Über die Ursachen der Auseinandersetzungen:

„Der Funke kann die Ebene in Brand stecken, wenn vorher die Trockenheit am Werk war.“ Diese beinahe poetische Formulierung tauchte Anfang November in einem Leitartikel der linksliberalen Pariser Tageszeitung Libération auf. Er bezeichnet treffend die Situation in den Banlieues der französischen Ballungsräume.

Die spezifische Problematik der französischen Vorstädte ist keineswegs neu. Die Banlieue im heutigen Sinne entstand zunächst Ende am Ausgang des 19. Jahrhunderts rund um Paris. Der Begriff selbst ist aber bereits Älter und bezeichnete im 17. Jahrhundert die „Bannmeile“, so lautet die wörtliche Bedeutung von ban-lieue – , also jene Zone rund um die größeren Städte, die ein mit Verbannung belegter Bürger oder Untertan nicht betreten durfte.

Später jedoch änderte sich die Funktion dieses Gebiets. Von Revolutionsangst gepeinigt, teilten die französische Bourgeoisie und die Staatsmacht den Raum auf: Die „gefährlichen Klassen“, zu der damals neben dem Subproletariat auch die Industriearbeiterschaft zählte, wurden in einer Siedlungszone rund um die „eigentliche“ Stadt konzentriert. Auf diese Weise, so dachte man, hätte man sie besser unter Kontrolle, während man sich auf das übrige Frankreich, la France profonde, in der Tiefe des Raums als „sicheres Hinterland“ stützen könne. Auf diese Weise entstanden die suburbanen Verdichtungsräume rund um Paris, Lille oder Lyon, die administrativ von den Kernstädten unterschieden wurden. Die Pariser Banlieue ist heute fast so groß wie das Saarland.

Fast acht Millionen Menschen leben dort, wobei sich historische Stadtkerne und Reihenhaussiedlungen mit Hochhaus- und Plattenbaughettos abwechseln. Ein weitgehend abgeschotteter Raum, in dem die sozialen Verwerfungen, die auch anderswo zu beobachten sind, wie in einem Versuchslabor riesigen Ausmaßes schneller und brutaler vonstatten gehen. Der Blick auf sie fällt wie durch ein Brennglas, durch das der Rest der Gesellschaft die sozialen Probleme und Verwerfungserscheinungen (Gewaltphänomene, zerrüttete Familien, menschenfeindlicher Städtebau) ins Ungeheure vergrößert wahrnimmt – um sich dabei zu erschrecken und häufig zu fordern: „Bitte, lieber Staat, schütze uns davor, dass diese Gefahrenzone sich ausweitet und auch uns bedroht!“ Der politische Diskurs Über die Banlieue und, damit unmittelbar zusammenhängend, über das Problem der „Inneren Sicherheit“ – oder auch des inneren Feindes – wirkt seit Jahren als Einfallstor für Politikangebote, denen autoritäre „Lösungen“ und Forderungen nach polizeistaatlicher Krisenverwaltung zugrunde liegen. Diese Debatten bestimmten entscheidend den Wahlkampf vor dem letzten „Superwahljahr“ 2002, in dem die französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfanden. Dass am Schluss im entscheidenden Wahlgang der Präsidentschaftswahl den WählerInnen nur noch die „Alternative“ zwischen dem konservativen Krisenverwalter Jacques Chirac und dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gegeben war, stellte angesichts der vorausgehenden Diskussionen und vor allem angesichts der entsprechenden suggestiven Bilder der Medien – insbeondere des Fernsehens – keinen Zufall dar.

Einst bildeten die Pariser Trabantenstädte einen „roten Gürtel“ um das Zentrum, dessen Rathäuser größtenteils von der Kommunistischen Partei regiert wurden. Davon sind heute nur noch Restbestände übrig. Aber für die jüngeren Generationen steht seit zwei, drei Jahrzehnten nicht länger die Fabrik im Lebensmittelpunkt, sowohl die Fabrikdisziplin als auch die darüber vermittelte Bindung der Klassensolidarität sind weitgehend verloren gegangen. Stattdessen herrschen eine enorme Arbeitslosigkeit, ein Mangel an Zukunftsperspektiven, Langeweile vor und die Flucht in Jugendbanden, die ihre Mikroterritorien verteidigen.

Der Bau von Hochhaus- und Plattenbausiedlungen begann Mitte der 50er Jahre in Sarcelles, nördlich von Paris. Er wurde Ende 1973 durch die „Türme- und Riegel-Verordnung“ der damaligen Regierung gestoppt. Die ersten Unruhen fanden 1981 in den Banlieues des Lyoner Großraums statt, als Reaktionen auf Polizeigewalt. Seitdem erweckt die etablierte Politik in periodischen Abständen immer wieder den Anschein, die explosive Situation in den Banlieues plötzlich zu entdecken.  (Bernard Schmid)