Jugendunruhen in Frankreich:

Rechtsstaat ausgehebelt

Der Strom reißt nicht ab: Den ganzen Tag über werden junge Leute dem Schnellrichter vorgeführt. Im Justizpalast von Bobigny bei Paris werden die Teilnehmer an den jüngsten Unruhen in den Vorstädten beinahe am Fließband abgeurteilt.

Ungefähr die Hälfte der Festgenommenen sind minderjährig und werden, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, dem Jugendrichter vorgeführt. Die andere Hälfte erscheint im Rahmen des Schnellverfahrens der comparution immédiate, das auf so genannte Flagrantidelikte Anwendung finden soll, vor dem Strafrichter. Es erlaubt dem Angeklagten nicht, zwischen seiner Festnahme und der Beendigung des Prozesses auf freien Fuß zu kommen. Die meisten Angeklagten werden offenkundig durch Pflichtverteidiger vertreten.

Slimane, Traoré und Samit (die Vornamen wurden durch die Redaktion abgeändert) verlangen etwas mehr Zeit, um ihre Verteidigung vorzubereiten. Darauf haben sie ein Recht, bis zum neuen Prozesstermin müssen sie allerdings in Polizeihaft bleiben. Die Nächsten sitzen schon auf der Anklagebank. Hussein wird durch Polizeizeugen beschuldigt, um Mitternacht dabei gesehen worden zu sein, wie er Minderjährigen einen Benzinkanister übergab. Er selbst will ihnen nur „für ihr Mofa ausgeholfen“ haben und keine Kenntnis von Verbotenem gehabt haben. Die Polizeizeugen berufen sich darauf, einige Minuten später hätten in der Nähe Autos gebrannt. Aus juristischer Sicht dürfte der Vorwurf konkreter Tatbeteiligung eher zweifelhaft aussehen. Nach wenigen Minuten fällt das Urteil: 15 Monate Haft – ohne Bewährung. Unruhe und Tumult im Gerichtssaal. Ruhe! Der Nächste bitte!

Justizminister Pascal Clément erklärte ausdrücklich, er habe landesweit die ihm unterstehenden Staatsanwälte angewiesen, systematisch Haftstrafen ohne Bewährung zu fordern, die in über vier Fünftel der Fälle auch verhängt werden. Von insgesamt 3.000 Festgenommenen im Zuge der Unruhen wurden gegen etwa 600 Anklagen vorbereitet. Dass der Anteil der Strafverfahren nicht höher ist, liegt offenkundig an der Polizeitaktik: Auch öffentliche Radiosender berichten, dass die staatlichen Ordnungskräfte offensichtlich regelmäßig einfach alle Umstehenden am Schauplatz von Unruhen einsammelten und erst im polizeilichen Gewahrsam zwischen angeblich Schuldigen und Unschuldigen zu sortieren beginnen.

Der allergrößte Teil der Festgenommenen und der Verurteilten wurde dabei direkt an ihren Wohnorten aufgegriffen. Dem Staatsanwalt von Bobigny, François Molets, zufolge ist dies ein Indiz dafür, dass die verschiedenen Thesen aus der rechten Presse, wonach eine organisierende Hand hinter den Unruhen stehe – entweder Islamisten oder verfestigte Mafiastrukturen – falsch sei: „Im Gegenteil, in den Stadtteilen, wo islamistische Gruppen oder die organisierte Kriminalität eine gewisse Verankerung haben, ist es weitestgehend ruhig geblieben. Solche Gruppen haben die spontanen Riots unterbunden.“ Sei es aus ideologischen Gründen oder weil sie kein Interesse an einer erhöhten Polizeipräsenz haben. Dagegen haben 70 bis 80 Prozent der Angeklagten kleinere Vorstrafen.

Im Großraum Paris haben die Verhaftungen offensichtlich vorwiegend Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation getroffen. Das ist aber nicht überall so. Im nordfranzösischen Lille sind es im Gegenteil überwiegend junge „Weiße“, die aus französischen Familien oder der früheren belgischen Einwanderung abstammen, die vor dem Schnellrichter erschienen. Eine örtliche Journalistin schätzt, dass mindestens zwei Drittel der Angeklagten aus dem Großraum Lille „Jean oder Marc heißen“, nicht Mohammed oder Mamadou. Ein Beleg unter vielen dafür, dass die Misere der französischen Banlieues mitnichten eine „ethnische“ oder religiöse Problematik darstellt: Zu ihr gehört auch eine bitterarme „weiße“ Unterschicht, der ebenfalls wegen unbezahlter Rechnungen im Winter der Strom abgedreht wird und in der die Familienstrukturen zeitgehend zerrüttet sind. Im Großraum Lille, wo es früher ein geschlossenes Arbeitermilieu gab, das heute tief in der Krise steckt, mag dieses Phänomen flagranter sein als in den Pariser Trabantenstädten: Dort wurde die Immigrationsbevölkerung schon früh als „Puffer“ auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt und wurde historisch zuerst zum Opfer von Prekarität und Massenentlassungen – um die „weißen“ Arbeitskräfte noch ein paar Jahre länger zu schützen.

Die, teilweise offen rassistisch aufgeladene, Ethnisierung dieser Phänomene wird aber auch von führenden Stellen betrieben. So ließen sich mehrere bürgerliche Spitzenpolitiker über die Polygamie afrikanischer Familien als angebliche Ursache der Jugendkriminalität und der Riots aus. Der Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium, Gérard Larcher, etwa prangerte öffentlich diese „asoziale Lebensweise“ als Ursache für die „Verwahrlosung“ der Kinder an. In dasselbe Horn stieß kurz darauf der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der konservativen Regierungspartei UMP, Bernard Accoyer. Das war selbst der rechten Boulevardzeitung France Soir zu viel, die ihre Titelseite am Freitag mit der Schlagzeile aufmachte: „Polygamie, Unruhen: Die absurde Erklärung“. Die Polygamie, die in Frankreich seit langem verboten ist, wird nach offiziellen Schätzungen noch von höchstens 20.000 Familien unerlaubt betrieben. Die Zahl gebürtiger Franzosen, die ebenfalls mit einer Frau verheiratet sind und gleichzeitig mehrere andere schwängern, dürfte wesentlich höher liegen.

Die berüchtigte reaktionäre Historikerin Hélène Carrère d’Encausse, „Russlandexpertin“ und Mitglied der Académié française, sprach in Interviews mit russischen Medien ebenfalls vom angeblichen Problem polygam lebender Afrikaner. Sie fügte hinzu: „Sie kommen ins Gefängnis, wenn Sie sagen, dass fünf Juden oder zehn Schwarze im Fernsehen sind. Die Leute können nicht ihre Meinung über die ethnischen Gruppen, über den Zweiten Weltkrieg und über viele andere Dinge ausdrücken.“ Auch der so genannte Neue Philosoph Alain Finkielkraut behauptete, man könne in Frankreich aus Furcht vor Strafe keine Meinung mehr über ethnische Minderheiten ausdrücken. Das Problem sei, „dass die revoltierenden Jugendlichen fast alle Schwarze oder Araber sind und sich zum Islam bekennen“. Keinen grotesken Vergleich scheuend, erklärte Finkielkraut im Figaro, es handele sich „nicht um eine Revolte gegen den Rassismus der Republik, sondern um ein gigantisches antirepublikanisches Pogrom“.

Neben der Ethnisierung in der Wahrnehmung sozialer Probleme kommen nun auch viele alte, aber unter der Decke gehaltene Lösungsvorschläge konservativer bis reaktionärer Provenienz auf den Tisch. Besonderer Beliebtheit erfreut sich der Vorschlag, die Familienstrukturen als Ordnung stiftenden Faktor zu instrumentalisieren. Schon vor Jahren forderten rechte Politiker, jenen – oft zerrütteten – Familien, die ihre Sprösslinge nicht kontrollieren und am Abgleiten in die Kriminalität hindern können, kollektiv durch Entzug der Sozialleistungen zu bestrafen. Diese Form der Sippenhaft wurde in der vorigen Woche erstmals umgesetzt. Der Bürgermeister der Pariser Vorstadt Draveil, Georges Tron, strich allen Familien die kommunalen Sozialleistungen, deren Sprösslingen infolge der Unruhen verurteilt wurden. Es soll sich um rund zehn Familien handeln, die damit etwa die Beihilfe zum Bezahlen der Stromrechnung verlieren und deren Kinder – auch die Brüder und Schwestern der Verurteilen – keine Zuzahlung zur Schulkantine mehr erhalten. In einer Umfrage der Gratistageszeitung 20 minutes wurde dieser Druck auf die Familien bei einer Leserumfrage durch zwei Drittel als wirksame Maßnahme genannt.

„Frankreich gleitet nach rechts“ kommentierte am Sonntag die gemäßigte Boulevardzeitung Le Parisien die Ergebnisse einer eigenen Leserbefragung. Zu den politischen Spätfolgen der Revolte, oder der Reaktion der Gesellschaft auf die Riots, gehört nicht allein der Ausnahmezustand, den die Regierung am 8. November für die von Unruhen betroffenen Départements verhängt hatte. Diesen haben die beiden Kammern des französischen Parlaments am Montag und Dienstag voriger Woche um drei Monate verlängert, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Unruhen bereits weitgehend abgeflaut waren. Die Notstandsgesetze, die aus dem Algerienkrieg stammen, erlauben die Verhängung örtlicher Ausgangssperren neben der Einführung der Pressezensur, der Internierung „sicherheitsgefährdender Personen“ und der Schließung von Versammlungsräumen.

Bisher hat die Regierung von diesem weitreichenden Arsenal nur die Möglichkeit, Ausgangssperren auszusprechen, benutzt. In 5 jener 26 französischen Départements, in denen Unruhen stattgefunden hatten, wurden teilweise für Minderjährige, teilweise für alle Bewohner Ausgehverbote ab einer bestimmten Uhrzeit verhängt. Dabei waren die Örtlichkeiten, in denen die Maßnahme galt, gar nicht die hauptsächlich von Unruhen betroffenen. Im Großraum Paris etwa wurde fast nirgendwo von dem Instrument Gebrauch gemacht, da die Riots ohnehin abflauten. Deren Ende, im Laufe der letzten Woche, hängt auch kaum mit den repressiven Maßnahmen zusammen, sondern mit der Perspektivlosigkeit der Riots selbst. Das gravierendste Beispiel eines präventiv wirkenden Ausnahmezustands lieferte Evreux in der Normandie. Dort wurde, einige Tage nach dem Ende der örtlichen Unruhen, ein ganzes Unterschichtsviertel mit knapp 20.000 Einwohnern – das Quartier de la Madeleine – mit Absperrgittern verriegelt und in gewisser Weise unter Quaränte gestellt. Von 22 Uhr bis 5 Uhr früh konnte niemand hinein oder hinaus, es sei denn, er konnte einen „familiären, medizinischen oder beruflichen Notfall“ nachweisen. Im Inneren patrouillierte Bereitschaftspolizei und sorgte dafür, dass die Leute in ihren Häusern blieben. Diese besonders spektakuläre Maßnahme in der Stadt, deren Bürgermeister Jean-Louis Debré vor zehn Jahren konservativer Innenminister war, wurde am vorigen Mittwoch nach einer Woche Dauer aufgehoben. Der Sicherheitsapparat wird sich aber ganz gewiss bei der nächsten Krise an die Maßnahmen erinnern, die er einmal hat durchsetzen können. (Bernard Schmid)