NS-Urteile in S.-H. immer noch legitim

Minister Walter fordert Bundesgesetz zur Aufhebung

„Es ist eine bedrückende Situation, daß über 50 Jahre nach Ende der NS-Gewaltherrschaft eine Unzahl damaliger Unrechtsurteile formal unverändert Bestand haben. Hier ist schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen. Deshalb werde ich eine Initiative zur Änderung des Unrechtsbeseitigungsgesetzes ergreifen. Die Unrechtsurteile müssen aus der Welt. Die Behandlung dieses Themas ist ein wichtiger Prüfstein für die heutige Generation in der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur.“ Dies sagte Schleswig-Holsteins Minister für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Gerd Walter am 17.9. in Kiel.

Schleswig-Holsteins Bemühungen zur Beseitigung der NS-Unrechtsurteile fänden derzeit vor einem juristisch komplizierten Hintergrund statt. Das seit 1990 für die ehemalige britische Zone und damit auch in Schleswig-Holstein geltende „Unrechtsbeseitigungsgesetz“ sehe vor, daß zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 ergangene Urteile in Strafsachen unter gewissen Voraussetzungen einer Einzelfallprüfung aufgehoben werden können. Voraussetzung sei allerdings ein Antrag des Betroffenen, seiner Angehörigen bzw. der Staatsanwaltschaft. Grundsätzlich bestehe somit ein juristisches Instrumentarium. Gerd Walter: „Der Teufel steckt hier jedoch im Detail. Das Gesetz ist praktisch kaum zu handhaben und birgt Zumutungen für die Angehörigen.“ Eine Aufhebung komme nämlich, entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes, nur bei Taten in Betracht, die „überwiegend aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus oder, um sich oder andere der Verfolgung durch den Nationalsozialismus zu entziehen, begangen worden sind oder die allein nach nationalsozialistischer Auffassung strafbar waren“. Die Auslegung dieser Begriffe führe zu erheblichen Schwierigkeiten, die Rechtsprechung verhalte sich momentan eher zurückhaltend. Die Zahl der erfolgreichen Verfahren sei daher eher gering. In der Praxis bedeute dies, daß zahlreiche Urteile weiter bestehen. Vor allem verleihe die bisherige Rechtslage der Unrechtsjustiz der Nationalsozialisten einen unerträglichen Anschein prinzipieller Legitimität. „Wir brauchen ein Bundesgesetz, das ohne eine langwierige und aufwendige Einzelfallprüfung zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile führt“, sagte Gerd Walter.

Wie leicht sich das Unrechtsbeseitigungsgesetz gegen die Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen auslegen läßt, verdeutlicht das folgende Beispiel: Der Antrag auf Aufhebung eines Todesurteils durch die Staatsanwaltschaft wurde am 14.2.1995 vom Oberlandesgericht zurückgewiesen. Diesem Beschluß lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte war als Strafgefangener zur Beseitigung von Blindgängern und Bomben mit Zeitzünder nach Kiel abgestellt worden und hatte dort im Juli 1944 an zwei Tagen in einem bombengeschädigten Gebäude gearbeitet. Dabei hatte er u.a. Speck, eine Rolle Bindfaden und Radiergummi, einige Tinten- und Bleistifte, eine Tafel Schokolade und zwei Kisten mit etwa 60 Zigarren an sich genommen. Ebenfalls hatte er eine Geldbörse mit 86 Reichsmark Inhalt gefunden und behalten. Das Sondergericht beim Landgericht Kiel hatte den Angeklagten durch Urteil vom 3.11.1944 wegen eines Diebstahls bzw. Unterschlagung nach den §§ 242, 243 Nr. 2, 246 StGB in Tateinheit mit der Volksschädlingsverordnung zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe wurde am 5.12.1944 vollstreckt. Die Zurückweisung der Aufhebung dieses Urteils wurde vom OLG wie folgt begründet: „Unter Anwendung dieser Gesichtspunkte muß gesagt werden, daß sich das Verhalten des vom Sondergericht verurteilten Angeklagten nicht allein nach nationalsozialistischer Auffassung als strafbar darstellte; es war vielmehr damals auch ohne Anwendung der Volksschädlingsverordnung und wäre auch heute nach allgemein strafrechtlichen Bestimmungen, hier nach den §§ 242, 243, 246 StGB, als Diebstahl und Unterschlagung strafbar.“ Die Tatsache, daß ein geringfügiges Delikt wie Diebstahl mit dem Tode bestraft wurde, fand in der Urteilsbegründung des OLG keine Berücksichtigung.

Bereits 1990 hatte der schleswig-holsteinische Generalstaatsanwalt Prof. Dr. Ostendorf in einem Bericht festgestellt, daß das Sondergericht Kiel „in der Zeit von Juli 1939 bis Mai 1945 in 109 Verfahren Todesurteile gegen 125 Menschen gefällt hat. Soweit ersichtlich, sind die Urteile an 120 Menschen vollstreckt worden. Die Akten der Verfahren gegen Oststaatenangehörige, die mit Todesurteilen endeten, sind im wesentlichen nicht mehr vorhanden. Aus den Registern war aber zu entnehmen, daß Todesurteile gegen 44 polnische Staatsangehörige wegen angeblicher Verbrechen nach der ’Polenstrafrechtsverordnung‘ ergangen sind.“ Die Auswertung des vorhandenen Aktenmaterials habe ergeben, daß keine Todesurteile gefällt worden seien, deren Taten allein nach nationalsozialistischer Auffassung strafbar waren. Der Bericht weiter: „Auch konnte nicht festgestellt werden, daß eine Tat aus überwiegender Gegnerschaft zum Nationalsozialismus begangen wurde. Mögliche politische Beweggründe der Verurteilten waren nicht zu erkennen. Die Staatsanwaltschaft beim schleswig-holsteinischen Oberlandesgericht konnte deshalb aus Rechtsgründen nur in 17 Fällen Anträge auf Aufhebung eines Todesurteils stellen. Die Todesurteile beruhten ausschließlich auf der ’Volksschädlingsverordnung’.“

Noch nicht untersucht worden sind die Akten der ungefähr 3.500 Freiheitsstrafen, die das NS-Sondergericht verhängt hatte. (bam)