Lohnfortzahlung wurde hart erkämpft

Ein historischer Überblick

Vor 40 Jahren erkämpften Arbeiter, was jetzt wieder zur Disposition steht: Die Lohnfortzahlung. Im Winter 1956/57 sah die norddeutsche Metallindustrie einen der härtesten und längsten Streiks in der Geschichte der BRD.

Die Ausgangslage

Die wichtigste Forderung der Metallarbeiter in diesem Schwerpunktstreik war die Lohnfortzahlung für sechs Wochen im Krankheitsfall. Sie wollten mehr soziale Sicherheit und nicht schon wegen einer Grippe in Not geraten. Das ist keineswegs übertrieben. Wenn damals ein Arbeiter, der rund 350 DM im Monat verdiente, vier Wochen krank wurde, erhielt er in dieser Zeit nur 175 DM Krankengeld. Für die ersten drei Tage seiner Krankheit (Karenztage) bekam er keinen Pfennig. Daher stellte die IG Metall folgende Forderungen zu Urabstimmung:

- Sechs Wochen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter, also Gleichstellung mit den Angestellten (deren Lohnfortzahlung sich aus dem § 616 BGB ergab);

- Zahlung eines zusätzlichen Urlaubsgeldes von 7,50 DM täglich;

- Verlängerung des Urlaubs.

Die Unternehmer hatten diese Forderungen am 28.9.1956 strikt abgelehnt, nachdem sie monatelang die Tarifverhandlungen über den neuen Manteltarif verschleppt hatten. Daraufhin rief die Gewerkschaft am 11. und 12.10.1956 ihre Mitglieder - 71,9% der Arbeiter der schleswig-holsteinischen Metallindustrie - zur Urabstimmung auf. 77,5% entschieden sich für Streik.

1. Streiktag: 18.000 Metaller im Ausstand

24.10.1956. 18.000 Metaller standen seit den frühen Morgenstunden in einem Schwerpunktstreik. Es war der erste von 114 Streiktagen. Am Ende traten 30.000 Metaller in den Ausstand. Die Unternehmer, ihre Politiker und Medien behaupteten: „Die Arbeiter wollen das ’Blaumachen‘ und ’Faulenzen‘ tariflich verankern!“

2. Streiktag: Der Minister und die Unternehmer

Die Propagandazentrale der Unternehmer, das „Deutsche Industrieinstitut“, drohte, „es sei anzunehmen, daß die bestreikten Unternehmen streikende Arbeitnehmer aussperren werden.“ Zur selben Zeit verschickte Schleswig-Holsteins Innenminister Lemke (CDU) die Dienstanweisung Nr. 4 an alle Polizeidienststellen. Darin werden Streik-Posten als „Terroristen“ diffamiert, „die vor keinem Gewaltakt zurückckschrecken.“

11. Streiktag: „Terror vor den Toren“

Je größer die Entschlossenheit der Streikenden war, um so wilder schlugen die Unternehmer um sich. Am 3.11. veröffentlichten sie in den Tageszeitungen Schleswig-Holsteins folgende Anzeige: „Der Streik wäre längst zu Ende gewesen, wenn die Arbeiter durch den Terror der Zentralen Streikleitung am Betreten ihrer Werke nicht gehindert würden. Vor den Toren herrscht der Terror.“

22. Streiktag: Der Landtag tagt

Am 14.11.1956 debattierte der Landtag über den Streik. CDU-Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel machte sich für die Unternehmer stark. Die „Streik-Nachrichten“ der IG Metall berichteten: „Die Mehrheit des Landtages entpuppt sich nicht als Vertreter des Volkes - wie es nach der Verfassung sein sollte - sondern als Interessenvertretung einer Handvoll Unternehmer.“

27. Streiktag: Solidarität aus dem Ruhrgebiet

Ein Telegramm von Tausenden kam am 19.11. bei der Kieler Streikleitung an: „Wir Arbeiter der Krupp-Werke haben erkannt, daß Ihr im Interesse aller Metallarbeiter der Bundesrepublik handelt. Wir erklären uns mit Euch solidarisch.“

60. Streiktag: Weihnachten - der LKW aus Mannheim

Acht Wochen Streik. Immer noch keine Verhandlungen. Weihnachten stand vor der Tür. Die Unternehmer setzten auf einen Stimmungsumschwung. Springers „Welt“ schrieb berechnend: „Trübe Festtage für Hunderttausend.“ Doch die Solidarität der GewerkschafterInnen in der BRD war größer. Aus nah und fern kamen Geschenke. Die Essener Jugendgruppen der IG Bergbau schickten einen Lastwagen mit Kinderspielzeug. Vollgepackt mit Weihnachtsgeschenken war ein LKW aus Mannheim, an dessen Seitenwänden stand: „Solidarität der Mannheimer Metaller zum Streik in Schleswig-Holstein.“

66. Streiktag: Einlenken der Unternehmer

Am 28.12. lenkten die Unternehmer ein. Die Kraft des Streiks und die BRD-weite Solidarität zwangen sie an den Verhandlungstisch der freiwilligen Schlichtungsstelle. Doch das Ergebnis - gegen die Stimmen der IG Metall angenommen - sah keine Bezahlung der drei Karenztage vor und nur für einen Teil der Arbeiter einen Zuschuß zum Krankengeld.

76. Streiktag: 97,38% sagen NEIN

Am 7.1.1957 fand die Urabstimmung darüber statt. Sie wurde zu einem Bekenntnis gewerkschaftlicher Geschlossenheit. 97,38% der organisierten Metaller folgten der Empfehlung der Gewerkschaftsführung und wiesen den „Einigungsvorschlag“ zurück. Auch ein Beleg dafür, welch schlechte Erfahrungen die Metaller mit den „Karenztagen“ am eigenen Leibe gemacht hatten. Vier weitere Betriebe wurden in den Streik einbezogen. Damit befanden sich rund 30.000 Metaller im Ausstand.

99. Streiktag: „Das ist zuwenig“

Am 22.1. mußten sich die Unternehmer erneut zu Verhandlungen bereit erklären. „Das ist uns zuwenig“, so lautete die Meinung der Mehrheit der Streikenden zum Vorschlag der Großen Tarifkommission, den ausgehandelten Tarifvertrag zu akzeptieren. Danach sollte erst nach sieben Krankheitstagen ein Ausgleich zwischen Krankengeld und 90% des Nettolohns gezahlt werden und nur für einen Karenztag der volle Lohn. Bei der Urabstimmung am 30.1. lehnten 76% ab.

100. Streiktag: Die Presse „voller Empörung“

Die bürgerliche Presse reagierte hysterisch. Ihre Schlagzeilen: „Staatlicher Notstand“, „Maßlosigkeit“, „Streikrecht gerät in die Krise.“ Doch am 8.2. willigten die Unternehmer in neue Verhandlungen ein. 36 Stunden später war das bisher beste Ergebnis auf dem Tisch: Die Unternehmer mußten u.a. den Ausgleich zwischen Krankengeld und 90% des Nettolohns vom vierten Krankheitstag an zahlen und nach einer Krankheit für eineinhalb Karenztage den vollen Lohn. Nach zwei Wochen für alle drei Karenztage.

114. Streiktag : Der Durchbruch ist geschafft

An diesem Tag wurde das Resultat der Urabstimmung vom Vortag, dem 13.2., bekanntgegeben: 39,66% der 28.697 Kollegen hatten für das vorliegende Verhandlungsergebnis gestimmt. Damit galt es als angenommen, wenngleich 57,66% mit ihrem NEIN deutlich machten, daß ihre ursprünglichen Forderungen noch nicht erfüllt waren. Dennoch waren auch sie sich darüber im Klaren, daß sie die entscheidende soziale Bresche für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall geschlagen hatten. In der Folge wurde in weiteren Metall- und anderen Tarifverträgen die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft. Erst dazliche Regelungen. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, welch hohen sozialen Stellenwert die Tarifautonomie für die Gewerkschaften hat und auch für die politische Linke haben sollte.

So wurde durch das Gesetz vom 12.7.1961 (BGBl. I 913) der zweite Karenztag abgeschafft und der Zuschuß so erhöht, daß 100% des Nettoverdienstes erreicht wurden. Aber erst zwölf Jahre nach diesem Streik wurde unter der Regierung der Großen Koalition am 12.7.1969 das Lohnfortzahlungssetz (LFZG) in der heutigen (bzw. bisherigen) Form gültig.

Es hatte also einer dreimonatigen Klassenauseinandersetzung bedurft, um einen ersten sozialen Pflock für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter einzuschlagen. Vorher waren sie auch bei den nicht seltenen arbeitsbedingten Krankheiten den „Karenztagen“ ausgeliefert.

(hg, nach G. Kemski in „Disput“ 8/96)