Das Ergebnis war deutlich: Die amerikanischen Wähler zogen es vor, vier weitere Jahre Bill Clinton im Präsidentenamt zu sehen, statt es mit Bob Dole zu probieren. Damit ist zum ersten Mal seit Franklin Roosevelt ein demokratischer Präsident wiedergewählt worden. An der Oberfläche erweckt das den Anschein, als ob die Welle des Konservativismus, die bei den Kongreßwahlen vor zwei Jahren über Amerika schwappte, vorüber sei. Aber der Eindruck mag trügen.
Während die Wählerinnen und Wähler (von denen übrigens
nur 49% wählten, während eine große Minderheit aus Überzeugung
fernblieb) Bill Clinton mit seinen etwas progressiveren Einstellungen wiederwählten,
behielten die konservativen Republikaner klare Mehrheiten, sowohl im Repräsentantenhaus
als auch im Senat, die ebenfalls zum turnusmäßigen Teil neu
gewählt wurden. Die Legislative, bis zur konservativen Wende 1994
lange in demokratischer Hand, ist also erneut unter Kontrolle der rechten
Opposition. Wie in den vergangen beiden Jahren werden also Legislative
und Exekutive um die Oberhand ringen, wenn es um die Richtung der Politik
geht, und häufig in der unzufriedenstellenden Mitte der schlechten
Kompromisse enden.
Clinton - Retter der nationalen Vernunft
Ironischerweise hat genau das Clinton den Wahlsieg ermöglicht.
Nachdem er mit seinen Visionen 1992 einen überzeugenden Wahlsieg errungen
hatte, geriet er rasch in Schwierigkeiten, die auf seine Unterschätzung
der Machtstrukturen und ein Gutteil Desorganisation zurückzuführen
waren. Die Verworrenheit mancher seiner Initiativen und der konzertierte
Widerstand maßgeblicher Industrieinteressen führten zu einem
ruhmlosen Scheitern angestrebter Reformen, z.B. im Gesundheitswesen und
in der Verwaltung. Der Zynismus der Öffentlichkeit über die Vorgänge
in Washington schlug 1994 in eine Welle wütenden Konservativismus
um. Doch diese Niederlage war langfristig ein Bonus für Clinton, der
vor zwei Jahren in der öffentlichen Meinung als erledigt galt. Der
Angriff der neugewählten, meist jungen Republikaner auf den ohnehin
schwach entwickelten Sozialstaat, das Umweltrecht, die Gleichstellungsförderung,
die Finanzierung von Erziehung, Kunst und Wissenschaft, gaben Clinton die
Möglichkeit, sich durch wohlpublizierte Vetos zum Retter und Förderer
nationaler Vernunft zu stilisieren. Gleichzeitig bewegte er sich rasch
in die Mitte, darauf kalkulierend, daß der progressivere Flügel
seiner Partei ohnehin keine andere Wahl haben würde, als zu ihm zu
stehen. Der Wendepunkt kam in einem hingezogenen Streit um Balance im nationalen
Budget zur Jahreswende 1995/96, der zur vorübergehenden Schließung
öffentlicher Ämter führte. Clinton kooptierte einige republikanische
Ideen, griff aber den Inhalt der vorgeschlagenen Kürzungen an, und
schaffte es, die Schuld an der Blockade den Republikanern unter Newt Gingrich
anzulasten. Für radikale Einschnitte waren die AmerikanerInnen zu
haben, nicht aber für selbstgefälliges Beharren auf kompromißlosen
Positionen. Die „konservative Revolution“ kam in Schwierigkeiten, und ihr
Anführer Gingrich, im öffentlichen Auftreten Clintons politischem
Gespür deutlich unterlegen, hatte plötzlich die schlechtesten
Sympathiewerte aller öffentlichen Personen. Von der späteren
Wahlkampagne Doles wurde er schließlich systematisch ferngehalten.
Dafür erzielten die Demokraten gute Erfolge damit, Gegner als Gingrich-Republikaner
zu brandmarken. Zum zweiten Mal in vier Jahren ist damit nach Clinton einem
heftig gefeierten Führer populärer Sentimente in kurzer Zeit
das Vertrauen entzogen worden. Interessant ist, daß beide, Clinton
und Gingrich, Kinder der 60er sind, der eine geprägt vom Idealismus
der Revolte, der andere von der Abneigung gegen diese.
Die Wirtschaft boomt
Dies war die Grundlage für Clintons klaren Wahlerfolg, der so plötzlich
überraschend vorhersehbar war. Glück mit außenpolitischen
Aktionen, ein generell guter Zustand der amerikanischen Wirtschaft (zumindest
vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet) und die Tatsache, daß
Clintons viele Eitelkeiten, Skandale und Verwicklungen der Öffentlichkeit
inzwischen nur allzu gelangweilt bekannt waren, rundeten die Lage zum Beginn
der Wahlsaison ab. Nur zwei Dinge fehlten noch zum jetzigen Erfolg, die
aber eintraten: die Selbstlähmung der republikanischen Partei in einem
Jahr, das sie an sich hätten groß gewinnen können. Der
extrem populäre Ex-General Colin Powell, für AmerikanerInnen
weithin das Sinnbild der Integrität und Aufrichtigkeit, die in Washington
vermißt wird, erklärte, daß er nicht für das Präsidentenamt
kandidieren werde. Es gilt als relativ sicher, daß er, hätte
er kandidiert, möglicherweise 60 oder gar 70% der Stimmen erhalten
hätte. Dabei waren seine politischen Überzeugungen recht wenig
bekannt, und erst kurz vor dem Beginn des Wahlkampfes um die Kandidatur
der Parteien hatte er erklärt, er fühle sich stärker zu
den Republikanern hingezogen. Das Clinton-Lager atmete ob seiner Nicht-Kandidatur
hörbar auf.
Bob Dole - Verfechter vergangener Werte
Der zweite Fehler, den die Politik-Maschine der Republikaner produzierte,
war die Wahl Bob Doles zum Kandidaten. Dole, Veteran des zweiten Weltkriegs
und vergangener amerikanischer Werte, hatte in 30 extrem einflußreichen
Jahren im Senat zu viele pragmatische Kompromisse ausgehandelt, um in einer
ideologisch angeheizten Stimmung nicht angreifbar zu sein. Als Politiker,
der Macht dadurch ausübte, daß er Mehrheiten beschaffen konnte,
war er zu sehr an Gespräche in Hinterzimmern gewöhnt, als daß
er Kontakt zur Öffentlichkeit überzeugend hätte herstellen
können. Daß er einen Hang zu trockenem, intellektuellem Humor
hat, nicht über Clintons Fähigkeiten als Kommunikator verfügt
und sich ungern managen läßt, fügten eine Komponente der
Verzweiflung zu einem insgesamt schlecht geführten Wahlkampf, in dem
es nur einen einzigen Moment gab, in dem er als möglicherweise ernster
Herausforderer auftrat. Das war am Beginn seiner Kampagne, als er in seinem
Heimatort demonstrierte, daß er nicht zu jenen jungen Clintons und
Gingrichs mit ihrer postmodernen Persönlichkeitsstruktur gehört.
Umstrittene Wahlkampfspenden an Clinton
Der Wahlkampf, der folgte, war langweilig. Clinton hielt sich von potentiellen Schwierigkeiten fern und schaffte es, möglicherweise gefährliche Entwicklungen durch Kooptierung zu regulieren; zuletzt ein paar Tage vor dem Wahltag am 5. November, als indonesische und taiwanesiche Geldspenden an seine Partei in Höhe von mehreren Hunderttausend Dollar bekannt wurden und Clinton sofort zu einer umfassenden Reform der Wahlkampffinanzierung aufrief, um derlei künftig zu verhindern. So leidenschaftlich gerne Clinton auf Wahlkampf ist, so hielt er sich doch an den Rat seines Teams, daß er am besten wegkomme, solange er im Weißen Haus bleibe und Präsident sei. Das kam bei den AmerikanerInnen gut an, und so unterzeichnete Clinton allwöchentlich neue Gesetze und Initiativen. Die Eckpfeiler seiner Kampagne waren: die Tatsache, daß es der Wirtschaft gut geht, Steuerabschreibungen für die Ausbildung (sprich die hohen Studiengebühren) und den Hausverkauf, gleichzeitig das Versprechen, die Krankenversicherung der Rentner nicht weiter anzugreifen.
Bob Dole dagegen schlug eine Steuersenkung um 15% für alle vor, blieb aber die Antwort darauf schuldig, wo genau die dann fehlenden mehreren hundert Milliarden Dollar gekürzt werden sollen. Die Öffentlichkeit, normalerweise immer auf Steuerkürzungen aus, kaufte ihm das Manöver nicht ab. Den wechselhaften Charakter des Präsidenten anzugreifen, gelang ebenfalls nicht, da Dole ohnehin das Problem hatte, nicht als besonders hart zu gelten. Die beiden TV-Debatten zwischen Dole und Clinton änderten am inzwischen Unvermeidlichen nichts mehr. Während Dole davon gesprochen hatte, daß er eine Brücke zu den Werten einer besseren Vergangenheit herstellen wolle (gemeint waren wohl die 50er), begann Clinton unablässig davon zu sprechen, daß er eine Brücke zum 21. Jahrhundert bauen wolle - ein geschickt versteckter Seitenhieb auf Doles Alter. Seit Mai führte Clinton deutlich in allen Meinungsumfragen, meist zweistellig, und das änderte sich bis zum Wahlkampf kaum. Clinton gewann deutlich. Noch im Winter 1994/95 hätte das niemand für möglich gehalten.
Aber wie gesagt, es darf nicht übersehen werden, daß die Republikaner die klare Mehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus behielten. So klar war politisch gesehen das Votum der AmerikanerInnen also nicht. Und das, obwohl Clinton in den letzten Wochen vor der Wahl sogar begonnen hatte, für die demokratischen KandidatInnen zum Kongreß Wahlkampf zu machen, was zuvor als potentiell schädigend für seine Wahlchancen vermieden worden war. In Kalifornien, wegen seiner Dynamik und Größe ein extrem wichtiger Staat, wurde Clinton klar zum Präsidenten gewählt, während die WählerInnen in einer Volksbefragung gleichzeitig alle amtlichen Gleichstellungsmaßnahmen („affirmative action“) abschafften: ein tiefer Widerspruch, wenn man Clintons Wahl als Sieg progressiver Politik verstehen will. Dieser und andere ähnliche Wahlausgänge zeigen, daß es um die Vermeidung konservativer Exzesse ging, nicht um einen grundsätzlich neuen Versuch, die Probleme zu lösen. Das traut niemand im Land mehr Clinton zu.
Hinter all dem steht jedoch eine viel langfristigere, eigentümlich
amerikanische politische Entwicklung, nämlich die Frage nach dem Verhältnis
zwischen Bundesregierung und den einzelnen Staaten, nach dem Verhältnis
zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung, und nach der
Definiton Amerikas als einheitliche oder als multikulturelle Gesellschaft.
Zentralregierung und Bundesstaaten
Die amerikanische Verfassung sieht eine relativ schwache Zentralregierung
vor, die hauptsächlich den Bund nach außen vertritt und Angelegenheiten
zwischen den Staaten reguliert, die ansonsten relativ autonom sind (bis
heute sind Verkehrsregeln, das Gerichtswesen, Strafen, Steuern usw. unterschiedlich
in verschiedenen Staaten). Der Grund für diese Bestimmungen war ein
tiefes revolutionäres Mißtrauen gegen die Gründung einer
starken Zentralgewalt, die sich, so wurde argumentiert, letztendlich immer
gegen die Bevölkerung richten werde. Im Jahre 1789, als die Verfassung
verabschiedet wurde, hieß das nicht zuletzt, daß Gefahr bestünde,
ein starker Präsident könne sich nach englischem Vorbild zum
Monarchen entwickeln, der Senat erblich werden (das Beispiel Napoleons
zeigt, daß solche Gedanken nicht absurd waren). Aber von Anfang an
gab es eine starke Gegenströmung dazu, die von der Überzeugung
getragen wurde, daß die Union nur überleben könne, wenn
sie geeint sei. Der über 20 Jahre äußerst scharf ausgetragene
Disput zwischen Thomas Jefferson und James Madison einerseits und John
Adams und John Hamilton andererseits führte zum amerikanischen Zweiparteiensystem,
obwohl die Verfassung nichts von Parteien erwähnt und Washington diese
explizit für schädlich hielt. Die Auseinandersetzung hielt an,
aber die Zentralgewalt wuchs. Ein Durchbruch kam in den 30er Jahren, als
Roosevelt mit dem New Deal auf die weltweite Wirtschaftskrise und ihre
Folgen in Amerika reagierte und erstmals landesweite staatliche Sozialprogramme
auflegte. Erstmals übernahm damit die Bundesregierung aus Notwendigkeit
Aufgaben, die tief in das Sozialwesen der einzelnen Staaten eingriffen.
Auch unter späteren Regierungen, z.B. unter Kennedy, herrschte die
Auffassung, daß nur klare Gesetze aus Washington Fortschritte in
der Emanzipation der verschiedenen Ethnien, der Ausbildung und der Zurückdrängung
der Armut erzielen können. Dem hängt auch Clinton an. Aber es
gibt eine starke, heute rechte Strömung im Land, die das Recht der
Regierung, solche Maßnahmen zu beschließen, grundsätzlich
in Frage stellt und in einem ersten Schritt Verantwortung und Finanzen
wieder stärker an die Staaten delegieren will. Davon wird sich auch
eine Vielzahl lokaler Ansätze und Lösungen erhofft, wobei argumentiert
wird, daß zentrale Lösungen nicht nur teuer sondern auch gescheitert
sind. Die Gegner dieser Meinung, meist in der demokratischen Partei, vermuten
in vielen Fällen zurecht, daß es dabei letztlich darum geht,
erzielte soziale Fortschritte zu unterlaufen und lokal abzubauen. Gleichzeitig
herrscht, wie auch in Europa, innere Unsicherheit über die Anwendbarkeit
alter Rezepte. Clinton hat sich hier in eine Mittelposition manöveriert,
indem er Herzstücke alter Reformen verteidigen will, aber zu starken
Einschnitten an allen Rändern bereit ist.
Soziale Verantwortung?
Damit im Zusammenhang steht die Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung. In den USA beinhaltet die von allen, nicht nur den Reichen eingeforderte individuelle Freiheit das Recht, sich um den Nächsten oder die Nächste nicht besonders kümmern zu müssen. So sind z.B. Beiträge zur Krankenversicherung nicht nach Gehalt gestaffelt sondern absolut: jeder zahlt die Leistung gleich, sprich, nur für sich. Wo in Europa das Gemeinwohl stärker im Vordergrund steht, und im Prinzip akzeptiert wird, daß zu dessen Sicherung staatliche Zwangsmaßnahmen notwendig sind, äußert sich in den USA soziale Verantwortung im Rahmen individueller Freiheit in einer großen Bereitschaft, freiwillig zu spenden und Beiträge zum Allgemeinwohl zu leisten, dazu aber nicht streng verpflichtet zu sein. Element darin ist auch die Freiheit, sich aussuchen zu können, was unterstützenswert ist. Staatliche Regulierungen nach europäischem Vorbild werden als Eingriff in Persönlichkeitsrechte verstanden. Aus europäisch, linker Sicht handelt es sich bei dieser Einstellung um Überreste der patriarchalen Einstellung eher begüterter Schichten, die sich in den USA auf breitere Bevölkerungskreise übertragen konnte. Der Glaube an diese persönliche Freiheit wirkt in Form einer „amerikanischen bürgerlich-zivilen Religion“. Daß diese Religion jedoch in der Praxis zu Chancenlosigkeit und Armut großer Bevölkerungsteile führt, ist dabei ein offener Widerspruch. Die amerikanische Gewerkschaftsbewegung erlebt zwar derzeit eine gewisse Wiederbelebung, aber die scheinbare Immunität des heutigen Amerika gegen sozialistische Gedanken ist zum Großteil darauf zurückzuführen, daß die positive Qualität individueller Freiheit im Bewußtsein der Mehrheit das Problem grundsätzlicher sozialer Gerechtigkeit überragt. Das ist scheinbar nur für Europäer schwer verständlich.
Den Zirkel zurück zur Wiederwahl Clintons schlagend seien in diesem Zusammenhang jedoch folgende deutliche Zahlen erwähnt, die auf Befragungen von WählerInnen und nach der Wahl beruhen. Männer wählten Clinton und Dole zu gleichen Teilen, je zu 44%. Frauen jedoch wählten Clinton zu 54%, Dole nur zu 37%. Während Weiße Dole mit 45 zu 44% Clinton vorzogen, wählten Schwarze Clinton zu 83% und Dole nur zu 13%. Bei Latinos führte Clinton noch mit 72 zu 21%. Nur Einwanderer aus Asien zeigten einmal mehr, daß sie sich selbst nicht immer zu den Minderheiten zählen: sie wählten Dole mit 46% gegen 44% für Clinton. Junge Leuten wählten Clinton mehr ebenso wie Menschen mit längerer Schulausbildung. Schließlich wählten Reiche vorwiegend Dole. Und es gab regionale Unterschiede. Die konservativen Staaten liegen nach wie vor im mittleren Westen und den Rocky Mountains und ziehen sich durch den alten Süden der Republik. Die Demokraten dagegen setzen ihre Wahlsiege aus Siegen an der Ostküste und an der Westküste zusammen. Im neuengländischen Massachussetts gewann Clinton mit 62 gegen 28% haushoch, in der universitätsreichen Hauptstadt Boston sogar mit 75 gegen 20%. Der nächste Präsident, welcher Richtung er auch immer angehört, wird bereits zur Geschichte des nächsten Jahrhunderts zählen.
(Aus den USA (Boston) berichtet ww)