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BRECHT dem Kapital die Gräten

Im Jahr 2006 jährte sich zum 50. Mal der Todestag Bertolt Brechts. Inzwischen haben die meisten Zeitungen Brecht abgefeiert. Die LinX noch nicht. Ist ja auch kein Pflichtprogramm. Aber bei den Vorarbeiten zu einer Bildungsveranstaltung habe ich einen Text durchgesehen, den ich vor sieben Jahren anlässlich des hundertsten Geburtstages von Bert Brecht für die antifaschistische Zeitung „enough is enough“ geschrieben habe. Im gleichen Jahr, 1998, jährte sich zum 80. Mal der Kieler Matrosenaufstand, mit dem das Signal zur deutschen (November-)Revolution gegeben wurde. Vielleicht ist dieser Artikel im November 2006 auch für die LeserInnen der LinX noch von Interesse.  - D.L.

... alle Macht den Räten!“ – So riefen wir 1968. Von B. B. wusste ich damals nicht viel. Aber  Brechts Bertolt wäre sehr dafür gewesen. 100 Jahre wäre Bertolt Brecht in diesem Jahr geworden. 20 Jahre alt war er, als die Idee der Rätemacht in Gestalt der Arbeiter- und Soldatenräte auch in Deutschland für kurze Zeit zur materiellen Gewalt wurde. Brecht selbst hatte damals die Suche, das Ringen um einen Standpunkt in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, der ihn schließlich an die Seite der kämpfenden ArbeiterInnen und ihrer revolutionären Organisationen führte und ihn nicht zuletzt zu einem hochrangigen marxistischen Philosophen werden ließ, erst begonnen.

Zu Brechts Geburtstag gab es bereits … viele Feierstunden. Manch Lakai der herrschenden Klasse fühlte sich bemüßigt, das Wort zu ergreifen und – man hat schließlich Kultur und zur Zeit wenig Angst – den Toten mit vorgeblich ehrenden Worten zu beleidigen. Zu ihnen gehört unser Bundespräsident. (Das war damals Roman Herzog. Von Horst Köhler ist mir keine nennenswerte Äußerung zu Brecht bekannt. Die Auslassungen in den bürgerlichen Feuilletons des Jahres 2006 waren in der Regel nicht intelligenter. ( D.L.)

Meine Annäherung an Brecht ist die eines „lesenden Arbeiters“. (Für die Anführungsstriche gäbe es gar keinen Grund, wäre dieser Begriff nicht auch ein Brecht-Zitat.) Mir erscheinen auch Brechts Theaterstücke und seine Art, Theater zu spielen zu lassen sehr aktuell, äußerst anregend und anspornend zum Handeln, anspornend auch zum Weiterschaffen in seinem Sinne und Weiterentwickeln seiner Denkanstöße. Aber nicht um Theaterstücke soll es hier gehen. Ich möchte vor allem auf zwei Arbeiten Brechts aufmerksam machen und zur Beschäftigung mit ihnen auffordern, weil diese Beschäftigung Genuss bereitet, eine geistige und politische Herausforderung darstellt und unserem heutigen Kampf nützlich sein kann.

Die chimesische Revolution

„Als Chima, das Land der Mitte, das auf keiner Karte verzeichnet ist, vier Jahre lang mit 37 Völkern im Krieg verharrt hatte, zeigte es zum Schrecken seiner Regierung Zeichen von Entmutigung. Bevor die Armeen, die alle auf feindlichem Boden kämpften, zu weichen und die Bevölkerung sich in einem Aufruhr zu erheben begann, hatten die Überlebenden ihre Toten schon in Papier begraben und Gras gegessen. Das Volk war eines der geduldigsten, über das je eine Regierung verfügt hatte, und auch sein Aufruhr war noch sanftmütig. Er entstand aus Ordnungsliebe. Die Soldaten mussten zurückgebracht werden, und die Offiziere waren wohl fähig, das heißt in den Schulen geschult, sie in Feindesland, aber weder durch Bücher noch durch Übungen darauf vorbereitet, sie in die Heimat zu führen. Einige Soldaten liefen tagelang herum, um Armbinden aufzutreiben, die sie als Ordner und Revolutionäre kennzeichnen sollten und, gründlich, wie sie waren, fanden sie solche ... “

„Es war die allgemeine Meinung, dass man die Ordnung, die überall ausbrach, als die Herrschenden ihren Krieg, den sie mit großem Gewinn, aber weniger äußerem Erfolg geführt hatten, aufgeben und verloren geben mussten, nur dem Bestehen einer revolutionären Partei verdankte, die sich sogleich an die Spitze der Bewegung des Volkes setzte. Diese Partei, die sich die Partei des gleichberechtigten Volkes nannte, da ihre Parole forderte, das Volk solle mit den Herrschenden gleichberechtigt sein, konnte in diesen allgemein als gefährlich angesehenen Tagen ihre historische Aufgabe nur deshalb erfüllen, weil sie schon seit langem bestand, ein hohes Alter erreicht hatte und aus dem politischen Leben schon gar nicht mehr wegzudenken war, und weil sie sehr groß war. Ohne diese Eigenschaften hätte sie kaum verhindern können, dass etwas geschah. Als die Front ins Wanken geriet, setzten sich einige der Tuis der revolutionären Partei in den Zug und fuhren in das Quartier der Generäle, um durch Reden die sinkende Moral der Truppen wieder zu heben. Sie wurden zu einem großen Haus geführt, das in einem Park lag, und es wurde ihnen gesagt, die Generäle säßen eben beim Essen und würden sie nach dem Kaffee empfangen. Sie standen ein paar Stunden vor dem Haus, in Gespräche vertieft. Da es regnete und sie, um nicht einen unmilitärischen Eindruck zu machen, ihre Regenschirme daheimgelassen hatten, wurden sie ziemlich durchnässt und froren. Sie befürchteten schon, man könne sie vergessen haben, als eine halbe Kompanie Soldaten, von denen einige rote Armbinden trugen, in den Hof kamen, ihnen mitteilten, die Revolution sei ausgebrochen und sie auf die Schultern hoben und als Führer begrüßten.Sie beruhigten sich schnell und es gelang ihnen, am Abend des übernächsten Tages doch noch bei einem Adjutanten eines der Generäle vorgelassen zu werden. Er versicherte ihnen, dass man den aufrührerischen Soldaten nichts in den Weg legen würde, wenn die Ordnung gewahrt bleibe.

Beinahe noch größeres Glück hatte die revolutionäre Partei in der Hauptstadt. Zu ihrer Überraschung fand sie, ohne lange suchen zu müssen, noch einen Prinzen, einen nahen Verwandten des Kaisers, der sich eben in jenen Tagen als Revolutionär entpuppte, den bisher nur seine hohe Stellung von der Äußerung seiner wahren Gefühle zurückgehalten hatte und der jetzt forderte, der Kaiser müsse  ab- danken. Die Führer der revolutionären Partei hatten zunächst einige Bedenken, da ein solcher Fall nicht vorgesehen war, aber der Prinz handelte. Die Umgebung des Kaisers hielt die Nachricht von der Forderung des revolutionären Prinzen vor dem hohen Herrn einige Tage zurück, aber dann bekam er doch Wind von der Sache und fuhr, bevor man ihn besänftigen konnte, über die Grenze zu fürstlichen Verwandten.“

Dies ist ein Abschnitt aus einem Werk, an dem Brecht von 1931 an arbeitete und das er doch nie vollendete: aus dem „Tui-Roman“, der Fragment blieb. Es gehört zu einem umfangreichen literarischen Komplex, zu dem als einzig fertiges Stück „Turandot oder Der Kongress der Weißwäscher“ gehört. Alle Arbeiten an diesem Komplex behandelten nach Brechts Worten „den Missbrauch des Intellekts“. „Nach allgemeiner Ansicht begann in diesen Tagen jenes Zeitalter in Chima, das die Zeit der Herrschaft des Geistes genannt wurde, nämlich die große Zeit der Tuis. Tuis wurden in Chima, mit einer Zusammenziehung der Anfangsbuchstaben, die Angehörigen der Kaste der Tellekt- Uell-Ins, der Kopfarbeiter, genannt. Sie waren in großer Anzahl über das Land verbreitet und zwar als Beamte, Schriftsteller, Ärzte, Techniker und Gelehrte vieler Fächer, auch als Priester und Schauspieler. In den großen Tuischulen erzogen, verfügten sie über das  ge- samte Wissen ihrer Epoche. Sie hatten als Weißwäscher, Ausredner und Kopflanger des Kaisers an der seelischen Haltung des Volkes während des Krieges gearbeitet, und so war es natürlich, dass sie auch die Berufenen waren, den Frieden zu schließen ...“

Nicht alle Tuis sind schon immer Tuis gewesen. Manche haben sich den Zugang zu dieser Kaste hart erarbeitet - so etliche Führer der „Partei des gleichberechtigten Volkes“ wie Wei-Wei, Schi-meh und Nauk: „Alle drei waren einfache Leute ohne besondere Schulbildung gewesen, hatten sich aber, in den Abendstunden nach der Arbeit, selbst zu Tuis ausgebildet.“ Nun können sie ihre Funktion im System erfüllen.

„Die goldene Zeit der Tuis ist die liberale Republik, aber den Gipfel erklimmt der Tuismus im Dritten Reich. Der Idealismus, auf seiner niedersten Stufe angelangt, feiert seine gigantischen Triumphe.“ (Brecht 1934)

Das eigentliche Thema des „Tui-Romans“ ist die Weimarer Republik, ihre Vorgeschichte, ihre Entstehung, ihr absehbarer Untergang. Die Darstellung des Prozesses: verfremdet, um sein Wesen um so deutlicher hervortreten und begreifbar werden zu lassen. Die obigen Zitate mögen das belegen und zum Weiterstöbern anregen. Es gibt große Satire zu entdecken. Ausgesprochen köstlich etwa der Abschnitt über die Ausrufung der chimesischen Republik. Chima ist Deutschland, die oben genannten Volksvertreter sind, beim Lesen des Textes leicht erkennbar, Ebert, Scheidemann und Noske.

In seiner Planskizze zum Roman schreibt Brecht unter anderem: „Grundlinie: Das Eigentum ist bedroht, weil das Elend zu groß wird. Die Tuis verteidigen die Kultur (welche auf das Eigentum aufgebaut ist). Sie haben eine langjährige Freiheit genossen, da ihre Redereien nicht wesentlich geschadet haben. In ihnen hat sich die Überzeugung festgesetzt, dass der Geist die Materie bestimmt. Dieser Geist schien ihnen frei. (Die Schiedsrichter.) Da sie z.B. in Zeitungen schrieben, die nicht ihr Eigentum waren, schrieben sie gelegentlich auch gegen das Eigentum. Sie durften es, so lange die Zeitungen dadurch Geld verdienten, also das Eigentum vermehrt wurde.“ Der Stellung der „Kulturschaffenden“ in dem genannten Prozess gilt Brechts besondere Aufmerksamkeit. Es geht ihm ja auch darum, seinen eigenen Platz, die von ihm zu erfüllenden Aufgaben im positiven Sinne zu definieren. Dazu später mehr. Als nicht verschlüsselte Definition der Tuis gibt Brecht: „Der TUI ist der Intellektuelle dieser Zeit der Märkte und Waren. Der Vermieter des Intellekts.“

Mit der Niederschlagung der (November-)Revolution begann der Weg in den Faschismus. In Chima kommt der „Hu-ih“ an die Macht, „das Volk ist unter die allerverlumptesten, korruptesten Tuis gefallen.“ Über den geplanten Tui-Roman schreibt Brecht auch: „ … dass die erstmalige Anwendung der Demokratie ihre Aufhebung ergibt; dass das befreite Volk diktiert, es müsse beherrscht werden, ist der Hauptwitz des Buches.“

Eine zynische Behandlung des Volkes allerdings ist Brecht fremd. Und von den Intellektuellen, gerade von den Schriftstellern, fordert er in diesen Jahren vor allen Dingen, ihre Fähigkeiten in den Dienst des Kampfes gegen den Faschismus zu stellen und sich mit der  Gesellschaftsklasse zu verbinden, die mit ihrem Kampf den Faschismus mit seinen Wurzeln ausrotten kann.

- Fortsetzung in der nächsten „LinX“ -