LinX-Extra


Bild: Pewe, Arbeiterfotografie

0. Kein Vorwort

Dies ist Punkt Null, der Endpunkt, mit dem ich diese Spurensuche, die Punkte 1 bis 15, wie sie dieser be-
sondere Aufenthaltsort  hervorgerufen hat, zum Abschluss bringe. Da waren dreierlei Fährten aufzunehmen. Erstens meine ganz persönliche, familiäre Geschichte. Zweitens die Geschichte der Frauenbewegung, die ein wesentlicher Teil meiner Erwachsenengeschichte ist, und drittens der Niederschlag meiner weltanschau-
lichen-politischen Bildung, wie ich sie durch die Erziehung der Generation meiner Kinder genossen habe: Der Niederschlag des Marxismus, der nicht mehr wegzudenken ist aus meinem Leben, obwohl es da noch das Meiste zu tun gibt.
 

Eva Dockerill - Hospiz Kieler Förde, Mittwoch, 8. Juli 2009, 5 Uhr morgens

 

Bild: Pewe, Arbeiterfotografie

1. Münchhausen

Die Situation nach meinem Einzug ins Hospiz 2009: Drei weinende Frauen um mich herum, – „hart“ wie ich angeblich nun mal bin, dachte ich vor mich hin „Weinen ist Selbstmitleid“ (Schopenhauer). Sich wie der Baron von Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, pflegt u. a. mein Rezept zu sein, wenn es um Hilfe zur Selbsthilfe geht. Nun aber sprach die dritte Weinende (Psychologin!): „Man muss Trauer zulassen“. Am nächsten Tag in der Erinnerung an diesen eher bedrückenden Besuch, musste ich plötzlich lachen, obwohl mir der Anspruch an mich, diese Trauer zuzulassen, auch brutal erschien: Da wird um mich getrauert – aber ich lebe ja noch! Lebe mitten unter ihnen, hatte vorher noch den Grundsatz hier hervorgehoben, der lautet:

„Dem Leben nicht mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben“

und hatte ihnen von verschiedenen Erlebnissen und Begegnungen erzählt, die mir hier bereits einiges Ver-
gnügen und größere Freuden (also „mehr Leben“)

bereitet hatten, kurz: Ich war gut drauf gewesen. Schließlich hatte ich diesem ersten Besuch im Hospiz alles Ängstigende nehmen wollen, wollte mich leicht machen, keine Belastung sein, die so ein Besuch im Hospiz mit sich bringen könnte.

2. Ein letzter Tag?

(Mittwoch, 8.4.2009) Es fällt mir schon länger schwer nach einem guten, tiefen Schlaf (mit Schlaftablette) in den Tag zurückzukehren, wieder irgendwie zu funktionieren, irgendwelche Gedanken zuzulassen. Schließlich aber ziehen mich die Gewohnheiten Schritt für Schritt zurück in den Alltag, Entscheidungen wollen getroffen werden. Aber was für eine Anstrengung ist es, sich zu entscheiden!! Erst Duschen, oder heute nur eine Katzenwäsche? Was ziehe ich an? Vielleicht sollte ich zunächst mal die Fragen, die für den Doc bestimmt sind, notieren? Welche Fragen? Am liebsten möchte ich weiter schlafen. Schlafen! „Schlafen? Vielleicht auch Träumen?“, lässt Shakespeare den Hamlet in seinem großen Monolog (wenn ich mich richtig erinnere) über das Sterben nachdenken: „Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen?“

Schwester Annika kommt ins Zimmer und ich spreche es zum ersten Mal aus: Ich habe Angst! Das dann folgende Gespräch mit ihr tat mir gut. Ihr Versprechen, dass ich hier nicht allein sein werde, dass die Pflegekräfte hier mit ihren Erfahrungen mir stets nahe sein werden, klang zuverlässig und überzeugend. Danach ergriff allmählich die kleine alltägliche Ordnung meiner neuen Umgebung in meiner Stimmung wieder die Oberhand. Dieser außergewöhnliche Aufwand an kleinlicher Aufmerksamkeit, Planung und Ordnung um die eine dahinschwindende Menschenfigur, auf den ich mich konzentriere, unterstützt von zahlreichen „guten Geistern“ hier im Hospiz. Erst Körperpflege, dann „Ja, ich möchte Frühstück etwas später. Wenn es geht die Milchsuppe bitte.“ Vorher hatte ich schon ca. eine Stunde Mundpflege betrieben, um die Schmerzen zu bannen, die immer mal wieder durch eine klapprige Zahnprothese verursacht werden.
Einige Tage später ging der Übergang von der Nacht in den Tag wieder fast problemlos. Geradezu über-
mutig machte mich dann die Idee, dass ich versuchen könnte, wieder zu schreiben, wieder eine eigene Sprache zu finden. So kam etwas wie Neuanfang, wie Zukunft in dies abzuschließende Leben und ein Schimmer von jener Tapferkeit, die manche mir nachsagen. Übrigens kommen mir manchmal die besten Ideen für die Fortsetzung meiner Schreiberei während dieser morgendlichen Körperpflege.

3. Emanzipation oder „Frau, nimm dich zurück!“

Meine Mutter ist zu weit gegangen mit dem Zurücknehmen. Sie hat sich das Leben genommen, als ich 16 Jahre alt war. Wie einsam muss sie gewesen sein! Eine Einsamkeit, die wohl unvermeidlich ihren Schatten warf bis in die Gegenwart meines nun mehr über 80jährigen Lebens. Andererseits: „Eva, du bist ein Super-
vorbild für Frauen-Power“, schrieb eine Gratulantin mir zum 80sten Geburtstag im August 2007 ohne meine persönliche Geschichte zu kennen und dann noch dies: Die Heidi und Wolfgang B. bereiten für ver.di eine historische Arbeit vor über wichtige Persönlichkeiten der alten und neuen Frauenbewegung, deren Ergebnisse sie in einer Broschüre festhalten und mir (??) widmen (??) werden, weil – wörtlich –: „wir Deine langjährige politische Wirksamkeit sehr schätzen und würdigen wollen“. Ich verstehe das nicht. Was hätte ich in einer so bedeutenden Gesellschaft zu suchen?

Was soll das gewesen sein, meine politische Wirksamkeit, von der Wolfgang schrieb? Was kann er von dieser Wirksamkeit wissen? Was weiß ich denn selbst davon, und wen sollte das jetzt noch ernsthaft interessieren an dieser alten Frau? (Nun: Mich eben, also begebe ich mich auf Spurensuche). Aber aus welchem Stoff zum Beispiel ist besagte Tapferkeit? Wo kommt sie her? was soll da so „toll“ an mir gewesen sein? Helga sagte neulich: Das war einfach immer deine Beharrlichkeit, mit der du unsere Sachen verfolgt hast, dass wir am Ball blieben, wenn wir uns was vorgenommen hatten. Für solche Überlegungen ist der Grundsatz, dem sich das Hospiz Kieler Förde  verpflichtet sieht, hilfreich: Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben.

Dahinter stehen hier der große Respekt vor dem Tod und der gute humanistische Gedanke von der Unan-
tastbarkeit der Menschenwürde. Wie mich das hier schützt! – das mit der Beharrlichkeit leuchtet mir im Übrigen jetzt ein angesichts der Beharrlichkeit, mit der ich hier im Hospiz am Leben bleibe und täglich vor allerlei Entscheidungen gestellt werde. Auch das ist Prinzip hier. Wir sollen nicht entmündigt werden. Was möchten Sie essen? Dies oder das? Möchten Sie die Spritze gegen Schmerzen oder die Tablette gegen die Luftnot? Decubituspflaster oder… Manchmal hasse ich das Wörtchen „Oder“, will keine Entscheidungen mehr treffen müssen. An meinen Grenzen bin ich, wenn ich auf das Oder antworte „ich weiß nicht“ und denke „ich kann nicht“ und wünsche: „Mal muss doch Schluss sein.“

Ich muss mal wieder Shakespeare lesen. Was ich überhaupt noch alles lesen möchte! „Süßer Schlaf, du kommst wie ein reines Glück unerbeten und unerfleht am willigsten“ – aber gestern Abend erbat ich (wie jeden Abend) eine Schlaftablette und schlief herrlich tief bis zum Erwachen im sonnendurchfluteten Zimmer. Dann zerrt Münchhausen wieder an meinen mittlerweile graublonden Haaren.
 

4. Vaterloses Patriarchat

Meine persönliche Geschichte war wesentlich bestimmt gewesen durch das Streben nach Anerkennung durch meinen Vater, der Wichtigeres im Sinn hatte, als die Wahrnehmung seiner jüngsten Tochter. Er war Komponist, schuf Sinfonien und Lieder, verehrte den Philosophen Schopenhauer und teilte dessen Verneinung des Willens zum Leben, von der er sich allerdings am Ende seiner Autobiographie 1966 ausdrücklich distanzierte! Er war ein geachteter Kritiker im Berliner Musikleben, durch das ihn meine Mutter als strahlend schöne Frau an seiner Seite begleitete. Sie teilte seine intellektuellen Interessen. Er las ihr halbe Nächte hindurch vor, während sie unsere Socken stopfte aber morgens war sie fit für die Kinder, die zur Schule mussten, und für die Aufrechterhaltung eines Haushalts, was während der ersten Kriegsjahre immer schwieriger geworden war. So verkörperte sie das perfekte Ideal der Ehefrauen- und  Mutter- rolle der bürgerlichen Kleinfamilie. Eine Rolle, die ich dann später selbst spielte als die Ehefrau eines Schau-
spielers, der seinerseits auf den Applaus seiner Umwelt angewiesen war. Sowieso galt unter uns Frauen „Frau nimm dich zurück!“, bleibe bescheiden im  Hintergrund deines jeweiligen Partners in unser männerdominierten Alltagswelt, egal ob unsere Väter Intellektuelle, Bauern, biedere Handwerker, als Alkoholiker Entgleiste oder sonst wie am kleinbürgerlichen Mittelstandsideal Gescheiterte waren. Meine Leistungen als Emanze stachen kaum hervor. Richtig zu stellen wäre: Ich mag an der gemeinsamen Bewegung der Frauen mitgewirkt haben, aber die Haupttendenz war und ist: Sie emanzipierte mich! Sie war einfach mitreißend! Heute bin ich froh, dass er in meiner Kindheit kaum mit mir gesprochen hat, mein Herr Vater...

Als Katja Mann 1905 ein Kind erwartete und ihre Großmutter (Hedwig Dohm) den werdenden Vater fragte, ob er denn einen Jungen oder ein Mädchen haben wolle, hatte er geantwortet: „Einen Jungen natürlich. Ein Mädchen ist doch nichts Ernsthaftes“. Seine Tochter Erika wird später Jahrzehnte lang die vertrauteste Mitarbeiterin des berühmten Schriftstellers und Nobelpreisträgers. (u.a. von 1947 – „Doktor Faustus“ bis 1952 – „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“). Ihre sehr ernsthaften und Achtung gebietenden Aktivitäten gegen den Faschismus hat er übrigens eher zurückhaltend geteilt.

Erschüttert las ich dieser Tage, was die letzten drei Jahrhunderte einer wie Hedwig Dohm angetan hatten, die trotz ihrer schlagkräftigen und geistreichen Polemiken gegen die intellektuellen Wortführer der Gegner der Frauenemanzipation angepasst an patriarchale Maßstäbe relativ schüchtern durchs Leben der sie umgebenden Herrenmenschen ging. (Siehe Marie-Louise Jansen-Jureit „Sexismus“.) Und ganz besonders niederschmetternd war für mich ihre Bitterkeit am Ende ihres großartigen Lebens! (Da fällt mir ein, dass ich früher mal gebetet habe Lieber Gott, lass mich nicht bitter werden und nicht stumpf. – Auf das Beten werde ich noch mal zurückkommen müssen.) Was uns heute dringend fehlt ist eine vollständige und gut sortierte Gesamtausgabe aller Werke dieser wunderbaren und schönen Frau! Männerliteratur gibt es zur sogenannten Frauenfrage, die die Männer umtrieb allzu reichlich.
 

5. Einschub: Virginia Woolf

Virginia Woolf schrieb 1929 das Folgende in ihrem Buch „Ein Zimmer für mich allein“.

„Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Bücher über Frauen im Laufe eines einzigen Jahres geschrieben werden? Haben Sie eine  Vorstellung, wie viele von Männern geschrieben sind? Ist Ihnen bewusst, dass Sie vielleicht das am häufigsten abgehandelte Tier des  Universums sind? Mit einem Notizbuch und einem Bleistift war ich hergekommen, um einen Vormittag lang zu lesen, in der Annahme, am Ende des Vor-
mittags sollte ich die Wahrheit in mein Notizbuch übertragen haben. () Ich bräuchte Klauen aus Stahl und Schnabel aus Bronze, um auch nur die Schale zu durchdringen. Wie soll ich je die Körnchen Wahrheit finden, die in all diesen Papiermassen vergraben sind? fragte ich mich und ließ mein Auge voller Ver-
zweiflung die lange Liste der Titel auf- und abfliegen. ( ) Also wählte ich vollkommen willkürlich ungefähr ein Dutzend Bände aus … Schon wenn man nur die Titel las, drängte sich einem das Bild von zahllosen Schulmeistern, zahllosen Geistlichen auf, wie sie ihre Katheder und Kanzeln besteigen und sich mit einer Geschwätzigkeit verbreiten, die bei weitem die Zeit übersteigt, die man sonst einem Diskurs, einer Predigt über dieses eine Thema zubilligt. ()

Aber während ich nachdachte, hatte ich in meiner Lustlosigkeit, in meiner Verzweiflung, unbewusst ein Bildchen gemalt, wo ich doch, wie mein Nachbar, eine Schlussfolgerung hätte schreiben sollen. Ich hatte ein Gesicht gemalt, eine Gestalt, und es waren Gesicht Gestalt des Professors von X beim Schreiben seines Monumentalwerks mit dem Titel „Die geistige, moralische und physische Inferiorität (Minderwertigkeit) des weiblichen Geschlechts“. In meiner Vorstellung war er ein für Frauen nicht gerade attraktiver Mann. Er war von schwerfälliger Statur, hatte einen wuchtigen Kiefer, dazu kleine Augen; er war sehr rot im Gesicht. () Aus welchem Grund auch immer, auf meiner Zeichnung war der Professor beim Schreiben seines bedeutenden Buches sehr wütend und hässlich geraten.

Als ich auf mein Notizbuch sah, offenbarte mir eine ganz elementare psychologische Übung, () dass bei der Entstehung der Zeichnung vom wütenden Professor auch bei mir Wut im Spiele war. Während ich träumte, hatte Wut meinen Stift gepackt. Doch was hatte Wut hier zu suchen? Alles, was ich der Arbeit dieses Vormittags entnommen hatte, war die eine Tatsache: Wut. Die Professoren – ich warf sie also in einen Topf – waren wütend. () Doch warum, fragte ich mich, warum sind sie wütend? Reiche Leute zum Beispiel sind oft wütend, weil sie argwöhnen, dass die Armen sich ihres Reichtums bemächtigen wollen. Die Professoren oder die Patriarchen – () sind vielleicht zum Teil aus diesem Grund wütend. () Vielleicht beschäftigte den Professor, als er ein wenig zu entschieden auf der  Unterlegenheit der Frauen bestand, weniger deren Unterlegenheit als seine eigene Überlegenheit. Sie war es, die er so hitzköpfig und mit zu großem Nach-
druck verteidigte. () Ohne Selbstvertrauen sind wir wie kleine Kinder in der Wiege. () Ob sie meine Verwunderung () erklären hilft, die eintrat, als Z., der menschlichste und bescheidenste aller Männer, nachdem er ein Buch von Rebecca West zur Hand genommen und einen Abschnitt gelesen hatte, ausrief. „Notorische Feministin! Sie sagt, Männer seien Snobs!“ Dieser Ausruf () war nicht bloß der Aufschrei verletzter Eitelkeit, es war ein Protest gegen den Angriff auf seine Fähigkeiten, an sich selbst zu glauben. Seit Jahrhunderten dienen die Frauen als Spiegel, die die magische und köstliche Gabe haben, den Mann in seiner doppelten natürlichen Größe widerzuspiegeln. () …wenn sie (die Frau) anfängt, die Wahrheit zu sagen, schrumpft die Gestalt im Spiegel ein, seine Tüchtigkeit schrumpf zusammen. () Die Spiegelvision ist ungeheuer wichtig, denn sie lädt die Lebenskraft auf, sie regt das Nervensystem an. Ent- ziehe sie ihm, und der Mann geht zugrunde wie der Drogensüchtige ohne sein Kokain. () Unter ihren wohltuenden Strahlen setzen sie morgens ihre Hüte auf und schlüpfen in ihre Mäntel. Sie beginnen den Tag zuversichtlich, gestärkt, in dem Glauben, dass sie auf Miss Smiths Party willkommen sind. Wenn sie einen Raum betreten, sagen sie zu sich: Ich bin der Hälfte der Leute hier überlegen. Daher kommt es, dass sie mit diesem Selbstvertrauen, mit dieser Selbstsicherheit sprechen, die so tiefgreifende Konsequenzen für das öffent- liche Leben hat.“

Als in diesem Jahr, 2009, eine Handvoll junger autonomer Frauen, die sich als Anarchistinnen verstanden, in Kiel zum Internationalen Frauentag eine Demonstration vorbereiteten, suchten sie zwecks Anregung Kontakt zu uns älteren Frauen und wählten für sich das Motto „Macker zum Mond schießen!“ Sie machten in geschlechtlich gemischten Projekten (von Parteien über Attac bis hin zu Antifa) gerade die Erfahrungen mit der ach so bedeutenden männlichen Großmannsucht, die unser rasanter Frauenaufbruch in den 70er und 80er Jahren ja zunächst erfolgreich einschüchtern konnte. Nur leider hat inzwischen eine Welle von Zurückweichung alle einstige Power der Frauen hinweggespült. Übrig geblieben waren jede Menge individueller Depressionen und ein Heer von Therapeuten beiderlei Geschlechts, und als Krankheit erlebte (oder als solche eingeredete?) Traurigkeiten und Ängste, während weibliche Selbstachtung auf der Strecke blieb. Aus diesem Tief müssen wir wieder raus. Gemeinsam wie in den 70ern: „Gemeinsam sind wir unausstehlich!!“ Unbegreiflich ist mir aber, wie sich die dummdreiste männliche Arroganz ungehindert in den einfachen Männerschichten forterben konnte, ohne die beschämende Neigung zur eigenen Gewalttätigkeit zu beeinträchtigen. Da sollten wir mal nachfragen bei den Jungs.

6. Liebe und Lyrik

Als ich selber junge Mutter war in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hoffte ich auf die Liebe, um der Einsamkeit zu entkommen. Ich versuchte mich als Dichterin, was in Sachen Liebe – mit Verlaub – taktisch saublöd war: Die Eigenliebe von Männern auf sich ziehen zu wollen, durch das Gestalten eigener schöpferischer Persönlichkeit, statt als hingebungsvolle Gattin und Mutter.

Unter meinen Versen waren immerhin zwei Zeilen, die mir später die Achtung meines Vaters einbrachten:

Ach wer den Scherbenkrug mir wieder füllte, der /
Noch jeden Tag den Weg zum Brunnen geht.

Ein andermal hatte ich (als ehemalige Ballettschülerin) die Liebe so beschrieben:

Liebe: Die Arbeit einer Tänzerin. /
Allerhärtestes Training jeden Tag, um manchmal auf wunden Zehen für Augenblicke /
- zu schweben /
(und ich mit Talent und Ehrgeiz einer Primaballerina.).

Häufig klingt Zerbrechliches in meinen Gedichten an (Glas, Fenster, Spiegel) und dann scheint die Er-
innerung an das Mobiliar vom Zimmer meiner Mutter auf. .Sie hatte einen Glasschrank, in dem sie schönes, altes Porzellan aufgestellt hatte, das der spiegelnde Hintergrund in den rückwärtigen Raum hinein unendlich vermehrte.

Zusammen mit meinen lyrischen Versuchen, „ich selbst“ zu werden, blieb in mir gleichzeitig die entgegen-
gesetzte Tendenz, mich zurückzunehmen, wirksam. Frau, nimm dich zurück …

Schließlich:

Abschiede

Alle meine Herbste sind schon durchschritten
Die waren und die noch kommen
Jeder Abschied erlitten
Da ich dein Fortgehen
Ertrug

Jahresringe

(Zeilen, die mein Enkel Manuel besonders gern hatte)

Du hast den Glanz
Meiner Augen vergessen
Wie soll ich mich dir zu erkennen geben?

Meine Liebe trägt deinen Namen
Hinter verschlossenen Lippen
Wie soll ich dich rufen?

Jahresringe schlägt
die Zeit ohne dich
um mein Herz

Spiegelbild II

Mein Spiegelbild
das mir in deinen Augen
abhanden kam,
gestern
fand ich es wieder
auf den Gläsern
deiner Sonnenbrille


 
 

7. Mehr Leben mitten im Sterben oder: Die beiden großen Engel und andere Menschen, die meinen Tagen im Hospiz mehr Leben geben.

Körperlich bin ich inzwischen hager und klein geschrumpft: Buchstäblich nur noch Haut und Knochen. Als neulich zwei meiner Enkelkinder, Sabines große, starken und schönen Söhne, die immer sehr liebevoll und hilfsbereit mit mir umgehen, rechts und links neben mir gingen und mich dabei an den Händen hielten, nannte ich sie spontan „meine beiden großen Engel“.

Jedoch wenn aus den sogenannten sozialen Bewegungen der Ruf schallt „eine andere Welt ist möglich!“, denke ich, das muss mensch schon selber machen: Diese andere Welt. (Das ist nun eben auch keine neue Erkenntnis, die wir, d.h. die Revolutionärinnen und Revolutionäre seit den Tagen der Pariser Kommune, quasi im Schlaf zu singen pflegen: „Es rettet uns kein höheres Wesen“ usw.). Aber wir müssen es halt tun! „Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel heißen Eva“ schrieben mir meine autonomen Freunde zum 80sten – nur habe ich es bei dieser Spurensuche bis jetzt auch nicht weiter als bis zum Singen gebracht. Wo bleiben meine Taten, wo jene „Wirksamkeit“? Sind Tat-Sachen Männersache? Unsinn, ich kenne so viele aktive Frauen (aktuell: neulich haben für mich den Transport eines großen Regals ins Hospiz von vier Leuten zwei Freundinnen mit links erledigt).

Aber klar ist schon mal seit gut zweihundert Jahren in der öffentlichen Meinungsmache: Denken – und daher immer besserwissend zu sein – ist Männersache! Noch immer muss frau sich die Menschenwürde erkämpfen gegen ihre einseitige Zuordnung zu reinem Naturstoff ohne jede Gedankenarbeit.

Meine Mutter hatte ein besonders schönes altes Möbelstück, einen Sekretär. Vor dem sehe ich sie heute noch stehen, während sie mit einem hochmodernen Gerät hantierte: Ein Mikroskop! Ich weiß nicht, wer oder was ihre naturwissenschaftliche Neugier angeregt hatte. Zwei gebildete Damen besuchten sie manch-
mal und das Bedürfnis nach Wissenschaft bewegte damals – noch – große Teile der weiblichen Menschheit, die durch die Ideologen der herrschenden bürgerlichen Klasse bei der Arbeitsteilung unter den Menschen in Kopf- und Handarbeit von aller geistigen Aktivität ausgeschlossen worden waren.

Den Hauptanteil an belebender (!!) Kraft bringen mir jetzt in das neue Hospizdasein die Besuche. Manche persönliche Anwesenheit lässt mich oft kaum erkennen, wo Begriffe wie Freundschaft und Liebe von einander abzugrenzen wären. Aus manchem Gesprächsstoff, der hier entsteht, lassen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Lebensweges, dem ich hier nachspüre, zusammenfügen zu einer Art gestaltendem Rück- und vielleicht sogar Vorausblick. Auf die Zukunft verweist mich dabei besonders die Frage nach dem Umgang mit meinen Büchern, wenn ich demnächst meine Wohnung auflösen muss. Da die jungen Frauen aus der Meierei („Macker zum Mond schießen“) einen Vorlesekreis gegründet haben, habe ich schon mal einen Teil meiner Frauenliteratur an sie weitergegeben. Fast nach jedem Besuch meine ich mich entschuldigen zu müssen: „Ich bin schon wieder sehr sabbelig gewesen“. Tatsächlich fällt mir mein schier unbegrenztes Mitteilungsbedürfnis auf (das erstaunlicherweise sogar auch auf offene Männerohren stößt).
 
 
 

8. Noch viel mehr Leben!

Am 26. 7. 2009 hat mir die OG Kiel der ROTEN HIILFE einen Kaffeebecher geschenkt mit ihrem Logo darauf und folgendem Text:

Gemeinsam und solidarisch sind und bleiben wir gemeinsam unausstehlich, Deine OG Kiel.

Ganz besonders hat mich gefreut, dass Schwester Sybille so herzlich darüber gelacht hat! Dabei war ich am Vortag noch so mutlos gewesen; dass ich zum ersten Mal hier gar nicht mehr aufstehen wollte. Und die “guten Geister“ hier hatten mich mit Beruhigungspille und Wärmflasche bis über Mittag schlafen lassen. Das eben ist das Besondere am Hospiz: Du bist nicht alleine hier, sondern von Menschen umgeben, die nicht nur in der Erfüllung deiner Bedürfnisse gleichzeitig durch ihre eigene Tätigkeit auch die eigene Selbstachtung erfüllt und befriedigt erleben: So stelle ich mir die Menschwerdung des Menschen / der Menschenfrau vor. Und dies völlig unabhängig von jeder Aufrechnung wie Lohn und Strafe, Leistung und Gegenleistung, Verdienst, kurz sogenannter Gerechtigkeit! Als wäre Menschlichkeit zu erhandeln.
 

9. Der Sturz. Eine Episode

Heute (Sonntag 10.Mai 2009) um sechs Uhr hat die Tendenz zum Sterben plötzlich wieder die Oberhand ergriffen: Ich bin gestürzt, flog wie ein willenloser Gegenstand zu Boden und knallte mit dem Gesicht gegen Tisch- und Stuhlbeine. Seltsam wie ich das gleichzeitig alles beobachtete und jedes Detail registrierte. Natürlich auch die heftigen Schmerzen dabei. Die Attacke war von außen gekommen, d.h. nicht aus der Krankheit heraus. Ich hatte aufstehen und ein paar Schritte gehen wollen, um die Wadenkrämpfe, die mich geweckt hatten, wieder los zu werden. Ich rutschte mit dem Hintern von dem weichen, gleitenden Bettrand und mit den Füßen haltlos über den Boden, bis ich mit ganz verdrehtem Körper da unten lag. Der Kopf dröhnte maßlos.

Die Gegentendenz: Die Klingel hing griffbereit. Schwester Patricia brachte einen Eispack für die Riesen-
beule auf der Stirn und eine Schmerzspritze, half mir hoch und hievte mich ins Bett, aber ich wollte mich bewegen, wollte. einige Schritte gehen („Bewegung ist die Daseinweise der Materie“ schreibt Friedrich Engels in seinem „Anti-Dühring“, MEW, Band 20. Damit aber wäre dieser Bewegungsdrang reiner Selbst-
erhaltungstrieb meiner materiellen Existenz und verdient nach Schopenhauer bestraft zu werden. O-Ton über „Das Weib“: „Es trägt die Schuld des Lebens nicht durch Thun, sondern durch Leiden ab, durch die Wehen der Geburt, die Sorgfalt für das Kind, die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem es eine geduldige und aufheiternde Gefährtin seyn soll.“

 Ziemlich verrückt das. Noch verrückter: Ich bekam Hunger. Und das nach diesem Sturz! Als Variante zur täglichen Milchsuppe sollte es diesmal was Herzhaftes sein. Eine Tasse Brühe. Dann wollte ich dringend an den Computer, um das alles hier festzuhalten, was ja nun zu funktionieren scheint. Nach mehrmaligen Platzwechsel zwischen Frühstückstablett und Computer –ganz, ganz langsam! – beginne ich jetzt einzu-
nicken. Es ist zehn Uhr morgens. Die alltägliche Körperpflege wird ausfallen müssen Eine Schwester wird mir wohl ins Bett helfen, ich bin nicht alleine hier.

Am Abend: Wir einigten uns auf das Anbringen von Bettgittern. Schwester Sigrid, die darauf bestand, beteuerte dennoch „Wir wollen Sie nicht entmündigen“. So hatte ich das gar nicht gesehen. Im Gegenteil hatte ich das Gitter selbst für mich als Schutz erbitten wollen. Nur bitte vor dem Einsperren wollte ich mich noch etwas länger völlig frei bewegen können, im Zimmer und im ganzen Hospiz. Meine Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit drohten verloren zu gehen. Um jede Handreichung musste danach geklingelt werden, lauter Banalitäten, über die sonst nicht weiter nachzudenken war. (Ach wie ich hier den großen Begriff Freiheit unter die Räder des langweiligen Alltags bringe! Die eventuell noch an diesem Bericht über das Sterben Interessierten werden eingeschlafen sein).

Nachts um ein Uhr sah ich in den Spiegel und konnte bei dem Anblick nur noch in den Schlaf fliehen. Und nach dem Erwachen war es wieder da: Das ganze Gesicht ein einziges Hämatom. Auch die scharfen, tiefen Falten die sich von der Nase zu Mund und Kinn  herunterziehen, dunkelblau blutunterlaufen. Ob ange-
messen oder nicht, mich quälte nun nur noch eine Angst: Kein Mensch wird mich von nun an (und für wie lange?) weiterhin unbefangen ansehen können. Abgesehen von den Pflegekräften hier, die ja einiges gewohnt sind, werden alle vor dem gruseligen Anblick zurückschrecken: Wie sollten sie mich da wieder-
finden? Am nächsten Tag mit einem Outfit aus extravaganter Sonnenbrille und dazu passendem Hut und einer neutraleren Variante aus schlichter Sonnenbrille und Kapuzenpullover ausgestattet, fühlte ich mich für erste Begegnungen gerüstet. Ja von solchen Äußerlichkeiten hing doch tatsächlich mein psychisches Gleichgewicht (oder besagte Tapferkeit?!) ab.
 

10. Mehr Leben per Elektronik

Meine mail vom 15. Mai: „Liebe Petra und liebe Svenja, was war das für ein herrlicher Morgen heute morgen! Mein Zimmer voller Sonne und gegenüber vom Bett die neue Regalwand!! Die Schwester, die Medikamente verteilte, rief spontan aus: „Wie ist das schön hier. So hell und sonnig und Ihre Bücher hier. Das ist als ob man Sie zu Hause in Ihrer Wohnung besucht. Das hat soviel Persönliches – soviel Persönlichkeit!“. Besonders das Wort von der Persönlichkeit tat mir gut, denn was betreibe ich z.B. mit meiner Schreiberei hier im Hospiz („Spurensuche“) anderes als so etwas wie den Versuch, der eigenen Identität nachzuspüren, Individualität herauszubilden, Persönlichkeit zu entwickeln? Dass die der Schwester heute früh so geradezu ins Gesicht sprang, hat mich so überrascht und gefreut. Das habe ich Euch zu verdanken. Darum noch mal ganz doll DANKE Euch beiden, für den prompten Umzug hier her, den Ihr quasi mit Links erledigt habt! Liebe Grüße Eure Eva D.“ Svenja antwortete unter „Betreff“: „Einen Sonnengruß zurück“.

Ich hatte einige anregende Gespräche mit Michaela, einer Mitarbeiterin aus dem Hopiz-Pflegeteam, die mir bei meiner Schreiberei hier so richtig auf die Sprünge halfen. Sie hatte sich das Buch „Was PhiIosophen über Frauen denken“ übers Internet besorgt.

Mein Sohn hatte hier viele Tage lang mit enormer Ausdauer den Internetanschluss installiert und mir x-mal geholfen, alle Hindernisse zu beseitigen, mit denen ich als technische Analphabetin nicht klar kam. Seit Wochen ist er fast jeden Abend hier und bringt nebenbei immer auch allerlei anregenden Gesprächsstoff mit. Einige interessante Texte habe ich mir auch mit google ins Hospiz geholt und hier ausgedruckt.

Übrigens habe ich noch einen alten langgehegten Wunsch offen: Wenn es ans Sterben geht, möchte ich die Musik von Anton Dvorak hören. Sein Cellokonzert oder Aus der Neuen Welt. Meine Freundin Margret – sie ist Musiktherapeutin – hat neulich zufällig schon mal die entsprechende Praxis eingeleitet. Eine Kollegin brachte mir die CD in mein Zmmer.

11. Wider den tierischen Ernst

Trotz des entstellten Gesichts, meine Sehkraft ist erhalten geblieben. Ich kann lesen! Und ich las weiter in der Selbstbiographie meines Vaters, um seinen Weg von Schopenhauer über die Anthroposophie zum Katholizismus weiter zu verfolgen, den er in den letzten Kapiteln des Buches sehr einleuchtend darlegt. 24. Mai 2009: Aber nun habe ich mich erstmal in einer unerschöpflich reichhaltigen frauenfeindlichen Zitatensammlung vertieft. Schauen wir uns also mal um im Männerreich, in der Welt des Geistes, die uns seit Jahrhunderten verschlossen bleiben sollte: Zunächst Zitate aus einem Katalog zu einer Ausstellung, mit der Frauen für den Frieden aus Schwäbisch Gmünd 1980 unter dem Titel „Also sprach Zarathustra ...“ 1980 eine geballte Ladung Frauenverachtung aus einigen Jahrhunderten vorgestellt haben. Die jüngere Auseinandersetzung der Männer mit der sie bewegenden „Frauenfrage“ wird sichtbar in dem Buch „Was Philosophen über Frauen denken“ von Annegret Stopczyk, ebenfalls aus dem Jahr 1980 (alle im Folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch):

„Der Unterschied zwischen Frau und Mann ist der des Tieres und der Pflanze: Das Tier entspricht mehr dem Charakter des Mannes…“ (Hegel, S. 167f)

„Für den Mann ist die Geschlechtlichkeit sozusagen ein Tun, für die Frau ein Sein.“ (Simmel, S.234)

„Das Weib ist nichts, es ist nur Materie. Der Wille des Mannes schafft erst die Frau () Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, das absolute Etwas, das Weib, auch das Weib im Manne ist das Symbol des Nichts. Das ist die Bedeutung des Weibes im Universum.“. (Weininger . S.291ff)

„Zu Pflegerinnen und Erzieherinnen unserer ersten Kindheit eignen die Weiber sich gerade dadurch, dass sie selbst kindisch, läppisch und kurzsichtig, mit einem Worte, Zeit Lebens große Kinder sind, eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist“. (Schopenhauer. S.182f)

„ Was ist die Liebe? Die Einheit von Denken und Sein. Sein ist das Weib, Denken ist der Mann.“ (Feuerbach, S.194)

„Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit.“ (Nietzsche,. S.223)

„Der Mann macht Geschichte, Frau ist Geschichte“ (??)

„Der Mann und nicht die Frau ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Daraus geht hervor, dass sich die Frauen ihren Gatten unterordnen und wie Sklaven sein sollen“. (Gratian, 12. Jahrhundert)

„Ein kleinwenig Verstand schätzen wir bei einer Frau so, wie wir uns über die wenigen Worte eines Papageien freuen.“ (Jonathan Swift)

„Die Frauen sollen sich nur an ihre Herkunft erinnern und, ohne ihre Zartheit besonders hervor zu heben, daran denken, dass sie aus einer überzähligen Rippe geschaffen wurden.“

“Wenn ich an die Frauen denke; ach dieses schwache, unbeständige, launenhafte und unvollkommene Geschlecht, so scheint mir, dass die Natur, als sie die Frau schuf, ihr Zweckmäßigkeitsprinzip außer Acht ließ.“ (Rabelais)

„Wer einer Frau Vertrauen schenkt, ist verloren. Sogar die beste führt immer nur eine Bosheit im Schilde. Die Bestimmung dieses Geschlechtes besteht darin. Die ganze Welt zu ruinieren… Auf Seiten des Bartträgers ist die Allmacht.“ (Moliere)

„Alles eindeutig Menschliche ist der Mann. Die Männer bilden die Art. Die Frauen sind nur das Geschlecht, das bestimmt ist, sie fortzupflanzen.“ (Charles Grant Allen, 19. Jahrhundert).

Die hier angesammelte akademische Herabsetzung der Frauen – zwischen dummdreisten Banalitäten bis hin zu schier unglaublicher Anmaßung wortgewaltig übertünchter Emotionen aus Hass, Wut, persönlicher Verletztheit und letztlich Angst (!!) die auffallend häufig an Phantasien über Fortpflanzungstrieb und -technik anknüpfen und deren Überhöhung zu einem angeblichen Zweck der Natur bzw. zum Willen der Gattung, zum Schicksal oder zu einem Gottvater. Fragen wir nach der Wirkung dieser Texte auf die Leserin, so hat Empörung darin – bei mir jedenfalls – nur den geringsten Anteil. Vielmehr überwiegt der Eindruck, diese intellektuelle Elite der Spezies Mann macht sich lächerlich. Sie personifiziert phantastische Mächte (Eine Natur, die ihre Zwecke, eine Gattung, die ihren Willen; und einen Schöpfergott, der seine Ideen jeweils an uns vollstrecken) und baut sie als Autoritäten vor dem Zugang der Frauen zu Bildung, Wissenschaft, Kunst und Politik auf, um sich die heimelige Enge und scheinbare Geborgenheit der bürgerlichen Familienidylle zu erhalten, kurz: uns den Weg zur Menschwerdung der Frau abzuschneiden.

So gesehen (apropos Beten: siehe oben): mein: „Lieber Gott“ kann so nur als Selbstgespräch aufgefasst werden. Oder sich an Mit- menschen richten, denn logischerweise wäre da doch sonst kein wirkliches Wesen, das diesem Ansinnen entgegen kommen könnte. Außer dem Proletariat, welches Marx in der Pflicht und in der Lage sah, „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes Wesen ist …“ Alle entsprechenden Verhältnisse, d.h. gerade auch das von männlicher Geistreichelei so ins Unmenschliche entstellte Geschlechterverhältnis! Wie anders sollte auch sonst dem herrschenden Geschlecht die von ihm selbst erträumte, aber kaum ernsthaft durchdachte, geschweige denn mit Tatkraft (als männliche Eigenschaft behauptete „Charakterstärke“) - gegen sich selbst durchgesetzte Menschwerdung des Menschen (!!) gelingen?

Hier einige Überlegungen von Marx zu besagter Menschwerdung:

„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“ (MEW1, Seite 385) im Ergänzungsband 1 führt er u.a. aus: „Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein, wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregender und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zur Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen, individuellen Lebens sein. Wenn du liebst ohne Gegenliebe hervorzurufen, d.h. wenn dein Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußrung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück“. (EB1, Seite 567)
 

12. Dienstag, 30. Juni 2009. Heute bin ich sehr mutig aufgewacht.

Der Weg in den Tag schien plausibel, keine unüberwindlichen Entscheidungen irritierten mich: Woher kam dieser Mut? Er war hervor- gerufen worden durch meine Lektüre vom Abend vorher. Jener Text mit dem Karl Marx seine Vorstellung von der Menschwerdung des Menschen entwickelt. Womit für mich die quälende Zersplitterung in zahllose miteinander konkurrierende Einzelne überwunden ist, dadurch, dass wir zugleich als gesellige Wesen, eben als Gesellschaft miteinander und füreinander produzierend den Menschen erschaffen. (MEW; Ergänzungsband; Schriften bis 1844 erster Teil ab Seite 530) Hier will ich unbedingt weiterlesen, um diesen Gedankengängen und deren historisch konsequenten Weg in den Kommunismus zu folgen um sie nachvollziehend mir ganz und gar anzueignen: Dann könnte ich die hier zitierten Philosophen auslachen mit Heinrich Heines Worten: „Zuckererbsen für jedermann sobald die Schoten platzen: Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen“

13. Nachtgedanken

Was sich an jedem neuen Morgen hier einstellt. Meine Scheu vor Entscheidungen: Es sieht ganz so aus als wollte ich mich vor dem Selbstbestimmungsrecht drücken, obwohl ich darauf doch so besonderen Wert lege. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zumal. Auch damit teile ich die Verantwortung mit Mit-
menschen. Und was fange ich nun mit Schopenhauers und meines Vaters Verneinung des Willens zum Leben an? Mein Vater wich aus zur Reinkarnation der Anthroposophen und zur christlichen Wiederauf-
erstehung. Was schließlich die Negierung meiner eigenen Existenz betrifft, bewege ich mich unentschlossen zwischen der Herausbildung eigener Individualität (siehe Spurensuche) und Lebensende. Dabei kann mir vielleicht Friedrich Engels zum Verständnis seiner Überlegungen zur Dialektik; speziell der Negation der Negation weiterhelfen (MEW 20, ab Seite 120). Das will ich auch unbedingt weiterlesen!

Mein Vater beendete seine Autobiographie mit Wilhelm Busch:

Die Lehre von der Wiederkehr ist zweifelhaften Sinns / es fragt sich sehr, ob man nachher noch sagen kann, ich bin´s / Allein was tut´s, wenn mit der Zeit das alte Ich verblich / Die Fähigkeit zu Lust und Leid lebt fort im neuen Ich.

14. Mehr Lyrik?

Mein Vater vertonte ein Gedicht von Hölderlin:

Abbitte

Heilig Wesen! /
Gestört hab ich die goldene Götterruhe Dir oft /
Und der geheimeren tiefern Schmerzen hast du manche gelernt von mir /
Oh vergiss es! /
Vergib! /
Gleich dem Gewölke dort vor dem friedlichen Mond /
Geh ich dahin /
Und Du ruhst und glänzest in Deiner Schöne wieder: Du süßes Licht

Dazu schaffte nun quasi kontrapunktisch mein lyrisches Bewusstsein jetzt ausgerechnet als „Gegenglück“ (Benn) zwecks Negierung von soviel „ Schöne“ und „Süße“ einiges Dunkle von Gottfried Benn herbei: „Es gibt nur zwei Dinge: Die Leere und das gezeichnete Ich“ Was kann Benn mit diesem Bild anderes anklagen als die grausame Verlassenheit, in der jede und jeder von uns in unserer vereinzelten materialisierten Existenz isoliert ist? Das muss ausgehalten werden von einer, die sich als Ausgangspunkt und Resultat der Mensch- werdung des Menschen zu denken wagt und gar der Menschwerdung der Frau!

Was diese dagegen mir hier im Hospiz zu entdecken gibt: Neue Freundinnen. Die Vertiefung alter Freund-
schaft und sogar meine Schwester jetzt als neu gefundene Freundin. Aber als bewegenstes Erlebnis: Dass ich mir anmaßte, das Schicksal der Hedwig Dohm als durch mich nachvollziehbar und korrigierbar (nämlich befreit von der Bitterkeit) zu denken, und ihren Geist in unseren heutigen Kämpfen wiedererstehen zu lassen. für die Menschwerdung des Weibes. So teile ich mit Hedwig Dohm ihre Ablehnung der von ihr so genannten Zwangskindschaft – als wüssten die Eltern immer, was das Beste für ihre Kinder sei. Dies als Gruß an meine Urenkelkinder, von denen das jüngste, die kleine Emilia Marie gerade während meines Einzugs ins Hospiz zur Welt kam: Ihr Nachge- borenen werdet euren Weg schon selber finden!!

Allerdings bin ich nicht bereit, Dohms durch männliche Philosophie inspiriertem Sarkasnmus zu folgen; wenn sie die Natur (den Kosmos) ihrerseits personifiziert bzw. den Herrgott selbst zu Frauen verachtenden Monstern gestaltet, vor deren Übermacht ihre Verzweiflung ihren sonst überlegenen Witz in ätzenden Zynismus verwandelt. Originalton: „und die Sterbende lächelte höhnisch, als ihr einfiel, dass die Erschaffung von Kreaturen, die von Geburt an zum Fraß der Würmer oder wie bei Feuerbestattungen zu einer Handvoll Asche wurden, vielleicht nur Spaß des Kosmos oder ein Experiment Gottes waren () Lächerlich auch die zwecklosen Umstände, die sich der Kosmos mit der Erschaffung uns überflüssiger Zweibeiner gemacht hatte: Könnte man sich doch zu Tode lachen!“

Ich wünsche mir die schöne und kluge Kämpferin Hedwig Dohm wieder lebendig im Denken und Handeln einer neu auflebenden aktuellen Emanzipation unsererseits. Meine Aufgabe wäre dabei wohl die Menschenliebe zu erhalten im Sterben und die Selbstachtung in jeder Einzelnen, der ich noch begegne zu stärken und zu fördern (siehe hier Punkt 11).

Leider steht dabei aber bei uns Älteren noch eine höchst bedauerliche Schwäche im Wege: unsere gemeinsame Sprachlosigkeit, genauer gesagt Gedankenlosigkeit, die für mich erschreckend deutlich auch in ausgesprochener Theoriefeindlichkeit mindestens in Theoriescheu zum Ausdruck kommt.

 Falls ich mit dieser Beobachtung richtig liege, wäre das für mich ein deutliches Anzeichen dafür, dass es den intellektuellen Wortführern des Patriarchats gelungen ist, nicht nur ihre künstliche Trennung des Menschenreichs in einerseits Natur; andererseits „Reich des Geistes“ aufrecht zu erhalten und die Vertreibung der Frauen aus der von Männern okkupierten „Welt des Geistes“ und der entsprechenden Politik und Wissenschaft fortzusetzen ja uns überhaupt zum Schweigen gebracht zu haben .Das will ich keinesfalls hinnehmen!

Hierzu nur noch nebenbei ein Tipp: Quotierung. Die Quotierung hat schließlich nicht das Geringste mit Geschlechtergerechtigkeit zu tun, wie manche glauben. Sie ist lediglich ein äußerst brauchbares Instrument, mit dem wir uns die Sprache im öffentlichen Raum, d.h. erstmals Menschenrecht im öffentlichen Sprachraum durchsetzen.


Bild: Pewe, Arbeiterfotografie

15. Weiterlesen!

Mittwoch, den 15. Juli 2009: Fast – frei von körperlichen Schmerzen: Dank der Morphingaben zum Zwecke palliativer Behandlung, bin ich gerade wach geworden; geisteswissenschaftlich konsequent mit etwas Goethe („sah ein Knab ein Röslein stehen“). und beobachte mein Erwachen: Ein Stern leuchtet noch in der Morgendämmerung hinter meinem Hospizfenster. Es ist fünf Uhr früh. Am Abend vorher hatte ich bis in den Schlaf hinein noch in dem Buch meines Vaters „Rudolf Steiner und die heutige Welt“ gelesen, in dem er sich für die Geisteswissenschaft und gegen den dialektischen Materialismus ereifert; während ich – „beharrlich!“ – an Letzterem festhalte!

27. Juli 09: Wieder so ein Morgen, an dem ich wünsche, nicht aufstehen zu müssen und schließlich mit Beruhigungspille und  Wärm- flasche im Bett blieb (siehe Punkt 7) – und mit hilfreicher Lektüre gegen meine allzu vagen selbstquälerischen Grübeleien:. Nämlich Engels Anti-Dühring, bzw. seine Vorbereitungen dazu (MEW 20, ab S. 589).- auch das will ich unbedingt weiterlesen!! Davor und danach noch aufbauende Gespräche mit einer der Pflegekräfte und mit einem Doc. – und wieder eine neue Freundin gewonnen. Da philosophierten zwei Philosophinnen (ja gibt’s denn das?) miteinander.
 

16. Menschwerdung

Mehr Leben dem heutigen Tag und dennoch ein Tag mehr diesem Hospizleben, denn was für ein Tag! Katja, die Musiktherapeutin, hatte mir Dvoraks Sinfonie „Aus der neuen Welt gebracht und Münchhausen ließ mir keine Ruhe mehr: Schließlich wurde es höchste Zeit, das verkümmerte Hörvermögen einer Musikbanausin, wie ich es war, durch Training wider auf ein Niveau zu heben, das dem Anspruch des Komponisten gerecht werden würde. So überwältigte der Baron meine Technikscheu, wir schmissen die Anlage an und ich begann zu lauschen – zunächst verunsichert, schließlich aber mit gesteigertem Genuss. Letzterer stellte sich erst vollends ein als Gesche hinzu gekommen war und lächelnd meine Hand haltend genauso wie ich :zu lauschen begann; sodass wir gemeinsam diese herrliche Musik erlebten, Noch überwälti-gender muss dies allerdings in einem gefüllten Konzertsaal mit musizierendem Orchester bei einwand- freier Akustik wirken durch die gleichzeitig zigfach potenzierte sinnliche Wahrnehmung menschlichen Glücksgefühls nicht allein zu sein in dem einen erhebenden gemeinsam nämlich gebend und aneignend geschaffenen Genuss. Letzteres ganz so zu verstehen wie ich .Marx zitiert habe (hier S:.11, am Ende von Punkt 10):..
 

17. Hören und Sehen

Gestern war mein 82. Geburtstag und heute in der Frühe (das Zimmer voller Blumenduft frischer, bunter Sträuße – darunter eine weiße Orchidee von rätselhafter Schönheit, dazu die Erinnerung an die lieben Besucher und an mein kleines Hauskonzert mit Gesche) versinke ich in Grübeleien über die Rolle der sinnlichen Wahrnehmungen im philosophischen Materialismus, dem ich anhänge. Ich verharre immer noch unentschlossen zwischen dem Beginn eines neuen Tages und dem Lebensende. Erstmal lasse ich. die Jalousie herab, um die hereinflutende Sonne von uns – von den empfindlichen Pflanzen und mir – abzuwehren. Ich gehe wieder ins Bett trotz Münchhausen und alledem: Ich mag einfach nicht mehr zuschauen – meinem Verfall. Aber der Baron legt die CD ein. Aus der Neuen Welt. Oh dieser zweite Satz!!!

Letzte Version 16 Juli 2009 mit Ergänzungen bis zum 31.JULI 2009 (Punkt 17)


Bild: Pewe, Arbeiterfotografie