Dziga Vertov - Revolutionärer Dokumentarfilmer:

„Ich bin Kinoglaz“

Vor 50 Jahren starb in Moskau am 12. Februar 1954 der sowjetische Dokumentarfilmer und Filmtheoretiker Dziga Vertov. 1917, während der Oktoberrevolution, wurden überall Räte – auf russisch: Sowjets – gegründet, und ebensoviele Komitees. An diesem Umbruch wollte auch ein 20-jähriger mitwirken, der sich beim Moskauer Filmkomitee vorstellte. Dziga Vertov, der 1896 im russisch-polnischen Bialy-stok als Denis Arkadovitsch Kaufman geboren wurde. Aufgewachsen war er mit den antisemitischen Pogromen und dem Elend der Zarenzeit. Voller Tatendrang entschied er sich mitten im noch Jahre andauernden Bürgerkrieg für die Bolschewiki. Mit der Revolution war auch eine Umwälzung in der Kultur verbunden: Marc Chagall wurde Leiter der Akademie für Malerei in Witebsk, arbeitete eng mit dem Volkskommissar für Kultur Lunatscharski zusammen und malte zur Feier der Oktoberrevolution blaue Kühe an Häuserwände. Agitationszüge und -schiffe voller Theatergruppen, mobiler Kinos und Kameras fuhren über Land und Flüsse. ExponentInnen verschiedener Konzepte von Kultur lagen im Wettstreit darüber, welches am besten zur neuen Zeit passe.

„Wir nennen uns 'Kinoki' im Unterschied zu den 'Kinematographisten' – der Herde von Trödlern, die nicht übel mit ihren Lappen handelt. ... Wir erklären die alten Kinofilme, die romantizistischen, theatralisierten u. a. für aussätzig. Nicht nahekommen! Nicht anschauen! Lebensgefährlich! Ansteckend! Wir bekräftigen die Zukunft der Filmkunst durch die Ablehnung ihrer Gegenwart.” So schrieb Dziga Vertov 1922 in seinem berühmten “Wir. Variante eines Manifestes”. Er hatte 1919 die Dokumentarfilmergruppe „Kinoki“ mitgegründet. Spielfilme lehnten sie grundsätzlich ab. Die Kamera erklärte Vertov zu „Kinoglaz“ („Kino-Auge“), welches die bürgerliche Wahrnehmung der Welt durch das menschliche Auge in Frage stellen sollte:

„...Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern.“ Oder wie Vertov 1926 schrieb: „Das Filmdrama ist Opium für das Volk. Nieder mit den bourgeoisen Märchenszenarien! Es lebe das Leben, wie es ist! Es lebe das Kinoglaz der proletarischen Revolution!“

Vertov gilt in der Filmgeschichte als der Erfinder der kompilierten Wochenschau, die kollektiv entwickelt wurde, um im Bürgerkrieg die nicht alphabetisierten Bauern und Arbeitern zu agitieren. Vertov war der nicht narrativen Methode verpflichtet und lehnte Drehbücher ab. Vertov war in den 20er Jahren ungemein produktiv und steht beispielhaft für eine ganze Generation von sowjetischen Dokumentarfilmern. Sie entwickelten die Montage, die Gegenüberstellung von Filmsequenzen weiter: Mithilfe der Montage konnte die Welt neu zusammengesetzt und zu neuer Kenntlichkeit erstellt werden. In den 30ern, mit der Herrschaft von Stalin fand nicht nur der politische Impuls der Bolschewiki, sondern auch die kulturelle Aufbruch ein Ende. Zur Zeit der großen, von Stalin inszenierten Schauprozesse gegen die führenden Personen der Oktoberrevolution konnte Vertov noch einige Filme machen. Ab 1944 arbeitete er für die Wochenschau Novosti dnja, konnte aber keine eigenen Filme mehr drehen.

Dziga Vertov überlebte die nationalsozialistischen Deutschen, in deren Feindbild der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung er gepasst hätte. Die Wucht, mit der er Bilder zu einer Dokumentation gegen den deutschen Überfall zusammenfügte, ist in Deutschland nahezu unbekannt. Als Theoretiker der Montagetechnik ist Vertov Cineasten ein Begriff, aber die sechs Dokumentationen, die Vertov nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion von 1941 bis 44 produzierte, sind unbekannt. So der Film „Krov‘ za krov, smert‘ za smert“ („Blut für Blut, Tod für Tod - Die Verbrechen der faschistischen deutschen Eroberer auf dem Territorium der UdSSR“), oder „Tebe, front!“ („Für dich, Front!“)

Im Hamburger Metropolis wurden dieser Tage Filme aus der Zeit davor gezeigt. Für den Stummfilm „Ein Sechstel der Erde“ hat Vertov 1926 zahlreiche Filmberichte aus allen Teilen der Sowjetunion zu einem großen gleichberechtigten Miteinander verschiedenster Menschen montiert. Sein acht Jahre später gemachter Film über den bekanntesten Leiter der Oktoberrevolution Lenin huldigt diesen so, dass es eine indirekte Kritik an Stalin ist. Der Tonfilm „Drei Lieder über Lenin“ ist um drei usbekische Lieder montiert: Eines über die Befreiung der Frauen Zentralasiens vom Schleier, eines über das politische Wirken Lenins und sein Begräbnis 1924, eines über Errungenschaften des Sozialismus im Sinne Lenins.

Der Film „Enthusiasmus“ von 1930 ist der erste sowjetische Ton-Dokumentarfilm überhaupt. Zur Bild- kommt hier die Ton-Montage von Klängen aus der Industrieproduktion im Donbass-Becken, dem Gesang der Internationale zur Feier des Ersten Fünfjahresplanes. Es ist ein formvollendeter Beitrag zur Propagierung zur Industrialisierungspolitik, mit der in der Stalinzeit eine recht rabiate Modernisierung durchgesetzt wurde. Dabei zeigt „Enthusiasmus“ vor allem das Voranschreiten, Begeisterung. Vertov schrieb dazu: „Im Feuerschein der Hochöfen laufen die radiotelegrafischen Berichte ein. In die Zukunft heulen und laufen sozialistische Sirenentöne. Durch Feuerwerke blendender Stahlfunken wird unaufhörlich die Nacht erschossen. Sonne um Sonne richten sich die Bessemerbirnen empor. Die Klänge der Werkbänke fließen mit den Tönen der ‚Internationale‘ zusammen. Und Spezialmaschinen zählen den Enthusiasmus der Donbassarbeiter, in Ziffern verwandelt.“

Nicht nur KommunistInnen werden von Vertovs dokumentarischen Filmen bewegt sein und etwas mehr nachvollziehen können, wie in der Sowjetunion vor dem 2. Weltkrieg gedacht und agitiert wurde. Wer die Revolution machen will, bekommt hier Anschauungsmaterial auch darüber, wie sich revolutionäres Wollen und kultureller Fortschritt mit einer Politik verbinden, die sich unter Stalin mit der Industrialisierungspolitik auch gegen die Interessen der Arbeiterklasse und der kleinbäuerlichen Bevölkerung richtete. Vertov selbst rief dazu auf, seine Filme zu kritisieren, zu diskutieren.

(Gaston Kirsche, gruppe bricolage)