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Kommentar:

Klassengesellschaft

Vor etwas über einem Jahr sah es in Schleswig-Holstein für einen Augenblick so aus, als würde die flächendeckende Gemeinschaftsschule bis zum 10. Schuljahr eingeführt. Eine Quasi-Koalition aus SSW, SPD und Grünen wollte endlich den seit Jahrzehnten überfälligen Schritt aus der bildungspolitischen Steinzeit in die Gegenwart wagen. Doch das entpuppte sich als Traum. Ein Unbekannter in der sozialdemokratischen Landtagsfraktion verhinderte die Wiederwahl Simonis und erzwang damit die große Koalition. Die Gemeinschaftsschule blieb auf der Strecke, und unsere Kinder und Enkel werden weiter mit dem dreigliedrigen Schulsystem geplagt, diesem Abbild der preußischen Klassengesellschaft, in dem Gesamtschulen oft den Namen nicht wert sind und nicht selten als Abstellgleis für frustrierte Pädagogen missbraucht werden.

Das Wesen des dreigliedrigen Schulsystems besteht im Aussieben. Im alter von zehn Jahren drückt man 20 bis 30 Prozent der Kinder den Stempel „Unbrauchbar“ auf die Stirn und steckt sie in schlecht ausgestattete Bewahranstalten, die so genannten Hauptschulen. Seit ein paar Jahren hat die Bundesrepublik schriftlich, dass dieses System im internationalen Vergleich mittelmäßige bis miese Bildungs-Ergebnisse zeitigt, zu den rigidesten Klassenschranken führt – Arbeiterkinder haben deutlich weniger Bildungschancen – und zur Ethnisierung sozialer Spannungen – Einwandererkinder lässt man ohne die notwendige sprachliche Förderung an den Hürden des selbst für deutsche Arbeiterkinder kulturell fremden Bildungssystems scheitern. Selbst mit guten Leistungen bekommen sie oft nur eine Hauptschulempfehlung.

Das ist der Hintergrund über die jüngste Aufregung um eine Berliner Hauptschule. Wundert es eigentlich jemanden ernsthaft, dass diese Bewahranstalten ein Hort von Frustration und Gewalt sind? Meint jemand, die Elf-, Zwölf-, oder 13jährigen lesen keine Zeitung, hören keine Nachrichten und wüssten nicht, dass diese Gesellschaft ihnen nichts zu bieten hat? Glaubt jemand, dass der Rassismus, der dieser Gesellschaft aus jeder Pore trieft, an den Seelen dieser Kinder ohne Schaden bleibt? Ist eigentlich die Perfidie jener konservativen Politiker noch zu überbieten, die auf die Berliner Schulkrise nur mit den immer gleichen Law-and-Order-Sprüchen reagieren?  (wop)