemand sagte, das ist ein Schlafsofa, das kann man aufmachen. Erst schafften sie es nicht, so fest hatte ich es geschlossen, aber dann öffneten sie es doch.

Festnahme

Einer der Polizisten sagte: "Hallo, kleine Sona, wir haben dich so lange gesucht." Ich kroch heraus und fragte: "Was wollen Sie?" Es waren zwei Polizisten und ein dritter Mann, der sagte: "Dich natürlich. Und so lange schon." Ich war ganz ruhig, ich glaube, deswegen habe ich keine Handschellen angekriegt. Ich bin runter gegangen und sagte: "Okay, Sie können sich setzen. Ich brauche ein bisschen Zeit, meine Sachen einzupacken." Ich habe nicht geweint, nicht geschrieen. Ich war ganz ruhig. Ich hatte überhaupt keine Angst. Die Polizisten waren groß, sehr groß. Der jüngere, knapp unter dreißig, sagte: "Wir können uns nicht setzen. Wir müssen alles sehen, was du machst." Der dritte Mann war sehr froh, seine Augen glänzten. Er sagte: "Ich wusste nicht, dass du so klein bist. Du hast uns so viel Arbeit gemacht." Er nahm mein Handy und guckte die Nummern durch. Ich sagte: "Das ist mein Handy, ich glaube, das ist privat." Der Polizist sagte: "Sona, das müssen wir machen. Das ist unsere Aufgabe, wir machen das nicht freiwillig." Ich fragte, ob ich telefonieren darf, er sagte: "Leider nicht." Ich wollte meine Eltern anrufen, damit sie nicht herkommen. Ich wusste, sie waren auf dem Weg.

Der jüngere Polizist half mir, Sachen einzupacken. Er sah, dass ich nur Tops und leichte Sachen einpackte, und sagte: "Nimm drei, vier Hosen mit, es ist kalt draußen. Nimm alle deine guten Sachen mit." Und er sagte, wir müssten uns beeilen, wir hätten einen Termin bei Gericht. Es war halb drei.

Endlich war mein Koffer voll. Ich fragte, ob das 20 Kilo sind. "Nein, das sind nicht 20 Kilo. Aber du hast keinen Platz mehr, und wir müssen uns beeilen." Ich frage, ob er mir helfen kann. Der Polizist guckte mich an und fragte: "Aber wenn ich den Koffer nehme und du läufst weg?" Ich lachte: "Das mache ich nicht." Ich wusste, es war zu spät. Er glaubte mir und nahm den Koffer. Ich zog die Jacke an, die Sandalen und ging die Treppe runter. Ich sah die aufgebrochene Tür: "Müssen meine Eltern das bezahlen?" "Sona, denk nicht darüber nach, geh einfach weiter", antwortete der Polizist. Draußen hat mich der ältere Polizist, ungefähr 40 Jahre alt, ganz fest am linken Oberarm gepackt. "Was machen Sie?" fragte ich. "Ich bin ganz ruhig. Sie müssen das nicht machen." Aber er antwortete nicht und brachte mich zum Polizeiwagen, einem Kleinbus. Ich stieg hinten ein. Jetzt sah ich auch den dritten Mann wieder, er sprach mit Nachbarn. Ich glaube, der Opa von gegenüber hatte mich gesehen und die Polizei angerufen. Alle Nachbarn guckten, sie wussten ja, was mit mir passiert. Als der Mann wieder zu uns kam, sah er sehr zufrieden aus. Ich fragte: "Kann ich Sie was fragen? Wer sind Sie? Wie heißen Sie?" Er sagte seinen Namen, er wäre der Chef der Ausländerbehörde in Schleswig. Ich sagte "Alles klar." Er erzählte weiter, blablabla. Ich habe ihn unterbrochen: "Es reicht, Sie brauchen nicht weiter zu erzählen." Ich habe wirklich nicht mehr daran gedacht, wegzulaufen. Ich wollte nur meine Eltern anrufen, damit ihnen nichts passiert.

Der Chef der Ausländerbehörde fragte: "Wo hast du die ganze Zeit gewohnt?" "Warum sollte ich das sagen?" "Vielleicht in der Apenrader Straße?" Dort wohnt mein Freund. "Oder in Glücksburg?" Er nannte mehrere Namen, alles Leute, die ich kannte. Ich sagte: "Ich sage niemandem, wo ich mich versteckt habe." Er guckte mich böse an und sagte: "Ich kriege das raus, wo du gewohnt hast." Dann sprach er über die "Scheinehe" und über meinen Freund. Ich sagte, ich komme zurück. Er frage: "Weiß du, was eine Scheinehe ist?" Ich antwortete nicht, aber er sagte: "Natürlich weißt du das."

Mir fiel noch ein, dass ich mein Ladegerät vergessen hatte. Ich habe gefragt, ob jemand das holen kann, einer der Polizisten holte es mir. Der Chef der Ausländerbehörde sagte dann, er müsse noch hier bleiben, bis die Tür repariert wäre, und ich wurde mit dem Polizeiwagen nach Flensburg gebracht.

Haftbefehl

Wir kamen beim Gericht an, stiegen aus. Ein Polizist nahm meinen Koffer. Mich hat niemand angefasst. Wir waren auf der Rückseite, ein Polizist klingelte. Der jüngere Polizist guckte mich die ganze Zeit an, ich glaube, dass er wartete, dass ich anfange zu weinen. Er fragte mich: "Wo sind deine Eltern?" Ich antwortete: "Das sage ich nicht, Fragen Sie nicht, ich bin nicht so dumm." Er antwortete: "Okay, ich frage nicht mehr." Ich fragte ihn aber: "Bist du zufrieden?" Er sagte: "Nein, ich bin nicht zufrieden. Das ist meine Arbeit. Irgend jemand muss das machen."

Ein Mann öffnete die Tür und guckte mich an. Ich fragte: "Wo ist der Richter?" "Ich bin das. Ich muss das alles machen." Er war etwas über 30 Jahre alt. Er sagte: "Sona, ich glaube, wir kennen uns." "Ja, ich glaube auch. Dein Gesicht kommt mir bekannt vor." Ich erinnerte mich an einen Prozess, den meine Tante hatte. Ich war Zeugin, deshalb kannte ich den Richter. Wir gingen rein, und ich begrüßte die Sekretärin ganz freundlich, ganz normal. Sie guckte noch mal zur Tür, sie glaubte nicht, dass ich diejenige bin, die abgeschoben werden sollte. Sie erwartete wohl eine andere, die weinte oder schrie. Ich wusste natürlich, dass wir noch warten müssen, aber ich fragte trotzdem: "Auf wen warten wir? Können wir nicht anfangen?" "Nein, Frau Kuss kommt gleich." Das war meine Sachbearbeiterin von der Ausländerbehörde Schleswig. Ich sagte: "Oh, meine Güte. Das fehlte mir noch." Ich habe das sehr böse gesagt.

Der Richter kam kurz ins Zimmer. Ich wusste, alles war schon entschieden, das war nur noch Theater, ein Spiel. Ich verstand das. Ich habe den Richter angeguckt, und er konnte nicht im Zimmer bleiben. Er ging auf den Flur. Endlich klingelte es. Ich hörte eine fröhliche Stimme von Frau Kuss, sehr laut. Sie sprach sehr freundlich mit dem Richter. Sie kam dann rein, begrüßte die Polizisten sehr freundlich. Sie ist wohl fast fünfzig Jahre alt. Sie kam dann zu mir, gab mir die Hand. Ich wollte eigentlich nicht, aber ich gab ihr dann auch die Hand: "Hallo, Frau Kuss." Sie lachte, eiskalt. "Das sollte nicht so sein, Sona", sagte sie und setzte sich ganz nah zu mir. "Ich habe dir alle Chancen der Welt gegeben, alle." "Nicht alle, Frau Kuss. Du weißt das ganz genau. Nicht alle Chancen." Der Richter fragte: "Fangen wir an?" "Ja", antwortete ich, "fangen wir an."

Er hat fünf oder sieben Minuten was vorgelesen aus meiner Akte. Wie viele Male die Polizei bei uns war, mich gesucht hat. Wie lange ich mich versteckt habe. Ich hörte nicht zu. "Hast Du was dazu zu sagen?" frage er. "Nein, überhaupt nichts." "Sollen wir das aufschreiben?" "Ja, klar", antwortete ich. Ich sollte dann unterschreiben. "Hätte es was geändert, wenn ich was gesagt hätte?" fragte ich. "Ich weiß es nicht." "Echt? Das wissen Sie nicht?" "Nein, es hätte nichts geändert. Es war schon alles entschieden", sagte er. Ich unterschrieb und gab ihm den Zettel zurück.

Danach habe ich Frau Kuss sehr freundlich gefragt: "Wo gehen wir jetzt hin?" "Darüber wollte ich jetzt reden. Eisenhüttenstadt ist zu weit. Wir können nach Hannover fahren, das liegt näher an Frankfurt. Du fliegst Dienstag nach Armenien." Sie telefonierte mit ihrem Handy, ob in Hannover Platz war für mich. "Warum machst du das alles?" fragte ich sie. "Ich mache nichts. Das hast du alles gemacht." "Nein", sagte ich, "ich habe nichts gemacht. Aber du willst meine Familie zerstören." Sie konnte nicht antworten. Schließlich sagte sie: "Mach dir keine Sorgen. Du kommst zurück. Du bist so stark, du schaffst das. Du musst nur alle Kosten bezahlen, 8000 Euro, dann kannst du wieder herkommen." Der Richter fragte, ob er jemanden anrufen und Bescheid sagen sollte. "Ja, meinen Freund". "Name, Nachname, Nummer?" Für die Nummer brauchte ich mein Handy, und dann sagte ich die Nummer von meinem Freund. Frau Kuss ließ mich nicht weiterreden, sie sagte den Namen und die Adresse von meinem Freund. "Du fährst jetzt nach Hannover. Dienstag fliegt du nach Armenien. Ich wünsche dir alles Gute." Wir gingen raus. "Ja, Frau Kuss, ich wünsche dir auch alles Gute. Hoffentlich sehen wir uns noch. Tschüss." Dann saß ich schon wieder im Polizeiauto.

Sie brachten mich zum ZOB, zur Polizeiwache. Unterwegs durfte ich mit meinem Handy telefonieren, ich rief meinen Vater an. Ich sagte, dass wir keinen Schlüssel mehr für die Wohnung haben und dass die Polizei Mutter und meinen Bruder suchen. Das hatte der Chef der Ausländerbehörde gesagt. Mein Vater hat gedacht, er könnte noch zur Wohnung gehen. Ich sagte ihm noch die Straße vom Gefängnis in Hannover. Ich legte auf. Als ich die Stimme von meinem Vater gehört habe, konnte ich nicht mehr. Ich hatte aber ganz leere Augen, kein Wasser mehr. Ich habe nicht geweint. Der jüngere Polizist guckte mich wieder an, deshalb lachte ich wieder. Ich wollte, dass er denkt, es geht mir gut. Die Polizisten aus Glücksburg lieferten mich bei der Flensburger Polizei ab, sie wünschten mir alles Gute.

Abschiebehaft

Die Flensburger Polizei hatte schon auf mich gewartet. Eine junge Polizistin kontrollierte meinen Koffer. "Die haben meinen Koffer schon kontrolliert", sagte ich. "Ich muss das machen, das ist Gesetz". Ich hatte genug von diesen deutschen Gesetzen. Ich sagte: "Machen Sie, was Sie wollen. Ich will nichts mehr hören über Gesetze." Sie war ganz freundlich, hat mit mir geredet. Sie war einundzwanzig Jahre alt, gerade nach Flensburg gezogen. Sie erzählte, dass sie auch schon nach Harrislee gefahren ist, in den Berghof. Sie hatte mich gesucht. Aber ich war nicht da.

Wir fuhren dann nach Hannover. Es war wieder ein Kleinbus, ein Polizist vorne, die Polizistin saß hinten bei mir. Sie machten eine Pause und fragten, ob ich was essen möchte. "Ich habe gerade gegessen, danke schön." Im Wagen betete ich zu Gott, dass man meinen Vater nicht festnimmt.

In Hannover sah ich dann das Gefängnis, Hochsicherheit. Oh mein Gott, dachte ich, wo bin ich, wie lange soll ich hier bleiben? Wie kann ich hier drei Tage bleiben? Wir sind reingegangen, zwei Frauen holten mich ab. Ich musste mich ausziehen, die Klamotten tauschen. Ich wurde durchsucht, die Unterwäsche durfte ich behalten. Ich musste all meinen Schmuck abgeben, mein Geld wurde genau gezählt. Ich fragte: "Meine Wäsche darf niemand anfassen? Darf ich mir nachher nehmen, was ich brauche?" "Du musst sowieso Dienstag fliegen, Du brauchst nichts. Nimm jetzt alles, was du willst, Zahnbürste oder so."

Ich wurde dann zu einem Zimmer gebracht, wo drei Frauen waren. Sie sahen fern. "Ihr habt Besuch", sagte die Beamtin. "Sie ist sehr nett und spricht gut deutsch." Ich habe die drei begrüßt. Eine war Deutsche, ungefähr 33 Jahre alt. Sie hatte in einer Firma gearbeitet, die viel Geld gefressen hatte. Der Chef und die Chefin hatten neun Jahre gekriegt, sie sollte sechs Monate hier bleiben. Die zweite war Ukrainerin, 39 Jahre alt. Sie hatten einen falschen litauischen Pass, das haben sie rausge-  kriegt. Sie sollte drei Monate hier bleiben und dann abgeschoben werden. Die dritte war Türkin, sechs Jahre in Deutschland, aber sie konnte fast gar kein Deutsch sprechen. Sie sollte abgeschoben werden, aber sie wollte versuchen, am 14. August zu heiraten. Sie fragte mich, warum ich hier bin. "Ich soll abgeschoben werden." "Wusstest du das?" "Ja, ich bin schon drei Monate illegal hier. Jetzt haben sie mich festgenommen und verhaftet." Sie sagten, du kannst Fernsehen gucken, was du willst, du brauchst nicht zu fragen. Und sie brachten mir alles, was sie an Essen und Trinken hatten.

Sie haben viel mit mir geredet, aber ich habe an etwas anderes gedacht. Ich habe fast nichts gehört. Ich habe immer "ja, ja" gesagt. Aber ich dachte immer, was passiert mit meinem Vater.

Ich schlief erst um zwei Uhr ein. Sonnabend Abend konnte ich dann überhaupt nicht einschlafen. Als morgens die Beamtin kam, das war eine Katastrophe. Ich fühlte mich, als ob ich schon drei oder vier Jahre im Gefängnis war. Sonntag konnte ich dann Reinhard anrufen, und er sagte mir, dass mein Vater auch verhaftet war und im gleichen Gefängnis, in einem anderen Haus für Männer saß. Ich habe sofort gefragt, ob ich meinen Vater treffen kann. Warum ist er hier? Im Gefängnis sagten sie mir, er ist auch verhaftet. Meine Mutter und meinen Bruder suchen sie noch. Ich sollte ihn am nächsten Tag sehen.

Am nächsten Morgen hatte ich schon vergessen, dass ich Geburtstag hatte. Die Ukrainerin hat mir gratuliert. Als sie Freitag fragte, wie alt ich bin, hatte ich gesagt: Montag werde ich Zwanzig. Alle haben geguckt, oh das ist so schlimm, der 20. Geburtstag im Knast.

Ich bin um 8 Uhr aufgestanden, denn ich wartete auf Reinhard. Ich sollte außerdem meine Klamotten packen, und ich sollte meinen Vater sehen. Ich habe gefragt, ob ich Extra-Telefonzeit bekomme. Ich dachte, es ist mein Geburtstag, es kann sein, dass viele Leute anrufen. Ich bat darum, dass ich keine Absage bekommen. Eine Beamtin war Russin, sie sagte, das geht ausnahmsweise, aber normalerweise machen wir so was nicht.

Ich bin mit der Russin zur Kammer gegangen, und da sah ich plötzlich meinen Vater. "Was machst du hier?" "Das gleiche wie du. Ich muss meine Sachen packen." Wir umarmten uns, und er gratulierte mir. Niemand sagte, dass wir uns nicht anfassen dürfen. Alle wussten, das ist mein Vater, und ich habe heute Geburtstag. Er versuchte fröhlich zu gucken, damit ich nicht traurig bin. Aber ich habe in seinen Augen alles gesehen.

Die Beamtin sagte, wir sollen uns beeilen. Wir haben schon einen Besuch abgemacht, sie kommt nachher zu dir. Ich fragte die Russin, ich bekomme noch einen Besuch, klappt das? Nein, sagte sie, du darfst nur einen Besuch bekommen, mit deinem Vater. "Aber er ist schon auf dem Weg, von Kiel. Er kommt zu mir." Sie sagte, okay, ich rufe an. Dann kriegst du für deinen Vater eine Absage, wenn du das andere Treffen haben willst. Aber der Chef vom Frauengefängnis sagte, sie kann alle Besuche bekommen, beide. Ich war froh, dass ich mit meinem Vater sprechen konnte. Und ich wartete auf Reinhard und war gespannt, ob jemand mit ihm kommt. Ich dachte immer, vielleicht ja, vielleicht nicht.

Erst traf ich meinen Vater im Besuchsraum. Es war 11 Uhr, vorher war mein Vater beim Arzt. Der sollte feststellen, ob er flugfähig ist. Mein Vater war zur Polizei nach Glücksburg gefahren, hatte 15 Minuten draußen gewartet, weil er nicht wusste, ob er reingehen solle. Dann dachte er, ich habe gesagt, nur meine Mutter und mein Bruder werden gesucht, und ging rein. Sie sagten erst, er muss warten. Aber dann sagten sie: "Du musst nach Flensburg fahren, du bist verhaftet und fliegst am Dienstag wie deine Tochter." Er war sehr böse, nicht wie ich, und kriegte Handschellen von der Polizei. Er hat dann einen Tag in Flensburg geschlafen, weil der Richter nicht mehr da war. Aber der Rechtsanwalt war am Sonnabend auch nicht da, mein Vater konnte nichts machen.

Danach wartete ich wieder. Das Mittagessen kam, aber ich glaube, ich habe nichts gegessen. Dann kam endlich der Besuch aus Kiel, ich wurde hingebracht. "Ist er alleine? Ist jemand mit ihm, Mann oder Frau", fragte ich die Beamtin. "Ich weiß es nicht, du musst das selber sehen." Und dann habe ich beide getroffen, Reinhard und meine beste Freundin. Ich habe alles vergessen, ich habe vergessen, dass ich im Gefängnis war. Wir haben geredet, und ich konnte wieder lachen. Für mich war der Besuch fünf Minuten, aber Reinhard sagte hinterher, das waren zweieinhalb Stunden. So viel haben wir gesprochen? Worüber haben wir gesprochen? Ich weiß es nicht mehr. Danach habe ich mich aber nicht lange verabschiedet, ich wollte nicht. Ich bin schnell rausgelaufen. In dem kleinen Raum, wo ich zehn Minuten warten musste, habe ich gut geweint. Zum Glück war niemand da, niemand hat das gesehen. Sie haben mich dann zurückgebracht in unseren Knast.

Danach konnte ich überhaupt nicht schlafen. Ich war früh morgens aufgestanden, aber trotzdem konnte ich nicht einschlafen. Ich guckte aus dem Fenster, auf den hohen Zaun und den Stacheldraht. Das war meine letzte gute Erinnerung an Deutschland. Ich dachte, morgen sehe ich meine Schwester in Armenien, das ist sehr gut. Aber ich sehe meine Mutter und meinen Bruder nicht wieder, das ist schlecht. Und ich dachte, mein Gott, hoffentlich kommt mein Vater nicht mit. Er ist krank, ich hoffte, dass der Rechtsanwalt etwas machen konnte.

Zum Flughafen

Am nächsten Morgen wurde ich um 6 Uhr geweckt. Ich duschte, trank Kaffee und wurde dann in einem anderen Raum gebracht. Dort sah ich meinen Vater, er war draußen, ich guckte durch das Fenster. Da wusste ich, dass er mit kommt. Er war sehr, sehr traurig. Ich kann diese Augen nicht vergessen, nie. Er sah mich nicht. Als ich raus kam, zeigte er mir ein anderes Gesicht. Dann sah ich den Polizeiwagen, er hatte ein Nummernschild aus Kiel. Ich dachte, mein Gott, mein Vater soll nach Kiel fahren, er muss nicht fliegen. Ich habe den Polizisten gefragt: "Warum kommen Sie aus Kiel?" "Wir sind nur ein Taxi. Ihr gehört zu Schleswig-Holstein, deshalb müssen wir das machen." Sie hatten keine Polizeiklamotten an, es waren zwei Männer und eine Frau. Die Frau heißt Daggi, sie war ungefähr 30 Jahre alt. Die beiden Männer waren auch jung, etwas über dreißig. Sie saßen hinten bei uns im Kleinbus, Daggi ist gefahren.

Die konnte nicht nach Frankfurt fahren! Sie ist auf der Autobahn zwei gelandet, wir waren fast in Bielefeld, über hundert Kilometer zu weit. Mein Vater hat gelacht, er hat dann den Polizisten erklärt, wie sie fahren müssen. Denn wenn wir zu spät sind, müssten wir noch einen Tag im Knast warten. Wir sind dann wieder zurück gefahren. Um halb acht sind wir los, aber wir waren erst um halb eins am Flughafen. Dort habe ich viele Leute mit Handschellen und Fußschellen gesehen. Als wir ausgestiegen sind, sagte ein anderer Polizist, der einen jungen Mann mit Handschellen und Fußschellen brachte: "Oh, ihr seid ganz ruhig gefahren? Wir haben so viel Stress gehabt." Daggi sagte: "Ja, wir sind ganz ruhig gefahren. Wir haben sehr nette Leute dabei." Ich habe viele Fotos gemacht, auch mit den Polizisten. Wir kamen dann in ein anderes Zimmer, dort waren viele Leute aus Afghanistan, aus Kosovo, vielen anderen Ländern, aber niemand sonst aus Armenien. Dort stand ein Bus vom Bundesgrenzschutz, ganz schrecklich, mit ganz kleinen Fenstern. Danach kam die Frage: "Wer fliegt nach Moskau?" Wir mussten in ein anderes Zimmer. In eineinhalb Stunden sollten wir fliegen. Sie haben unsere Sachen kontrolliert. Unsere Polizisten haben uns bis dorthin gebracht, dann sind sie gefahren. Die Polizei dort war vom Bundesgrenzschutz. Ich fragte, ob ich meine Handtasche haben kann. Der Polizist sagte "Nein." Ich habe gesagt, "Ich weiß Bescheid. Ich darf das haben. Ich brauche jetzt meine Handtasche." Sie war ganz unten eingepackt, aber er musste sie mir geben. "Nimm dir, was du willst", sagte er dann. Sie haben mich noch mal kontrolliert, auch meine Sandalen. Ich kriegte mein Geld wieder und meinen Schmuck. Ich habe viele Fotos gemacht, niemand hat das gemerkt. Mein Vater sagte: Du darfst das nicht machen, aber du bist eine echte Journalistin." Ja, ich durfte das nicht, aber ich habe es geschafft.

Ich hatte mein Handy, ich habe meine Mutter angerufen. Sie kriegt leicht Panik. Ich habe sie beruhigt, habe gesagt, es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Wir fliegen jetzt.

Flug nach Moskau

Wir waren jetzt vier, ein Moldavier, ein Ukrainer, mein Vater und ich. Zu uns kamen vier Russen, die uns bis Moskau begleiten sollten. Mein Vater und ich kriegten einen Begleiter, die anderen beiden bekamen drei. Sie waren sehr gut angezogen, sehr akurat, sehr höflich. Sie fragten, alles in Ordnung mit euch? Ich machte wieder Fotos. Sie sagten, wir bringen euch jetzt zum Flugzeug, und ihr macht kein Theater. Ihr werdet jetzt abgeschoben und fertig. Einer erzählte uns, es ist eine schreckliche Arbeit, aber jemand muss das machen. Er hat mit meinem Vater geredet, auf Russisch, sehr höflich. Sie haben einen Vertrag mit Deutschland, bekommen Geld dafür. Sie kriegen fast jeden Tag Leute, fliegen nach Frankfurt und wieder zurück nach Moskau.

Im Flugzeug habe ich ein bisschen geschlafen. Dann habe ich Fotos gemacht, mit meiner Tante in Schleswig telefoniert und eine SMS an meinen Freund geschickt.
In Moskau sind wir ausgestiegen, mussten die ganze Nacht warten. Jemand kam zu uns und sagte, wir haben ein schlechtes Zimmer für euch, aber trotzdem müsst ihr da warten. Euer Flug geht um 12.15 Uhr morgen. Es war ein großes Zimmer, es waren viele Leute da aus vielen Ländern, die einen falschen Pass hatten oder so. Alle konnten Russisch. Es war eine Frau aus Armenien dort. Es gab nur Stühle, kein Bett. Essen gab es nur einmal am Tag, irgendwelche Süßigkeiten, Kuchen oder so. Es war eine Katastrophe. Ich habe fast die ganze Zeit mit dem jungen Mann aus der Ukraine gesprochen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, er war fünf Jahre illegal in der EU gewesen. Er war ein paar Monate illegal in Deutschland, in Dortmund. Er sagte, er wäre nicht verhaftet worden, wenn er keinen Streit gehabt hätte. Er hat in einer Bibel gelesen, das finde ich toll.

Am nächsten Vormittag kam eine große Frau zu mir, sagte "Sona Shirvanyan, komm mit mir bitte." Ich habe von ihr meinen Pass bekommen, meine  Geburtsur- kunde, alles was sie beim Standesamt beschlagnahmt hatten, als mein Freund und ich heiraten wollten. Wir mussten noch eine Stunde warten. Jetzt waren viele armenische Leute da. Wir waren ganz frei, ich bin im ganzen Flughafen umher gegangen. Es sah genauso aus wie ein Flughafen in Deutschland. Darüber habe ich mich gefreut.

In Armenien

Mit zwanzig Minuten Verspätung sind wir gestartet. Ich war sehr nervös, habe versucht zu schlafen. Dann habe ich wieder Fotos gemacht. Alle Menschen sprachen plötzlich Armenisch, das war sehr merkwürdig, wieder so viele armenische Stimmen zu hören. Vom Flugzeug aus konnte ich dann das Haus sehen, in dem ich früher gewohnt hatte. Und dann landeten wir in Yerevan und stiegen aus. Dann war die Kontrolle, mein Pass war ganz normal. Ich suchte meine Schwester. Mein Vater musste warten, er hatte keinen Pass. Ich kriegte Angst, dass sie ihn behalten und ich dann was bezahlen muss. So ist das in Armenien. Aber nach 20 Minuten sagte die Frau: "Okay, ich glaube Ihnen, dass Sie den Pass verloren haben. Sie können gehen." Ich glaube, sie hatte keine Lust, jemanden anzurufen. Dann kam noch die Gepäckkontrolle. Alle waren so unhöflich, mein Gott, so war das auch, als wir aus Armenien geflohen sind. Ich wollte sofort zurück nach Flensburg. In Armenien ist es so, entweder hat man Geld, dann ist man eine Person, ein Mensch. Oder man hat kein Geld, dann ist man auch kein Mensch. Endlich, draußen, habe ich meine Schwester gesehen. Wir haben uns gefreut! Und ich hatte in diesem Moment alles vergessen, was ich erlebt habe.

Sona Shirvanyan

Praktikantin

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