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Islamischer Fundamentalismus – Diskussion um ein Gespenst

Die muslimische Welt wird dieser Tage als die furchtbare Ausnahme in einer ansonsten friedlichen Welt gesehen. Doch man schaue bitte genauer hin. Alles andere wäre fatal. Auf beiden Seiten des Atlantiks mehrt sich gegenwärtig die Zahl der Intellektuellen und  Schriftsteller, die den "Westen" - und damit meinen sie vor allem: die liberalen Werte - glauben verteidigen zu müssen. Sie leben unter dem Eindruck, dass die liberalen Werte bedroht sind und dass man sich daher ihrer vergewissern muss. Sie wollen uns glauben machen, dass unsere Gesellschaften von starken, totalitären Mächten herausgefordert werden. Für diesen neuen Totalitarismus steht das Wort "Islam", wobei es dabei oft um alles geht, was islamisch ist, zuweilen um alle oder einige muslimische Staaten und manchmal auch um die "Bedrohung von innen", also um muslimische Minoritäten im Westen.

Alarmismus auf der Tagesordnung

Diese moralische Panik scheint in der Politik vor allem die xenophobe Rechte zu ergreifen, während sie unter Intellektuellen und Gelehrten in ganz unterschiedlichen Lagern, dafür aber um so sichtbarer verbreitet ist. Ihr Alarmismus prägt zwar noch immer die Sicht einer Minderheit. Aber sie zwingt den Debatten ihre polare Sichtweise auf. Fast ist es, als lebten wir in einer Welt, in der zwei große westliche Nationen vor kurzem okkupiert worden wären. Fast ist es, als wären zweihunderttausend muslimische Soldaten gegenwärtig dabei, diese Länder zu befrieden - dabei ist es doch genau andersherum. Wollte man sich ein wahrhaftigeres Bild von der gegenwärtigen Lage machen, sollte man sich daran erinnern, wie die Welt vor zwei Jahrzehnten, in den späten achtziger Jahren aussah. Damals war die Erde in drei "Welten" geteilt. Es gab eine Erste Welt, die - einschließlich Japan und Australien - auch "der Westen" genannt wurde.

Die Zweite Welt war das sozialistische Lager, mit der Sowjetunion in seiner Mitte. Dieses konkurrierte mit dem politischen und ökonomischen Liberalismus und verfügte über Tausende von Atomraketen. Unterdessen wurde die Dritte Welt von Ländern beherrscht, die vor nicht allzu langer Zeit von westlichen Ländern - direkt oder indirekt - kolonialisiert worden waren. Ihr Verhältnis zum Westen und zu den liberalen Werten war von mehr oder minder großen Vorbehalten geprägt, was verständlich genug war, hatten doch diese Werte im Umgang des Westens mit der Dritten Welt bis dahin keine große Rolle gespielt.

Und wo befinden wir uns heute? Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, der Auflösung der Sowjetunion, nach einer Reihe demokratischer Revolutionen in Europa, Lateinamerika, in Teilen Südostasiens und sogar in einigen afrikanischen Ländern leben ir in einer Welt, in der es mehr demokratische Staaten als je zuvor gibt - Staaten, die sich, unangefochten, zu liberalen Werten  bekennen. Und auch wenn China nach wie vor kein demokratischer Staat ist, so ist das Land doch weitgehend zu einer kapitalistischen Wirtschaft übergegangen und kein ideologischer Rivale mehr.

Aber - die muslimische Welt, die große, furchtbare Ausnahme in einer ansonsten friedlichen Welt! Doch schaue man genauer hin. Drei der größten muslimischen Länder sind nicht Teil dieser Ausnahme. Indonesien und die Türkei sind – bei allen Vorbehalten - tendenziell Demokratien und die muslimische Minderheit in Indien ist Teil eines demokratischen Gemeinwesens.

Nur wenn man den Blick auf die arabischen Länder begrenzt, erhält man eine Mehrheit undemokratischer Staaten. Obwohl es sich einwenden ließe, dass das Öl eine mindestens ebenso wichtige Rolle für die Erklärung dieses traurigen Zustands spielt wie die Religion. Doch nicht einmal die Tatsache, dass die arabische Welt zu einem großen Teil von autoritären Regimes beherrscht wird, stützt die These von einer massiven, totalitären Bedrohung. Tatsächlich sind die meisten Regimes im Nahen Osten pro-westlich gesonnen, und ihre Herrschaftsform ist westlich, nicht islamisch. Es gibt nur eine Handvoll Staaten, die islamistisch regiert werden - und Saudi-Arabien, nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan vermutlich das schlimmste islamische Regime, ist der engste Verbündete des Westens. Die beiden anderen unstrittig islamistischen Staaten sind Iran und der Sudan. Beide galten schon vor dem 11. September als verlorene Staaten.

Nun ließe sich vielleicht argumentieren, der politische Islam wachse vor allem außerhalb staatlicher Strukturen. Aber auch in dieser Hinsicht muss man differenzieren: Der Nahe Osten, einschließlich des politischen Islam, teilt sich in Sunniten und Schiiten, in Perser und Araber, in nationale Identitäten und Loyalitäten gegenüber einzelnen Staaten.

Wichtiger noch ist, dass nicht alle Spielarten des politischen Islam eine Bedrohung darstellen - oder überhaupt politische Phänomene, die verurteilt werden können. Das gilt besonders für die Türkei, die von einer Partei regiert wird, die sich zu islamischen Werten bekennt - und ausgerechnet eine von dieser Partei geführte Regierung hat seit dem Jahr 2002 mehr zur Entwicklung der Türkei hin zu einer stabilen Demokratie beigetragen als irgendeine ihrer säkular gesonnenen Vorgängerinnen.

Außerdem muss zwischen Islamisten mit einem regionalen Programm wie der Hamas und Fanatikern mit globalen Absichten wie dem Islamischen Dschihad unterschieden werden. Und schließlich ist aus der Muslimbruderschaft in Ägypten eine parlamentarische Opposition geworden, die der Gewalt abgeschworen hat, sich zur Wahl stellt und sich durchaus, falls sie an die Macht kommt, zu einer moderaten Regierungspartei entwickeln könnte. Eine solche Option muss für Ägypten nichts Schlimmeres darstellen als das herrschende System Mubaraks, das sich darauf vorbereitet, die Macht vom Vater auf den Sohn übergehen zu lassen.

Alles in allem: Es gibt keine geschlossen operierende, in sich einige islamische Bedrohung von existentiellen Ausmaßen. Die Idee einer solchen Bedrohung wäre nie ernst genommen worden, wäre sie nicht durch den globalen Terrorismus vitalisiert worden, insbesondere durch die extreme Unmoral und den spektakulären technischen Erfolg des 11. September.

Schwäche des Terrorismus

Die eindrücklichste Erfahrung, die wir mit dem globalen islamistischen Terror machen, ist daher - abgesehen von seiner schockierenden Gewalttätigkeit – die Erfahrung seiner Schwäche: Der Terror zielt nicht darauf, eine Revolution anzufachen, denn es gibt im Westen keine Massen, die bereit wären, sich zu erheben (in den islamischen Ländern gibt es sie in der Regel auch nicht). Er zielt nicht auf Machthaber oder strategische Einrichtungen, sondern darauf, Zivilisten auf möglichst spektakuläre Weise zu töten.

Die Terroristen selbst legen nicht einmal Wert darauf, zu überleben. Die einzige Stärke dieses Terrorismus besteht also darin, eine unserer höchsten zivilisatorischen Errungenschaften in Frage stellen zu können - den außerordentlichen Wert, den wir dem Leben des Einzelnen zumessen.

Es ist irritierend, ja schon fast peinlich, dass die westlichen Staaten, die zuerst den Rest der Welt durch den Kolonialismus gestalten, dann den Nationalsozialismus, den Faschismus und schließlich den Stalinismus überwanden, sich nun - von Auge zu Auge - durch einen islamistischen Terror existentiell bedroht sehen wollen. In dieser Wahrnehmung spiegelt sich eine Unfähigkeit, in historischen Relationen zu denken, deren eigentlicher Grund nicht nur in nahezu perversen Effekten globalisierter Nachrichtenmedien zu liegen scheint, sondern vor allem in einem erheblichen Maß an politischem Kalkül auf westlicher Seite.

Diese Entwicklung ist zutiefst problematisch - und zwar außenpolitisch so gut wie innenpolitisch. Und während ein anmaßender und übertriebener rhetorischer Umgang mit unseren Werten in der Weltpolitik eine amerikanische Besonderheit zu sein scheint, haben die Europäer eine eigene, üble Variante derselben Rhetorik in der Innenpolitik entwickelt. Wieder wird versucht, westliche Werte an nationale Kulturen und Identitäten zu binden. In den Debatten über Immigration und Integration kehrt ein offensiver Nationalismus zurück. Die Spannungen und sozialen wie ökonomischen Herausforderungen, die durch Einwanderung und wachsende ethnische Vielfalt entstehen, erhalten eine bösartige Schärfe, wenn sie von einer moralischen Panik angesichts einer vermeintlichen islamischen Bedrohung verschärft werden.

Fünfte Kolonne des Dschihad

Muslimische BürgerInnen verwandeln sich, ohne dass sie etwas dazu beigetragen hätten, in die fünfte Kolonne des Dschihad. Sogar die Tatsache, dass Einwanderer Kinder bekommen, wird als aggressiver Akt, als eine Art Eroberung verstanden. Dieses ganze Gerede ist unvereinbar mit liberalen Werten. Patriotismus und Nationalstolz mögen unvermeidliche Regungen sein. Aber sie werden gefährlich, wenn sie für politische Zwecke genutzt werden. Über den Grad an Gefährlichkeit wird man diskutieren können - doch sollten wir in der Lage sein zu erkennen, dass alle liberalen Werte, wenn sie an Ideen von nationaler Identität und Kultur gebunden werden, ihre Universalität einbüßen - und damit ihre Liberalität.

In der offensiven Beschwörung westlicher Werte - und in der bekennenden Gegnerschaft zu allem, was als islamisch erscheint - verbirgt sich ein Wille zur Regression, zu einem westlichen Fundamentalismus, der mit liberalen Werten nichts mehr im Sinn hat. Die Folgen einer solchen Regression sind möglicherweise fatal: Denn was wäre, wenn man einem realen, aber schwachen Feind nur deshalb nicht entgegentreten könnte, weil man ihn unbedingt für einen großen Dämon halten möchte?

csk