Als das IOC im Sommer 2001 Peking den Zuschlag für die Austragung der 29. Olympischen Sommerspiele erteilte, sah man dies in China als große Chance, der westlichen Welt zu zeigen, was diese eigentlich längst weiß – China ist innerhalb von zwei Jahrzehnten vom rückständigen stalinistischen Entwicklungsland zu einer modernen Industrienation gereift, die es vermag, dank immenser Devisen- einnahmen ‘Wunder’ zu vollbringen. China wollte die westliche Welt durch technokratische ‘Wunder’ beeindrucken. Im Westen interessieren Bauwerke und Wirtschaftsleistungen aber weniger – im Gegenteil. Man betrachtet China mit einer großen Skepsis und einer Mischung aus Respekt, Angst und Misstrauen. Was der Westen von China erwartet, ist ein gesellschaftspolitisches ‘Wunder’ – die Transformation einer isolierten Parteidiktatur in eine offene, demokratische Gesellschaft und dies – wenn möglich – sofort.
Die Haltung des Westens gegenüber China erinnert
an die Vorbehalte, die Vertreter des ‘Ancien Régime’ in vorrevolutionären
Zeiten gegenüber den Emporkömmlingen des Bürgertums pflegten.
Der steigende wirtschaftliche Einfluss und die zunehmende Macht werden
zwar argwöhnisch respektiert, geschäftlich verkehrt man auch
miteinander, die Mitgliedschaft in den exklusiven Klubs bleibt den ‘Emporkömmlingen’
jedoch verbaut. Dass China mit den Olympischen Spielen ‘100 Jahre nationaler
Demütigung’ durch den Westen kompensieren kann, wie es der China-Experte
Orville Schell einmal ausdrückte, ist unwahr-
scheinlicher denn je. Australien konnte mit den Olympischen
Spielen 2000 einen gigantischen PR-Erfolg feiern, die Fußballweltmeisterschaft
2006 hat Deutschland mehr eingebracht als hunderte von PR-Kampagnen, aber
in beiden Fällen konnte der Erfolg nur gelingen, weil die Botschaft
auch über gewogene Kanäle an die Empfänger übermittelt
wurde. Hätten britische Medien 2006 nicht über fröhliche
und lockere deutsche Gastgeber berichtet, sondern über prügelnde
Skinheads und umfassende Anti-
terrorgesetze, die die Bürgerrechte beschneiden
– der PR-Effekt wäre ausgeblieben.
Wenn man die Berichterstattung im Vorfeld der Olympischen
Spiele in Peking betrachtet, so stellt man schnell fest, dass sie überwiegend
kritisch ist. Diese Kritik ist gerechtfertigt, die Unterdrückung der
Meinungs- und Pressefreiheit, Internetzensur und der Umgang mit Dissidenten
müssen scharf kritisiert werden. Wer allerdings keine ‘Wunder’ erwartet,
sollte umfassender berichten und auch auf die Entwicklung eingehen. Eine
Doppelmoral hilft hier niemandem – den Chinesen am allerwenigsten. Chinesische
Dissidenten, wie beispielsweise Li Datong, weisen auf einen langsamen aber
steten Wandel zum Positiven bei der Presse- und Meinungsfreiheit hin, während
es den professionellen Menschen-
rechts-NGOs aus dem Westen nicht schnell genug gehen
kann. Amnesty International spricht in diesem Zusammenhang von einer Konterkarierung
der ‘olympischen Werte’, da es China nicht gelungen sei, den Forderungskatalog,
den Amnesty im Vorfeld der Olympischen Spiele formuliert hat, umzusetzen.
Der Katalog kann dabei durchaus als ‘Maximalforderung’ angesehen werden
und niemand hatte ernsthaft geglaubt, dass er umgesetzt würde.
Hat Amnesty im Vorfeld der Olympischen Spiele 1996 in
Atlanta eine Abschaffung der Todesstrafe in den USA gefordert? Hat Amnesty
eine Kampagne gegen Griechenland gestartet, da der griechische Staat 2004
in Athen ein 1,5 Mrd. $ teures Bespitzelungssystem aufgebaut hat, das mit
tausenden Überwachungs-
kameras und versteckten Mikrophonen das komplette Umfeld
der Olympischen Spiele überwacht hat? Griechische Intellektuelle sprachen
damals von einem ‘Superpanopticon’, einem Freiluftgefängnis, in dem
jeder und alles allseits von den Behörden überwacht wird. Die
nächsten Olympischen Sommerspiele 2012 in London werden das griechische
‘Superpanopticon’ sogar noch übertreffen – was wird Amnesty sagen,
werden Staatschefs der Eröffnungsfeier fortbleiben? Wobei die chinesische
Nomenklatur das Fortbleiben des Rechtsstaatsfreundes Silvio Berlusconi
durchaus als Realsatire verkaufen könnte.
Die Menschen- und Bürgerrechtslage in China ist freilich bedrohlicher als sie in Athen 2004 war oder in London 2012 sein wird. Aber ist dies überhaupt vergleichbar? Sowohl Griechenland, als auch Großbritannien sind westliche Demokratien, die die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte bei jeder Gelegenheit auf ihren Fahnen vor sich hertragen. Die Olympischen Spiele hatten und haben in beiden Ländern einen negativen Effekt. Über die Chimäre ‘internationaler Terrorismus’ wurde ein umfassendes Überwachungssystem etabliert, das an Orwells ‘1984’ erinnert. Chinas Maßnahmen zur Überwachung seiner Bürger sind nicht so elegant wie die des Westens. Spitzel, die Telefongespräche abhören oder Journalisten observieren, sind aus westlicher Position anachronistisch. Die Athener Computersysteme, die tausende Privatgespräche, die von versteckten Mikrophonen aufgezeichnet wurden, nach Schlüsselwörtern durchforsteten, sind für den Westen hingegen eine adäquate Maßnahme, um die Sicherheit von Sportgroßereignissen zu gewährleisten. Wenn ‘wir’ die Bürgerrechte auf dem Altar der Sicherheit opfern, so ist dies akzeptabel, da ‘wir’ es ja nur gut meinen. Wenn China dies tut, so ist dies inakzeptabel.
Dass Chinas Überwachungsstaat mit willfähriger Hilfe westlicher Unternehmen aufgebaut wurde, scheint die westliche Politik und die westlichen Medien nicht sonderlich zu stören. Ohne Unternehmen wie Google, Yahoo, Microsoft, Cisco oder Nortel wäre die chinesische Internetzensur nur schwer vorstellbar. Warum stellt die Bundesregierung nicht die Zusammenarbeit mit Unternehmen ein, die sich willfährig an der chinesischen Internetzensur beteiligen? Man belässt es lieber bei Lippenbekenntnissen, die tun niemand weh.
Der Sturm der Entrüstung über chinesische Zensur und Überwachung ist richtig! Wenn der Sturm der Entrüstung über westliche Zensur und Überwachung aber gleichzeitig ausbleibt, so ist dies höchst bedenklich. Diese Doppelmoral wird auch in China sehr genau wahrgenommen. Wenn Innenminister Schäuble demonstrativ der Eröffnungsfeier in Peking fernbleibt und ‘lageangepasst’ plant, zehn Tage später anzureisen, so ist dies nur noch grotesk.
Der Minister, der stets den Vorreiter gibt, wenn es darum geht, im eigenen Lande Freiheit gegen „Sicherheit” einzutauschen, gibt den integeren Bürgerrechtsverteidiger? Applaus ist ihm sicher.
In einem Punkt sind sich nahezu alle China-Experten einig
– die Olympischen Spiele könnten sich positiv auf das Verhältnis
zu China auswirken und die chinesische Zivilgesellschaft stärken.
Schaut man sich allerdings die teils harschen Abwehrreaktionen der chinesischen
Bevölkerung gegen die unlautere westliche Medienkampagne nach den
Unruhen in Tibet im Frühjahr an, so mag man zweifeln, dass dies gelingen
wird. Eine Neuauflage der Tibet-Kampagne während der Olympischen Spiele
ist bereits seitens der vom Westen finanzierten Organisatoren angekündigt
und hat begonnen. China ist alles andere als perfekt – ein Staat mit vielen
Fehlern, der sich langsam öffnet. Wenn der Westen der Meinung ist,
er müsse den Versuch, ‘100 Jahre nationale Demütigung’ zu überwinden,
mit neuen Demütigungen beantworten, so ist das Ergebnis vorherbestimmbar.
Eine Stärkung der reaktionären Kräfte in China wäre
die sichere Folge. Dies kann der Westen nicht wollen und dies wäre
für China und seine Einwohner wohl die schlechteste aller denkbaren
Folgen der Olympischen Spiele.