Welthandelskonferenz in Hongkong:

Durchbruch für Freihandel?

Die WTO ist wie ein Stehaufmännchen. Zweimal schon sind in den letzten Jahren die Ministerkonferenzen der Welthandelsorganisation gescheitert. Doch mit viel Schläue, Hartnäckigkeit und gezieltem Druck bringen die Unterhändler Brüssels und Washington den Verhandlungsdampfer immer wieder in Fahrt, um ihre Freihandelsinteressen doch noch durchzusetzen. Vor zwei Jahren war im mexikanischen Cancún die letzte WTO-Ministerkonferenz grandios gescheitert. Eine Koalition von Schwellenländern, angeführt unter anderem von Brasilien, Indien und Südafrika hatte sich in ungewohnter Schärfe gegen die Zumutungen der EU und der USA gestemmt. Und doch gelang es den beiden Handelssupermächten schon nach wenigen Monaten, diese neue Front wieder aufzuspalten und die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. om 13. bis zum 18. Dezember trifft man sich also nun in Hongkong zur nächsten Runde, zur sechsten  WTO-Minister- konferenz. Aber ob die Verhandlungen dort diesmal die Klippen nehmen, ist alles andere als gewiss.

Worum geht es?

Für interessiert Laien ist manchmal schwer den Dschungel an Verträgen und Konferenzen, der die WTO umgibt, zu überschauen. Insgesamt handelt es sich um mehr als 20 Abkommen. Die stehen allerdings nicht ein für allemal fest, sondern die WTO-Mitglieder haben sich im Prinzip darauf geeinigt, eine weitgehende Liberalisierung des Welthandels zu erreichen. Deshalb gehört zur WTO auch eine nicht endende Kette von Verhandlungen, in denen immer neue Regeln ausgehandelt werden. Strittig ist allerdings das Wann und vor allem das Wie der weiteren Liberalisierung. Die Industriestaaten sprechen gerne vom „ebenen Feld“ („leveled playing ground“), auf dem man sich treffen müsse, Entwicklungsländer wenden dagegen ein, dass man Ungleiche nicht gleich behandeln kann. „Spezielle und differenzierte Behandlung“ („special and differentiated treatment“) ist die Formel, auf der sie bestehen. Sie wollen das Recht behalten, ihre Wirtschaft gegen übermächtige Konkurrenz aus dem Norden zu schützen.

Derzeit wird vor allem auf drei Gebieten verhandelt: Landwirtschaft, Dienstleistungen (GATS, siehe Stichworte) und Marktzugang für nichtagrarische Güter. Unter letzterem versteht man Handelserleichterungen für Produkte aller Art, die nicht aus der Landwirtschaft kommen. Auch Fischerei und Forstwirtschaft fallen darunter, aber im wesentlichen geht es in diesem Punkt um den weiteren Abbau von Zöllen auf Industrieprodukte.

Auf der Tagesordnung steht auch die Forderung der  Entwicklungsländer in verschiedenen Bereichen Nachbesserungen an den bestehenden Verträgen vorzunehmen. Besonders die afrikanischen Staaten fühlen sich zum Beispiel im Rahmen des TRIPS-Abkommens (siehe Stichworte) über den Tisch gezogen. Zu den zahlreichen Streitpunkten rund um TRIPS gehören Patente auf Nutzpflanzen und Medikamente. Europäische und US-amerikanische Konzerne versuchen sich Patente auf verschiedene kommerziell interessante Nutzpflanzen aus Afrika, Südasien oder Lateinamerika zu sichern, die zum Teil schon seit vielen Jahrhunderten in der jeweiligen Region kultiviert werden.

Besonders drängend ist das Problem bezahlbarer Medizin. Medikamente der großen europäischen Pharmakonzerne sind für viele Menschen in den ärmeren Ländern unerschwinglich. Bisher konnte man sich mit billigeren sogenannten Generika, das heißt nachgemachten oder nachempfundenen Medikamenten, helfen. Unter TRIPS ist die Produktion von Generika ohne Lizenz nur noch in Ausnahmefällen erlaubt. Nach heftigen Protesten der afrikanischen Staaten, wurde 2003 den Entwicklungsländern zwar gestattet in Notfällen die Medikamente ohne Lizenz zu produzieren. Doch in den wenigen Fällen, in denen davon Gebrauch gemacht wurde, kam es stets zu massiven Angriffen der Pharmakonzerne. Außerdem nutzt diese Regelung nur jenen Ländern, die eine eigene Pharmaindustrie besitzen.

Pharma-Profit geht vor

Generika-Importe sind zwar in Notfällen theoretisch erlaubt, doch sind die Regeln derart kompliziert, dass die Ausnahmebestimmung noch nie in Anspruch genommen wurde. Erst am 29. November, zwei Tage vor dem Weltaidstag, hat der sogenannte TRIPS-Rat der WTO, der über Ausnahmeanträge befindet, einen Antrag afrikanischer Staaten auf den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten für HIV-Infizierte abgelehnt – auch mit den Stimmen des EU-Vertreters. Die afrikanischen Staaten wollen daher das Thema in Hongkong auf die Tagesordnung setzen.

Aber auch bei den anderen Themen ist Streit vorprogrammiert. Bisher sieht das Dienstleistungsabkommen GATS vor, dass alle Liberalisierungen in diesem Bereich freiwillig sind. Jetzt wollen USA und EU von allen Mitgliedsländern in allen Bereichen ein bestimmtes Mindestmaß an Liberalisierung und Deregulierung. Der Hintergrund dieses Vorstoßes ist das enorme ökonomische Gewicht, das der Dienstleistungssektor in den USA und in der EU hat. Dienstleistungen im Wert von rund 1,6 Billionen US-Dollar wurden 2002 weltweit exportiert. Annähernd die Hälfte davon ging auf das Konto Westeuropas.

Auch Aufkäufe ausländischer Dienstleistungsunternehmen stehen auf der Wunschliste der hiesigen Wirtschaft. RWE, EdF (Electricité de France), E.on und Suez (Frankreich) sind die größten Versorgerkonzerne der Welt und ganz scharf darauf, sich die Strom- und Wasserversorgung in den Entwicklungsländern unter den Nagel zu reißen. Auch Unternehmen wie die Deutsche Post AG sind in aller Welt auf Einkaufstour, und um das zu finanzieren, erhöht man hierzulande die Tarife. Über den GATS-Vertrag soll zusätzlicher Druck auf die Entwicklungsländer ausgeübt werden, die öffentlichen Betriebe zu privatisieren. Die Liberalisierung ist dafür das Einfallstor. Anschließend können Regeln zum Tragen kommen, die die Gleichbehandlung ausländischer Unternehmen vorschreiben, wie insbesondere die EU sie in den WTO-Verträgen festgeschrieben haben möchte. „Setzen sich diese Interessen durch, dann werden die Transnationalen Konzerne unsere öffentlichen Dienstleistungen übernehmen“, meint Rex Varona vom Asian Migrant Center in Hongkong. „Das Ergebnis wäre, dass nur noch die, die es sich leisten können, Zugang haben.“

Bisher hat es gegen dieses Ansinnen auf den Ministerkonferenzen meist heftigen Widerstand der Entwicklungsländer gegeben. Dennoch stehen entsprechende Formulierungen im Entwurf der Abschlusserklärung, die WTO-Generalsekretär Pascal Lamy Ende November veröffentlicht hat. Über drei Dutzend Umweltgruppen, Bauernverbände und Gewerkschaften, darunter auch der internationale Dachverband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, werfen Lamy in einem offenen Brief vor, die ihm gebotene Neutralität nicht beachtet zu haben. Verschiedene Einwände und Gegenvorschläge aus Entwicklungsländern seien nicht berücksichtigt worden.

Globale Proteste

Auch in der Frage der nichtagrarischen Güter finden sich in Lamys Text vor allem die Positionen der reichen Staaten, die einen drastischen Zollabbau für Industriewaren fordern. „Für die Entwicklungsländer ist der Entwurf ein Rezept für die Zerstörung der heimischen Industrie, der Lebensgrundlagen der Kleinbauern und der lokalen Dienstleistungsbranche“, beschreibt Aileen Kwa, die für das Bangkoker Institut „Focus on the Global South“ die WTO-Verhandlungen seit über sechs Jahren verfolgt, das Lamy-Papier. „Der Text will in den Ländern des Südens die Öffnung der Märkte für Dienstleistungen, Agrarprodukte und Industriewaren erzwingen, lange bevor die dortigen Produzenten in der Lage sind, dem harten Wettbewerb der gigantischen Multis aus den USA, der EU und anderen Ländern zu widerstehen.“

Dass ein Text aus der Feder Pascal Lamys eine derartige Schlagseite hat, kann nur jene verwundern, die den Franzosen mit dem Parteibuch der Sozialisten nicht kennen. Lamy war bis zum Frühjahr 2005 EU-Außenhandelskommissar und hat als solcher jahrelang die Positionen der Union aggressiv in der WTO vertreten. Angesprochen auf die undemokratische Praxis der Green-Room-Gespräche (siehe Stichworte) hat er 1999 in Seattle vor Journalisten erklärt, es gebe eben einen gewissen Widerspruch zwischen Demokratie und Effizienz. Mit dem Entwurf für die Hongkonger-Ministerkonferenz beweist er einmal mehr, dass seine Wahl immer die Effizienz ist, und dass damit auch in der Position, die ihn eigentlich zur Neutralität verpflichtet, vor allem die Interessen der EU gemeint sind. Schließlich hat diese nicht von ungefähr darauf geachtet, dass Lamy seinen Vorgänger Supachai Panitchpakdi aus Thailand, bisher der einzige WTO-Generalsekretär aus einem Entwicklungsland, rechtzeitig vor der Ministertagung ablöst. „Lamy sitzt auf diesem Posten, weil die EU endlich einen Durchbruch in den Verhandlungen will. Für uns ist er nicht besser als Bush“, meint Iara Pietricovsky vom Instituto dos Estudos Econômicos in Brasiliens Hauptstadt Brasilia.

Kwa, Varona, Pietricovsky und Tausende andere Globalisierungskritiker aus aller Welt werden sich in diesen Tagen in Hongkong zu Protesten und  Gegen- konferenzen treffen. Seit den inzwischen legendären Protesten 1999 im US-amerikanischen Seattle werden die WTO-Ministerkonferenzen regelmäßig von Demonstrationen begleitet. Auch Via Campesina, ein internationales Netzwerk von Kleinbauernorganisationen, mobilisiert nach Hongkong. Vor allem aus Japan, Südkorea, Indonesien, Thailand und Mexiko werden Bauern erwartet. Bereits 2003 während der Ministertagung in Cancún hatten die dortigen  Bauern- organisationen einen erheblichen Anteil an den Demonstrationen. Gemeinsam mit dem Widerstand aus den Reihen der Entwicklungsländer werden diese Proteste mitunter zur kritischen Masse, die den Verhandlungsprozess sprengen kann. In Cancún hatte der demonstrative Selbstmord des südkoreanischen Bauernführers Lee Kyung Hae den letzten Ausschlag gegeben, der die Stimmung im Kongresszentrum kippen ließ. Nach den wenig erfolgreichen Vorverhandlungen ist nicht  auszu- schließen, dass auch Hongkong die Entwicklungsländer hart bleiben. Aber vermutlich wird man das etwaige Scheitern diesmal etwas besser hinter einer nichts sagenden Kompromissformel über den Fortgang der Verhandlungen zu verbergen wissen. (wop)

Zum Weiterlesen:
www.attac.de/cancun
www.attac.de/hongkong
www.viacampesina.org

„Freie Fahrt für freien Handel? – Die EU-Handelspolitik zwischen Bilateralismus und Multilateralismus“ Broschüre von WEED und dem Evangelischen Entwicklungsdienst

„Das NAMA-Drama – Wie die WTO-Verhandlungen über Industriegüter Umwelt und Entwicklung bedrohen“ Broschüre von WEED, dem Evangelischen Entwicklungsdienst und Greenpeace

Detailierte Berichte über den Fortgang der Verhandlungen im „Focus on Trade“ im Internet unter www.focusweb.org