Offener Brief an WASG und Linkspartei.PDS:

Nebenwidersprüche?

Inzwischen ist es klar, dass zur nächsten Bundestagswahl auch eine neue linke Formation jenseits von SPD und Grünen zur Wahl antreten wird. Und wenn man den Umfrageergebnissen glauben darf, so hat die neue Linkspartei gute Chancen, in den Bundestag gewählt zu werden. Sowohl für die Bundespolitik als auch für die Verhältnisse in Hamburg wäre das ein durchaus wichtiges Ereignis, und das ist auch der Grund, warum wir uns mit diesem Schreiben an WASG und Die Linke.PDS wenden.

Wir haben durchaus Verständnis dafür, dass in der Hektik der vorgezogenen Bundestagswahl kaum Zeit für genauere inhaltlich-programmatische Diskussionen bei WASG und Die Linke.PDS bleibt. Wir haben auch Verständnis dafür, dass sich die Linkspartei nicht (nur) auf eine dezidiert linke Szene stützen kann, sondern sich als Alternative für alle diejenigen präsentieren möchte, die mit der unsozialen Politik von SPD-Grünen-CDU-FDP nicht einverstanden sind.

Die Attraktivität einer solchen Gruppierung für uns hängt aber durchaus davon ab, ob klare Abgrenzungen zu rechtspopulistischen Antworten auf die soziale Unzufriedenheit gefunden werden. Und die Attraktivität hängt auch davon ab, ob die Diskussionen, die sozialpolitische Initiativen, antirassistische Gruppen und Frauennetzwerke seit langen Jahren führen, inhaltlich aufgegriffen werden oder nicht.

Die Äußerungen von Oskar Lafontaine zur Aufweichung des strikten Folterverbots, seine Sympathie für “Auffanglager” für
Flüchtlinge in Nordafrika und sein Kokettieren mit dem Begriff des “Fremdarbeiters” sind in unseren Augen weder Ausrutscher noch legitimer Populismus. Sie stehen gegen alles, was  Bürgerrechts- bewegungen einerseits und Flüchtlingsräte, MigrantInnengruppen und AktivistInnen etwa in den Gewerkschaften bisher zum Thema Folter, Rassismus und  Arbeits- migration diskutiert und an Positionen entwickelt haben: Der Fall Daschner hat gezeigt, wie weit die Bereitschaft verankert ist, "unter bestimmten Umständen" Folter zu erlauben. Nicht nur in Bezug auf die Geschehnisse in US-amerikanischen Internierungslagern, sondern auch in Bezug auf die Folterdiskussion in der  Bundes- republik ist es Konsens unter allen bürgerrechtlichen Initiativen, das strikte grundgesetzliche Folterverbot ohne wenn und aber zu verteidigen.Nicht erst seit der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 gibt es eine lange und intensive Diskussion über grundsätzliche Orientierungen wie über Mindeststandards einer humanen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Die Abschaffung von Lagerunterbringung, die Garantie des Rechtsweges auch für Flüchtlinge, die Abschaffung bzw. Vermeidung von Abschiebehaft sind dabei einige der Essentials, für die Flüchtlingsräte in Hamburg und anderswo gestritten haben und streiten. Wir haben uns immer gegen eine Politik gewandt, die Flüchtlinge und MigrantInnen stigmatisiert, ausgrenzt und wie Menschen zweiter Klasse behandelt, denn die menschenrechtliche Realität in einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt auch im Umgang mit ihren Minderheiten. Wir denken, dass eine Gruppierung, die sich immerhin "links" nennt, solche Debatten und Positionen zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen muss.

Es waren auch Betriebsräte und GewerkschaftsaktivistInnen der IG BAU, die sich gegen nationalistische Untertöne auf den Baustellen und auch in ihrer eigenen Gewerkschaft stark gemacht haben: Gegen Dumping-Unternehmer ja - aber Solidarität mit den nichtdeutschen KollegInnen. Diese Haltung prangte nicht zuletzt am 1. Mai auf einem Transparent, das KollegInnen an einem Baukran befestigt hatten. Die Politik und Rhetorik einer linken Wahlgruppierung darf in unseren Augen den Bemühungen dieser GewerkschaftsaktivistInnen um praktische internationale Solidarität nicht in den Rücken fallen.

Wir kommen aus unterschiedlichen (fach-)politischen Bereichen und haben im einzelnen durchaus unterschiedliche politische Positionen und Haltungen, doch wir teilen mit euch und anderen die Kritik an der neoliberalen und autoritären Umgestaltung der Gesellschaft und des Sozialstaates. Wir haben aber in den letzten acht Jahren in Bezug auf Frauen- und Mädchenpolitik, auf Kinder- und Jugendhilfe, in Bezug auf Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und in Bezug auf Flüchtlinge und MigrantInnen Diskussionen und Debatten geführt, die auf andere Alternativen und Orientierungen abstellen, als auf eine reine Verteidigung alter und oft durchaus zweifelhafter sozialdemokratisch verhafteter Sozialstaatsvorstellungen. Dazu einige Stichpunkte:

Über Frauenquoten in Parteien und Institutionen wollen wir eigentlich gar nicht mehr diskutieren, auch nicht über die zentrale Bedeutung von Gleichstellungspolitik, über die Notwendigkeit, geschlechtshierarchische Arbeitsteilungen aufzubrechen oder über die Binsenweisheit, dass Feminismus und die Beseitigung geschlechtspezifischer bzw. sexueller Diskriminierung eben nicht als “Frauenfrage” abgetan werden kann und erst recht kein “Nebenwiderspruch” ist. In unseren Augen sollten das inzwischen Grundbestandteile emanzipatorischen Denkens und Handelns sein.

Alle Bereiche der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sind für uns auch Bürgerrechts- und Menschenrechtsfragen. Es geht uns in der Sozialpolitik also keineswegs nur um Umverteilung und mehr Geld. Es geht generell um den gleichberechtigten Zugang und Teilhabe aller zu und an den gesellschaftlichen Ressourcen. Wir sind der Meinung, dass die sozialen Grundrechte und Rechtsansprüche auf Teilhabe und soziale Sicherheit für alle gelten, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität und Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt. Und wir sind der Meinung, dass man/frau sich diese sozialen Grundrechte nicht erst verdienen muss. Aus diesem Grund lehnen wir das Dogma „Keine Leistung ohne Gegenleistung“ ab. Und deshalb kritisieren wir Hartz IV auch nicht nur, weil man vom Alg II nicht leben kann. Das konnte man auch von der Sozialhilfe nicht. Wir kritisieren, dass Erwerbslose ohne jede Perspektive zwangsaktiviert werden, wir kritisieren die flächendeckende Einführung der Pflichtarbeit und wir kritisieren die massive Entrechtung von erwerblosen Menschen.

Unsere Kritik am alten wie am neuen Sozialstaat ist auch eine Kritik an den Institutionen, die Flüchtlinge, SozialhilfeempfängerInnen, Erwerbslose,  Drogen- konsumentInnen und andere wie BittstellerInnen behandeln. Sie werden systematisch an Kleiderkammern und Suppenkpüchen verwiesen. Für sie sind Second-Hand-Waren und Second-Hand-Essen gerade gut genug. Ihre Rechte auf menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Freizügigkeit, an Unverletzlichkeit der Wohnung, an Wahrung und Sicherung der Menschenwürde werden systematisch mit Füßen getreten.

Zusammen mit GewerkschafterInnen und vielen, vielen Initiativen haben wir diese Diskussionen um eine Sozialpolitik als Politik sozialer Grundrechte 1999 und 2002 in den Konferenzen "Lichter der Großstadt" dargestellt. Und wir erwarten, dass eine linke Wahlalternative diese Debatten mindestens reflektiert.

Hamburg, 23.8.2005

Sozialpolitische Opposition Hamburg,
pro:fem
Intervention e.V.
Hamburger Arbeitskreis Asyl
Flüchtlingsrat Hamburg