Arbeitskämpfe in Argentinien vier Jahre nach dem Zusammenbruch:

Reallohnabbau

Vor dem Hintergrund zunehmender Arbeitskämpfe bereitet sich Argentiniens kämpferischer Gewerkschaftsdachverband CTA (Central de los Trabajadores Argentinos) auf seinen siebenten Kongress vor. Am Wochenende vor Weihnachten fanden in verschiedenen Provinzen und in einigen der größten Städte des Landes vorbereitende regionale Kongresse statt, der größte davon in der Provinz Buenos Aires, wo über 3000 Delegierte in einer kämpferischen Atmosphäre tagten. Im Mittelpunkt der Debatten stand die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung und der Kampf um die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

In der CTA haben sich 1995 diejenigen Gewerkschaften gesammelt, die mit extrem versöhnlerischen Kurs des alten Dachverbandes CGT nicht einverstanden waren. Stein des Anstoßes war vor allem, dass der CGT den Privatisierung staatlicher Unternehmen, wie dem Erdölkonzern YPF, dem Wasserversorger Aguas Argentinas oder Telefongesellschaft Telefonica keinen Widerstand entgegensetzte.

Die CTA  demonstriert Anfang November im argentinischen Mar del Plata gegen den  Amerika-Gipfel, Freihandel und die US-Kriegspolitik.

Heute stehen die CTA-Gewerkschaften bei zahlreichen Arbeitskämpfen an der Spitze. Seit 1989 ist nicht mehr soviel gestreikt worden. Ursache sind die Spätfolgen der argentinischen Krise, die ihren Höhepunkt zur Jahreswende 2001/2002 erreichte. Seinerzeit erzwangen massive Proteste der Bevölkerung den Rücktritt des Präsidenten Fernando de la Rúa, weil seine Regierung nicht die wirtschaftliche Talfahrt aufhalten konnte. Schließlich wurde die Dollarbindung des Pesos, die ein Teil des Problems war, aufgehoben. Das war allerdings mit einer Abwertung des Pesos und der Entwertung von Sparguthaben verbunden. Die arbeitende Bevölkerung musste massive Einkommensverluste hinnehmen und viele stürzten in bitter Armut ab.
 

Seit dem ist Argentiniens Wirtschaft zwar enorm gewachsen und hat sich – betrachtet man allein die makroökonomischen Kennzahlen – rasch von ihrer schweren Krise erholt. 2005 ist Wirtschaft sogar um sensationelle 9,5 Prozent expandiert. Doch die Segnungen des Aufschwungs  verteilen sich sehr ungleichmäßig. 2004 bekam des unterste Zehntel der Bevölkerung von der aufsummierten Einkommenssteigerung gerade 1,3 Prozent ab, das oberste Zehntel schnitt sich hingegen 36,6 Prozent vom Kuchen ab. Im Vorjahr sahen die Zahlen ganz ähnlich aus. So täuscht denn der Rückgang des Anteils der in Armut lebenden Bevölkerung auf 40,2 Prozent von 54,3 Prozent auf dem Höhepunkt der Krise eher. Mit 330 Pesos (etwa 93 Euro) Monatseinkommen ist die Armutsgrenze sehr niedrig angesetzt. Tatsächlich hat sich der Graben zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren extrem vertieft: 1991 zu Beginn der neoliberalen Reformen und der  Privatisierungs- welle war das Einkommen des obersten Zehntel der Bevölkerung 15,2 mal so groß, wie das des untersten Zehntels. 2001 verfügten die Reichsten bereits über 28,7 mal soviel wie die Ärmsten, und ein Jahr später, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, war der Faktor auf 33,6 gestiegen. Oder anders ausgedrückt: Im Jahre 2004 entfielen auf die 30 Prozent Reichsten annähernd Zweidrittel des Volkseinkommens (65,1 Prozent), während sich die unteren 40 Prozent der Bevölkerung mit 12,2 Prozent begnügen mussten.

Hinzu kommt, dass die nominalen Einkommenszuwächse in den unteren Einkommensgruppen von der Inflation aufgefressen werden. Mit rund elf Prozent ist sie 2005 wieder in den zweistelligen Bereich zurückgekehrt und weckt bei vielen Argentiniern Erinnerungen an die hochinflationären Zeiten zu Beginn der 1990er Jahre. Im Dezember 2003 lag der Reallohn um rund 17 Prozent unter dem Wert von 2001. Die staatlichen Angestellten verdienten real sogar 27,2 Prozent weniger. Für die unteren Einkommensgruppen ist der Lohnverlust noch gravierender, da der Preisanstieg der Grundnahrungsmittel deutlich über der Inflationsrate lag, mit der die Reallöhne berechnet werden. Ein Teil der Erklärung für den sich vertiefenden Graben zwischen Arm und Reich liegt darin, dass in der Industrie heute die Produktion in etwa auf dem Niveau von 1997 angelangt ist, allerdings mit deutlich weniger Arbeitern und längeren Arbeitszeiten. Die offizielle Arbeitslosigkeit beträgt trotz traumhaften Aufschwungs noch immer rund elf Prozent, und Arbeitsplätze werden fast ausschließlich im informellen Sektor geschaffen.

Angesichts dieser Bedingungen sind Streiks an der Tagesordnung. In der privatisierten U-Bahn in Buenos Aires kommt es bereits seit einem Jahr immer wieder zu Arbeitsniederlegungen, zuletzt im November. Der U-Bahnbetreiber Metrovias hat zwölf Subunternehmen gegründet, um die Arbeiter aufzuspalten. Diese beklagen sich über Arbeitszeiten von zehn bis zwölf Stunden am Tag für Löhne, die in den ausgegliederten Unternehmen oft nur bei 500 bis 600 Pesos (142 bis 170 Euros) liegen. Auch in Bereichen, in denen die Arbeitszeit aus Sicherheitsgründen auf sechs Stunden am Tag gesetzlich begrenzt ist, würden die Arbeiter zur Mehrarbeit gezwungen, heißt es bei der Gewerkschaft der U-Bahner. Kein Wunder , dass eines der wichtigsten Anliegen der CTA-Gewerkschafter die Renationalisierung der privatisierten Unternehmen ist.

(wop)