Kanzlermehrheit für Sozialraub

„Ich übe Solidarität mit denen, die morgens, wenn sie in den Spiegel schauen, zuerst an sich selbst denken“, sprach der F.D.P.-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt im Bundestag und handelte entsprechend gemeinsam mit der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten. Am Freitag, dem 13ten beschlossen sie, daß es für unser Land besser sei, wenn:

- kranke Lohnabhängige auf 20% ihres Lohnes verzichten,

- der Kündigungsschutz für Beschäftigte in kleineren Betrieben abgeschafft wird,

- das Arbeitslosengeld 1997 nicht erhöht wird,

- Frauen ab dem Jahre 2000 fünf Jahre länger arbeiten, bevor sie in Rente gehen können,

- nur noch drei statt bisher sieben Jahre als Ausbildungszeiten für die Rentenberechnung anerkannt werden,

- Kuren nur noch 3 statt bisher 4 Wochen dauern, sich die Zuzahlung für Kuren erhöht und zusätzlich pro Kurwoche 2 Tage auf den Urlaub angerechnet werden.

Letztlich hält es die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für angebracht, daß die Zuzahlung für Arzneimittel seitens der Patientinnen und Patienten um 1 DM erhöht wird, daß die Erstattung von 20 DM für ein Brillengestell entfällt und daß Versichterte, die 1979 und später geboren sind, ihren Zahnersatz vollständig selbst bezahlen müssen.

Derweil arbeiten die Unternehmensverbände weiter mit der Abrißbirne an der Demontage des sturmreif geschossenen Sozialstaates. „Das Sparpaket ist ein Kurswechsel in der Sozialpolitik. Auf längere Sicht reichen diese Kürzungen aber nicht“, läßt Fritz-Heinz Himmelreich, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, verlautbaren.

Rolf Roth und Wolfgang Weng (haushaltspolitische Sprecher von Union und F.D.P.) sekundieren: „An der Senkung der Ausgaben für ABM führt kein Weg vorbei“, um zu erreichen, daß die Bundesanstalt für Arbeit nächstes Jahr ohne Bundeszuschuß auskommt.

Tatsächlich liegen mit dem Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 1997 schon die nächsten Anstrengungen der „unheiligen Allianz zwischen Kapital und Kabinett“ vor. Schon in der ersten Beratung des Budgets wurde deutlich, daß weitere Kürzungen in den Bereichen der Sozialeinkommen (Arbeitslosenunterstützung, Krankengeld, Renten), Gesundheitsversorgung und Bildung folgen werden. Die weitere Umverteilung von unten nach oben wird mit der Abschaffung der Vermögenssteuer bei gleichzeitiger Rücknahme der bereits beschlossenen Kindergelderhöhung auf 220 DM forciert werden. Trotz aller regierungsoffiziellen „Sparzwänge“ soll die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft und die Gewerbeertragssteuer weiter eingeschränkt werden.

Während die bürgerlichen Medien darüber spekulierten, ob die notwendige „Kanzlermehrheit“ für die Sozialraubgesetze überhaupt zustande kommen würde, also ob die letzten sozialliberalen Mohikaner der F.D.P. und die durch ABM-Kürzungen gebeutelten Ost-CDU-Abgeordneten mit dem Instrument der namentlichen Abstimmung in die Koalitionsdisziplin gezwungen werden könnten, scheint es angesichts der Schwäche der Linken und angesichts der fortschreitenden neoliberalen Sparhysterie, die auch in rosa-grünen Köpfen Platz gefunden hat, eher erstaunlich, daß einige Abgeordnete der „Oppositionsparteien“ dem „Horrorkatalog“ nicht auch noch ihren Segen gaben.
 


Oskar Lafontaine bemängelte zwar die „Unausgewogenheit des Sparpaketes“, und die haushaltspolitische Sprecherin Ingrid Matthäus-Maier sprach sogar von einer „Umverteilung von unten nach oben“, ein Blick in die derzeitige Beschlußlage der SPD zeigt allerdings deren Alternativlosigkeit. So ist der wirtschaftspolitische Beschluß des Mannheimer Parteitages der SPD, auf dem Oskar Lafontaine seinen Konkurrenten Rudolf Scharping vom Thron stieß, ein Sammelsurium von neoliberalen Stereotypen. Ganz im Sinne der herrschenden Standortideologie ist dort die Rede von einer Verschärfung des globalen Standortwettbewerbes, den es mit einer starken Wirtschaft zu gewinnen gelte (Hoch die internationale Solidarität!). Notwendige Konsolidierungsanstrengungen auf allen staatlichen Ebenen seien erforderlich. „Vieles, was wünschbar wäre, ist nicht mehr finanzierbar.“ Deshalb müsse auch „die Effizienz und Zielgenauigkeit des Sozialstaates … verbessert werden“.

Zuguterletzt nennt Rudolf Scharping sogar den „Sozialstaat Mexiko“ als Vorbild für sozialdemokratische Sozialpolitik. Es sei festzustellen, so Scharping im Bundestag, „daß wir in Deutschland mit den Familien schlechter umgehen als fast alle europäischen Länder, ja sogar schlechter als Mexiko.“

Kein Wunder also, daß die niedersächsischen Wählerinnen und Wähler, die nur zwei Tage nach Verabschiedung des Horrorkataloges in die Wahllokale gerufen wurden, angesichts solch genialer rhetorischen Leistungen des „Oppositionsführers“ und angesichts des nicht mehr erkennbaren Profils der SPD es nicht wagten, die CDU für die Sozialraubgesetze abzustrafen.

Unter solchen Voraussetzungen bleibt auch die Hoffnung seitens der Gewerkschaftsführung, daß diese neoliberale Regierung aufgrund ihrer unsolidarischen Politik 1998 abgewählt wird, nicht mehr als eine vage Hoffnung.

Die Befürchtung des F.D.P.-Abgeordneten Burkhard Hirsch, daß die Kürzung der Lohnfortzahlung ein schwerer Fehler sei, „für den wir noch bezahlen werden“, bleibt allerdings eine ebenso vage Hoffnung für die Linke. Zu zögerlich zeigten sich bisher nicht nur die SPD sondern auch die Gewerkschaften beim Organisieren des notwendigen Massenprotestes gegen den Sozialkahlschlag.

Zwar warnen inzwischen Klaus Zwickel, der ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai und nicht zuletzt die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer die Arbeitgeber davor, bestehende Tarifverträge zur Lohnfortzahlung zu mißachten und auslaufende Tarifverträge zur Lohnfortzahlung nicht zu erneuern.

Aber wer redet denn eigentlich noch von denjenigen Lohnabhängigen, in deren Tarifverträgen die Lohnfortzahlung nicht geregelt ist und die ab dem 1.10. mit 20% weniger Lohn im Krankheitsfall auskommen müssen? (Uli Schippels)