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BRECHT dem Kapital die Gräten! - 2. Teil

Vor 50 Jahren starb Bertolt Brecht. In der letzten LinX begannen wir mit dem Abdruck eines Artikels, der vor acht Jahren zu Brechts 100. Geburtstag geschrieben wurde. Hier nun der zweite und letzte Teil.

„Einen der Gründe für die erschreckende Folgenlosigkeit unserer kulturellen Bemühungen erblicken wir darin, dass wir uns gemeinhin mit unseren Arbeiten, die für ‘alle’ bestimmt waren, zum Wohle ‘aller’ dienen sollten, allzu unbestimmt wiederum an alle wandten. Die Entwicklung in Deutschland lehrt uns, dass keineswegs alle für alle sind und dass nur eine ganz bestimmte, sich eben dadurch von allen anderen Schichten unterscheidende Schicht von Menschen bereit ist, die Interessen aller zu vertreten. Es ist dies die Schicht, die bei Strafe des Untergangs, oder besser weil sie durch die Gesellschaftsordnung dazu verdammt ist, ständig unterzugehen, weil eben ihr Untergang den Wohlstand aller erzeugt, die Interessen aller vertreten muss. Auch diese Schicht muss aber, um dies zu können, erst organisiert und dazu instand gesetzt werden. Es ist die Schicht des Proletariats.“ (Aus: „Plattform für die linken Intellektuellen“, 1937)
1935 bereits hatte Brecht auf dem 1. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur (der ihm nach eigenem Bekunden viel Material für seine Arbeiten am Tui-Projekt lieferte) „eine notwendige Feststellung im Kampf gegen die Barbarei“ gemacht, die ich allen AntifaschistInnen ans Herz legen möchte.

„Die Schriftsteller, welche die Gräuel des Faschismus erfahren, am eigenen oder am fremden Leibe, und darüber entsetzt sind, sind mit dieser Erfahrung und mit diesem Entsetztsein noch nicht ohne weiteres imstande, diese Gräuel zu bekämpfen. Es mag mancher glauben, dass die Schilderung dieser Gräuel genüge, besonders wenn großes literarisches Talent und echter Zorn die Schilderung eindringlich machen. In der Tat sind solche Schilderungen sehr wichtig. Hier geschehen Gräuel. Das darf nicht sein. Hier werden Menschen geschlagen. Das soll nicht geschehen. Was braucht es da langer Erörterungen? Man wird aufspringen und den Peinigern in den Arm fallen. Kameraden, es bedarf der Erörterungen.

Man wird vielleicht aufspringen, das ist nicht so schwer. Aber dann kommt das In-den-Arm-Fallen, und das ist schon schwerer. Der Zorn ist da, der Gegner bezeichnet; aber wie bringt man ihn zu Fall? Der Schriftsteller kann sagen: Meine Aufgabe ist es, das Unrecht zu denunzieren, und er kann es dem Leser überlassen, damit fertig zu werden. Aber dann wird der Schriftsteller eine sonderbare Erfahrung machen. Er wird merken, dass der Zorn wie das Mitleid etwas Mengenartiges ist, etwas, was in der und der Menge vorhanden ist und ausgehen kann. Und das schlimmste ist: es geht aus in dem Maße, in dem es nötiger wird. Kameraden sagten mir: Als wir zum ersten Male berichteten, dass unsere Freunde geschlachtet wurden, gab es einen Schrei des Entsetzens und  viele Hilfe. Da waren hundert geschlachtet. Aber als tausend geschlachtet waren und des Schlachtens kein Ende war, breitete sich Schweigen aus, und es gab nur mehr wenig Hilfe. So ist es: ‘Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar. Wenn die Leiden unerträglich werden, hört man die Schreie nicht mehr. Ein Mensch wird geschlagen, und der zusieht, wird ohnmächtig. Das ist nur natürlich. Wenn die Untat kommt, wie der Regen fällt, dann ruft niemand mehr halt.’“ – Dies ist eine Erfahrung, die wir im Kleinen auch heute schon machen konnten, nach dem Rostocker Pogrom und den vielen Brandanschlägen und Gewalttaten der heutigen Nazis in den vergangenen Jahren...

„Der Mensch verweilt nicht bei dem Schmerz eines andern, wenn er ihm nicht helfen kann. (...) ...wenn man den Schlag aufhalten kann, wenn irgendeine, selbst eine schwache Möglichkeit dazu besteht, dann kann man Mitleid haben mit dem Opfer. Man kann es auch sonst, aber nicht lang, jedenfalls nicht so lang, als auf das Opfer die Schläge sausen. Also: Warum fällt der Schlag?  Warum wird die Kultur über Bord geworfen wie ein Ballast, jene Reste der Kultur, die uns übrig geblieben sind; warum das Leben von Millionen Menschen, der allermeisten Menschen so verarmt, entblößt, halb oder ganz vernichtet?

Einige von uns ... antworten: aus Rohheit. (...) Sie sprechen ... von vernachlässigter Erziehung des Menschengeschlechts. Irgend etwas wurde da versäumt oder konnte in der Eile nicht gemacht werden. Man muss es jetzt nachholen. Man muss gegen die Rohheit die Güte einsetzen. Man muss die großen Wörter hervorrufen, die Beschwörungen, die schon einmal geholfen haben, die unvergänglichen Begriffe: Freiheitsliebe, Würde, Gerechtigkeit, deren Wirkung historisch verbürgt ist. Und sie wenden die großen Beschwörungen an. Was geschieht: Den Hinweis darauf, dass er roh sei, beantwortet der Faschismus mit dem fanatischen Lob der Rohheit. Angeklagt, er sei fanatisch, antwortet er mit dem Lob des Fanatismus. Bezichtigt, er verletzte die Vernunft, schreitet er wohlgemut zu einer Verurteilung der Vernunft. (...) ... jene von uns, die das Grundübel in der Rohheit, der Barbarei erblicken, sprechen ... nur von Erziehung, nur von Eingriffen in die Geister - keinen anderen Eingriffen jedenfalls. Sie sprechen von der Erziehung zur Güte. Aber die Güte wird nicht von der Forderung nach Güte kommen, nach Güte unter allen Bedingungen, selbst den schlimmsten, so wie die Rohheit nicht von der Rohheit kommen kann. (...) Die Rohheit kommt nicht von der Rohheit, sondern von den Geschäften, die ohne sie nicht mehr gemacht werden können. (...) Wir haben heute in den meisten Ländern der Erde gesellschaftliche Zustände, in denen die Verbrechen aller Art hoch prämiiert werden und die Tugenden viel kosten. ‘Der gute Mensch ist wehrlos, und der Wehrlose wird niedergeknüppelt, aber mit der Rohheit kann man alles haben. Die Gemeinheit richtet sich ein auf 10 000 Jahre. Die Güte dagegen braucht eine Leibwache; aber sie findet keine.’

Hüten wir uns, sie von den Menschen einfach zu verlangen! Möchten doch auch wir nichts Unmögliches verlangen! Setzen wir uns nicht dem Vorwurf aus, wir kämen, auch wir, mit Appellen an die Menschen, Übermenschliches zu leisten, nämlich durch hohe Tugenden furchtbare Zustände zu ertragen, welche zwar geändert werden können, aber nicht geändert werden sollen! Reden wir nicht nur für die Kultur!

Erbarmen wir uns der Kultur, aber erbarmen wir uns zuerst der Menschen! Die Kultur ist gerettet, wenn die Menschen gerettet sind. (...) Kameraden, denken wir nach über die Wurzel der Übel!

Viele von uns Schriftstellern ... haben die Wurzel der Rohheit, die sie entsetzt, noch nicht entdeckt. Es besteht immerfort bei ihnen die Gefahr, dass sie die Grausamkeiten des Faschismus als unnötige Grausamkeiten betrachten. Sie halten an den Eigentumsverhältnissen fest, weil sie glauben, dass zu ihrer Verteidigung die Grausamkeiten des Faschismus nicht nötig sind. Aber zur Aufrechterhaltung der herrschenden Eigentumsverhältnisse sind diese Grausamkeiten nötig. (...) Diejenigen unserer Freunde, welche über die Grausamkeiten des Faschismus ebenso entsetzt sind wie wir, aber die Eigentumsverhältnisse aufrechterhalten wollen oder gegen ihre Aufrechterhaltung sich gleichgültig verhalten, können den Kampf gegen die so überhand nehmende Barbarei nicht kräftig und nicht lang genug führen, weil sie nicht die gesellschaftlichen Zustände angeben und herbeiführen helfen können, in denen die Barbarei überflüssig wäre. Jene aber, welche auf der Suche nach der Wurzel der Übel auf die Eigentumsverhältnisse gestoßen sind, sind tiefer und tiefer gestiegen, durch ein Inferno von tiefer und tiefer liegenden Gräueln, bis sie dort angelangt sind, wo ein kleiner Teil der Menschheit seine gnadenlose Herrschaft verankert hat. Er hat sie verankert in jenem Eigentum des einzelnen, das zur Ausbeutung des Mitmenschen dient und das mit Klauen und Zähnen verteidigt wird, unter Preisgabe einer Kultur, welche sich zu ihrer Verteidigung nicht mehr hergibt oder zu ihr nicht mehr geeignet ist, unter Preisgabe aller Gesetze menschlichen Zusammenlebens überhaupt, um welche die Menschheit so lang und mutig verzweifelt gekämpft hat.

Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!“

Bleibt anzumerken, dass Brecht, der mit diesen Ausführungen nicht bei allzu vielen der angesprochenen Kameraden auf  Zustimmung stieß, immer ein Verfechter der Einheitsfront gegen den Faschismus und der durch Eindeutigkeit des eigenen Standpunkts und rückhaltloser gegenseitiger Kritik erst möglichen Zusammenarbeit aller Hitlergegner blieb.

Brecht, der Kommunist, Brecht, der die Feststellung traf: „Wer den Privatbesitz an Produktionsmitteln nicht preisgeben will, der wird den Faschismus nicht loswerden, sondern ihn brauchen“ - dieser Brecht eignet sich erkennbar nicht zur Vereinnahmung durch all die StaatsvertreterInnen, die in widerwärtiger Scheinheiligkeit aus Anlass seines 100. Geburtstages ihre kulturpolitische Toleranz zur Schau stellten. Einer von ihnen war Roman Herzog (damals Bundespräsident – D.L.), der mit einer „leichten Korrektur“ Brechts Vermächtnis für obsolet erklären wollte:“ In diesen Tagen“, so sprach er am 10.2.98 in der Berliner Akademie der Künste, „wird sicher oft das Gedicht zitiert, in dem Brecht sich selber einen Grabspruch formuliert: ‘Ich benötige keinen Grabstein, aber / Wenn Ihr einen für mich benötigt / wünschte ich, es stünde darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären wir alle geehrt.’ Vielleicht darf man Brecht hier leicht korrigieren. Vielleicht sollte man, würde man ihm heute ein Denkmal setzen, lieber darauf schreiben: ‘Er hat Fragen formuliert. Wir haben uns ihnen gestellt.’“ Hier preist einer seinen Mut, der sich als Sieger der Geschichte sieht. „Das Unrecht geht einher mit sicherem Schritt / Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre./ Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es. / Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden. / Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut: Jetzt beginne ich erst.“  Herzog und seinesgleichen haben sich allen Fragen tapfer gestellt und sie so beantwortet, dass Brechts Aufforderungen zum Handeln von ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben. Indem Herzog den zur Zeit siegreichen und so stark erscheinenden Kapitalismus verteidigt und selbst Brecht noch „leicht korrigiert“ für seine Ziele vereinnahmen will, ihn als „in die Tradition des deutschen Humanismus“ gehörig bezeichnet, „der immer wieder ‘den Boden bereiten will für Freundlichkeit’“, vergisst, verdrängt oder verschweigt er, dass die, die diesen Boden bereiten, oft selbst nicht freundlich sein können, und dass er selbst zu der Klasse zählt, zu der Brecht nicht freundlich sein wollte. „Unsere Gegner sind die Gegner der Menschheit. Sie haben nicht ‘recht’ von ihrem Standpunkt aus: das Unrecht besteht in ihrem Standpunkt. Sie müssen vielleicht so sein, wie sie sind, aber sie müssen nicht sein.“ „Güte“, schrieb Brecht 1932, also vor dem Sieg des Faschismus, im gleichen Aufsatz weiter, „bedeutet heute, wo die nackte Notwehr riesiger Massen zum Endkampf um die Kommandohöhe wird, die Vernichtung derer, die Güte unmöglich machen.“
Tragen wir das unsere dazu bei, dass Güte möglich wird. Die Beschäftigung mit Brecht kann uns dabei helfen.

(Dietrich Lohse)