Sozialproteste:

„Arme sterben früher”

Wer gemeint hatte, mit Schröders „Agenda 2010“ und den Hartz- Gesetzen sei endlich das Ende der sozialen Graumsamkeiten erreicht, wird dieser Tage eines Schlechteren belehrt. Die große Koalition will immer noch mehr von Rentnern, Arbeitslosen und Lohnempfängern. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis hierzulande US-amerikanische Zustände herrschen, in denen viele sich keine Krankenversicherung mehr leisten können und mindestens zwei Jobs brauchen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Höchste Zeit, den Widerstand gegen diese Politik zu organisieren. Noch herrscht bei den Gruppen, die im letzten Jahr die Proteste trugen, viel Resignation, meint die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfe-Initiativen (BAGSHI), Erika Biehn, doch langsam beginnt sich auch eine neue Wut zu regen. Wir sprachen mit Erika Biehn über eine kleine Bilanz der ALG-II-Einführung und fragten, was von den Montagsdemonstrationen geblieben ist. (wop)
 

LinX: „Hartz IV“ ist seit zehn Monaten in Kraft. Welche Bilanz ziehst Du?

Erika Biehn (E.B.): Für mich als Betroffene stellen die „Hartz IV“-Gesetze, besonders das Sozialgesetzbuch II (SGB II), eine erhebliche Verschlechterung im Vergleich zur früheren Arbeitslosenhilfe dar. Zum einen gibt es weniger Geld, zum anderen ist das ganze Verfahren – und darunter haben wirklich alle Betroffenen zu leiden – sehr kompliziert und zum Teil kaum noch nachvollziehbar geworden. Das liegt nicht nur an den Anlaufschwierigkeiten, sondern auch an den vielen Fehlern des Gesetzes.

LinX: Zum Beispiel?

E.B.: Stiefeltern werden zum Beispiel über die sogenannte Bedarfsgemeinschaft für den Unterhalt der Kinder ihrer Partner herangezogen, was dem Bürgerlichen Gesetzbuch widerspricht. Inzwischen gibt es eine Anweisung aus dem Bundesministerium für Arbeit, die das ausbügeln soll, aber ob das auch alle Sachbearbeiter mitbekommen haben, ist fraglich. Außerdem sind die Kosten der Unterkunft in vielen Kommunen abgesenkt worden. Ein weiteres Problem ist die  Baby-Erst- ausstattung. Manche Kommunen zahlen erst nach der Geburt. Oder nehmen wir das Umgangsrecht. Wenn sich Eltern trennen und der Teil, bei dem das Kind nicht lebt, weiter den Umgang pflegen will, dann entstehen ihm dadurch natürlich Kosten. Die sind allerdings im Regelsatz nicht vorgesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine Öffnungsklausel für Einmalzahlungen gibt, die in solchen Fällen greifen könnte und die bisher in der Sozialhilfe vorgesehen war. Inzwischen haben allerdings schon einige Gerichte entschieden, dass gezahlt werden muss.

LinX: In Kiel ist mit der Schaffung der Arbeitsgemeinschaft aus Sozial- und Arbeitsamt das nackte Chaos ausgebrochen. Bescheinigungen gehen verloren, Akten sind nicht auffindbar, Mieten werden nicht überwiesen, Sachbearbeiter sind nicht mehr telefonisch erreichbar. Ein Einzelfall?

E.B.: Nein, überhaupt nicht. Das ist zwar nicht überall so, aber es gibt durchaus auch andere Städte, in denen es zumindest im ersten halben Jahr ähnlich aussah. Mittlerweile legt sich das langsam, aber wirklich nur langsam. Es kommt immer noch vor, dass Leute mehrere Monate auf ihren Bescheid warten und dass sie mehrfach auf den Ämtern erscheinen müssen. Wir kennen auch Fälle, in denen ALG-II-Bezieher aufgefordert wurden, Kontoauszüge im Original vorzulegen, obwohl das Hessische Oberverwaltungsgericht längst entschieden hat, dass es dazu keine Verpflichtung gibt.

LinX: Im Vorfeld der Einführung der neuen Gesetze hat es massive Proteste gegeben. Was haben diese damaligen Montagsdemos gebracht?

E.B.: Ich glaube, dass von diesen Demos etwas geblieben ist, auch wenn es kaum wahrgenommen wird. Es haben sich in einigen Städten neue Gruppen gebildet, die sich weiter wehren. Die Montagsdemos haben zumindest die Öffentlichkeit für die Betroffenen sensibilisiert. Aber um solche Gesetze wie das SGB II zu verhindern braucht man einen langen Atem.

LinX: Wäre es angesichts der aktuellen Hetze gegen Arbeitslose, die von einigen gar als „Parasiten“ bezeichnet wurden, nicht angebracht, in der einen oder anderen Weise wieder an die Montagsdemonstrationen anzuknüpfen?

E.B.: Dass es Proteste geben muss, ist klar. Ob das in Form von Montagsdemos geschehen kann, hängt von den Gruppen vor Ort ab. Es gibt ein weit verbreitetes Unverständnis über diese Wortwahl. Das geht bis hinein in die Wohlfahrtsverbände. Nur setzt sich das noch nicht in Protest um. Ein Problem ist auch, dass die großen Medien die kritischen Stimmen vollkommen ausblenden. Ich weiß von einer Reihe von Presseerklärungen unterschiedlicher Organisationen zu dieser Kampagne des Wirtschaftsministers gegen die Erwerbslosen, die von den Medien einfach nicht beachtet wurden. Mein Eindruck ist eher, dass die großen Medien die Position des Ministers stillschweigend mittragen. Hinter diesen Diffarmierungen der Erwerbslosen steckt die Absicht, weitere Kürzungen der Bezüge durchzusetzen. Dieses Gerede vom „Sozialmissbrauch“ regt mich wirklich auf. Alle seriösen Studien zeigen, dass der sogenannte Missbrauch von früher Sozialhilfe oder jetzt ALG II immer nur relativ geringfügig ist. Passend zu dieser Kampagne wird jetzt eine neue Kürzungsdiskussion geführt. Der CDU-Wirtschaftsrat will zum Beispiel die Zahnbehandlungen aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen streichen. Die Folge wäre, dass sich viele Menschen den Gang zum Zahnarzt nicht mehr leisten können, und man künftig den Menschen die Armut am Gebiss ansieht. Oder nehmen wir die Forderung, private Unfälle nicht mehr von der Krankenversicherung abzudecken. Das mag ja für Extremsportarten verständlich sein. Aber die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Und wenn das alles selbst finanziert werden muss, dann treibt man damit die Menschen in die Verschuldung. Und es wird dazu führen, dass Arme noch früher sterben. Schon heute ist die Lebenserwartung armer Menschen um sieben Jahre kürzer als die normal Verdienender.

- www.bag-shi.de