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Fremdenfeindlichkeit

Die ersten Nachrichten aus Mügeln lauteten „Massenschlägerei beim Altstadtfest: im sächsischen Mügeln hat eine Gruppe deutscher Jugendlicher acht Inder vom Festgelände bis in eine Pizzeria verfolgt und dort weiter attackiert." Es dauerte weit über eine Stunde, bis ein aufmerksamer Agentur-Kollege, eine aufmerksame Kollegin die ‚Massenschlägerei’’ durch ‚Hetzjagd’ ersetzte.

Wir begrüßen diese Änderung. Die Vorstellung, dass hier in Redaktionen Menschen sitzen, die die Verfolgung von acht Indern durch 50 Deutsche als Massenschlägerei bezeichnen, hat etwas Albtraumhaftes. Von dort bis zur Vorstellung, die acht seien die wahren Aggressoren, ist es nur noch ein kleiner Schritt. Es erinnert an die schrecklichen Szenen, als die Regierung Kohl auf das Anzünden von Asylantenheimen mit einer Debatte über die Einschränkung der Zuwanderung reagierte. Damals hatten Begriffe wie ‚Überfremdung’ eine mörderische Konjunktur.

Was im Einzelnen in Mügeln abgelaufen ist, wissen wir noch nicht. Immerhin hat die Polizei bereits erklärt einige Mitglieder der Hetzmasse identifiziert zu haben. Das ist ein Fortschritt. Es hat vergleichbare Situationen gegeben, bei der Polizisten in noch kleineren Ortschaften behauptet hatten, sie hätten keinen der Schläger erkannt. Es ist freilich schrecklich genug, dass wir das Selbstverständliche hervorheben müssen, dass wir eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit - dass nämlich die Polizei ihre Aufgabe erfüllt - als  Er- rungenschaft registrieren müssen. Wir müssen es, weil wir, wenn wir es verschweigen, uns über die wahre Lage im Lande  hinwegtäuschen.

Über die täuscht allerdings auch hinweg, wer - wie jetzt in Mügeln geschehen - behauptet, ein fremdenfeindicher Hintergrund sei zwar nicht auszuschließen, aber auch noch nicht zu erkennen. Der Bürgermeister, der sich nicht entblödete, der rechtsradikalen ‚Jungen Freiheit’ zu erklären, er bedauere den mangelnden Nationalstolz in Deutschland und sei selbst „stolz, ein Deutscher zu sein“, hat sich für jede Beurteilung der Vorgänge disqualifiziert. Mügeln hat kein ‚Naziproblem’, sondern einen Bürgermeister, der offenkundig kein Problem mit den Nazis hat.

Ohne Fremdenfeindlichkeit wäre das, was in Mügeln geschah, nicht möglich gewesen. Nicht ohne die Fremdenfeindlichkeit der Täter und nicht ohne die Fremdenfeindlichkeit der Zuschauer. Es sei, so erklärt die Polizei, einigermaßen schwierig angesichts der Menge der Festteilnehmer, die Täter herauszufinden. Das sagt uns allerdings auch, dass es sehr, sehr viele Zuschauer gab, die die Täter, selbst wenn sie ihnen nicht applaudierten, ihre Tat tun ließen.

Wir würden uns wohler fühlen, wenn es in Mügeln eine ‚Massenschlägerei’ gegeben hätte. Dann hätten nämlich 50, die die indischen Festbesucher über den Marktplatz in die Thälmannstraße hetzten, mindestens 50 gegenübergestanden, die die Gäste gegen den einheimischen Mob verteidigt hätten. Es hätte sicher mehr Verletzte gegeben. Aber wir im fernen, vielleicht wirklich etwas sicheren Kiel hätten das Gefühl gehabt, auch in Mügeln gäbe es Menschen, die sich schützend vor ihre ausländischen Besucher stellen. Es lebt sich angenehmer in einem Land, in dem Menschen mit anderer Hautfarbe, mit vielleicht einem Turban auf dem Kopf, nicht um ihr Leben rennen müssen, weil ein paar durchgedrehte Nazis Inder ‚klatschen’ wollen.

Es ist, auch das gehört zur Wahrheit der Ereignisse dieses Sonntags, verhältnismäßig wenig passiert. Fünfzig gegen acht - da hätte es leicht einen Toten geben können. Ein Inder und ein Deutscher mussten ins Krankenhaus. Ansonsten gab es nur kleinere Verletzungen. Aber das ist kein Grund, das ganze für einen Spuk zu halten.

Vor kurzem erschien von Irène Némirovsky „Die Hunde und die Wölfe", ein Roman aus dem Jahre 1940. Der erste Teil des Buches spielt im zaristischen Russland vor dem Ersten Weltkrieg. Ein entscheidendes Kapitel schildert ein Pogrom. Die erste Nacht werden die Juden von ihren christlichen Mitbewohnern durch die Straßen gehetzt. Fensterscheiben werden eingeschlagen, ein paar Türen eingetreten, Steine fliegen. Die pogromerfahrenen Alten packen zwar ihre Koffer für die Flucht, sie bleiben aber noch. „Solange die Soldaten nicht kommen, ist es zu ertragen", sagen sie. Die Nacht darauf kommen die Soldaten. Sie brand-
schatzen, vergewaltigen und morden.

In Mügeln fand am besagten Sonntag der erste Akt eines Pogroms statt. Alles hängt davon ab, dass das Stück abgesetzt wird. Entschlossen und ohne falsche Rücksichtnahmen auf den Konsens der Einwohner. Sie waren die Zuschauer der Nacht auf den Montag. Viele von ihnen sind mitgelaufen neben Tätern und Opfern. Sie haben sich nicht eingemischt. Sie haben sich nicht schützend vor die Fremden gestellt. Einige von ihnen schrieen „Ausländer raus!" und „Hier regiert der nationale Widerstand".

Die Polizei hat ihre Arbeit gemacht, ob sie sie gut gemacht hat, wissen wir noch nicht. Immerhin war sie seit Juli gewarnt, dass in diesem Jahr, bei diesem Altstadtfest es zu Hetzjagden kommen sollte.

Ob sie wirklich optimal vorbeireitet war, ob sie wirklich schnell genug eingegriffen hat, wird sich herausstellen. Schnell genug für die acht Inder war sie jedenfalls nicht. Die hatten sich ihren Besuch in Mügeln sicher anders vorgestellt. Man mag sagen: Sie mussten doch wissen, dass so etwas passieren kann. Aber wir müssen verhindern, dass so etwas passiert. Wir in Kiel und wir in Mügeln. Es darf keine national befreiten Zonen geben. Nirgendwo. Nicht nur, weil das schon vor Jahren das ‚Unwort des Jahres’ war. In Mügeln ging es darum, Ausländern zu sagen: Ihr habt hier nichts verloren! Wer das beschönigt und meint, es handele sich nur um Krawall, der sei daran erinnert: Das russische Wort für Krawall ist Pogrom.

csk