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Europäisches Sozialforum in Istanbul:
Gemischte Bilanz

In Istanbul fand vom 1. bis zum 4. Juli das sechste Europäische Sozialforum statt. Mit 3.000 Gästen - rund die Hälfte davon aus dem Ausland - war die Besucherzahl enttäuschend ausgefallen. Kein Vergleich zu den Großereignissen von Florenz (2002), Paris (2004) oder London (2006). Die von den türkischen Veranstaltern erhofften 10.000 wurden bei weitem verfehlt. Auch die Demonstration zum Abschluss des Forums war mit etwas über 5.000 Teilnehmern mager besucht. Fahnen und  Trans- parente diverser linker meist türkischer und kurdischer Parteien dominierten das Bild. Hier und da verteilten sich kleine Gruppen schwedischer, belgischer,  französischer, deutscher und italienischer Gewerkschafter. Der linke türkische Gewerkschaftsdachverband DISK hatte ebenfalls aufgerufen und gehörte auch zu den Veranstaltern des Forums, aber seine Mitgliedschaft war größtenteils zuhause geblieben.

Vier Tage lang war es in den Diskussionsrunden in Istanbuls Technischer Universität um Gewerkschaftsrechte und die Lage im türkischen Teil Kurdistans, um die Kriege in Afghanistan, Irak und Tschetschenien, um europäische Tarifpolitik, linke Medien, Bildungspolitik, Wasserprivatisierung, die Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen und nicht zuletzt um die Lage in Palästina gegangen. Gleich auf sechs Veranstaltungen hatten Vertreter der Kommunistischen Partei des Libanons, der Volksfront zur Befreiung Palästinas sowie andere linke Organisationen zusammen mit türkischen Solidaritätsgruppen die Politik Israels und der USA gegeißelt. Auf der Demonstration zum Abschluss des Forums wehten viele palästinensischen Fahnen neben den roten diverser kommunistischer Organisationen und den schwarz-türkisen Bannern eines ansehnlichen Blocks türkischer Anarchisten. Die engagieren sich derzeit besonders gegen die beiden in der Türkei geplanten neuen Atomkraftwerke.

Auch die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die Europa besonders beutelt, kam in vielen Seminaren zur Sprache. Das französisch-
belgische Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt organisierte zum Beispiel eine Diskussionsrunde über die Frage der öffentlichen Schulden in Europa. Teilnehmer aus Griechenland  berichteten in diesem Zusammenhang von der zunehmenden Präkarisierung und zugleich Radikalisierung in ihrem Land. Ein französischer Teilnehmer wies daraufhin, dass in der Vergangenheit in Zeiten größerer Krisen der Krieg für die herrschenden Eliten stets ein Ausweg gewesen ist, um den Unmut der Bevölkerung auf einen  eingebildeten äußeren Feind abzulenken. Aus Deutschland waren knapp hundert Mitglieder der IGM- und DGB-Jugend angereist, die gemeinsam mit belgischen Gewerkschaftern einige außergewöhnlich gut besuchte und lebhafte Diskussionsrunden veranstalteten. Entsprechend zufrieden äußerten sich die jungen Gewerkschafter gegenüber der LinX.

Umweltgruppen, Frauenorganisationen, Studentenvereine, die in Istanbul nicht unwichtigen Initiativen gegen Stadterneuerung, die sich gegen die Vertreibung aus ihren Stadtteilen wehren, sowie andere soziale Bewegungen waren auf dem Forum hingegen kaum vertreten. Auch auf der Demonstration spielten sie keine Rolle.

Hat sich die Sozialforumsbewegung also vielleicht überlebt, wie einige ausländische Teilnehmer meinten? Vermutlich eher nicht. Noch im Oktober letzten Jahres hatte im Osten der Türkei, im kurdischen Diyabakir, das erste Mesopotamische Sozialforum stattgefunden, das von den Veranstaltern wie Beobachtern mit seinen rund 10.000 Teilnehmern als sehr erfolgreich eingeschätzt wurde. Noch in diesem Jahr soll eine Wiederholung stattfinden. Auch das zweite Sozialforum der USA, das sich Ende Juni in Detroit traf, war mit etwa 15.000 Besuchern nicht gerade schlecht besucht. Verschiedenen Berichten zur Folge soll es unter anderem viele junge  Umwelt- schützer angezogen habe.
 
 

Das gerade in Istanbul zu Ende gegangen Europäische Sozialforum fällt also aus der Reihe. Dass es abgesehen von einigen positiven Aspekten im Ganzen eher  ent- täuschend verlief, hatte mehrere Gründe. Zum einen mag die Randlage Istanbuls eine Rolle gespielt haben. Schon das Vorgängerforum im südschwedischen Malmö, für die meisten Europäer ebenfalls am Rande des Kontinents gelegen, war 2008 deutlich schlechter besucht gewesen. Die vorhergehenden Veranstaltungen in Florenz, Paris und London hatten jeweils viele Zehntausende angezogen. Wichtiger war aber wahrscheinlich, dass erstens die Istanbuler Veranstalter erstmals in der Geschichte des ESF ohne Unterstützung der lokalen Behörden auskommen mussten. Vor allem war aber der Veranstalterkreis politisch zu stark eingeschränkt. Viele linke Strömungen waren offenbar nicht vertreten, noch mehr mangelte es im Organisatorenkreis an sozialen Bewegungen.

Und wie geht es weiter? In zwei Jahren wird es das nächste Europäische Sozialforum geben, so viel steht bereits fest. Wo es sein wird, ist noch offen, aber einige Insider sprechen bereits von Wien. Das hatte sich schon 2008 angeboten. Alles weitere wird sich in den nächsten Monaten auf einem der regelmäßig stattfindenden Delegiertentreffen der Sozialforumsbewegung zeigen.

(wop)