Leukämie in den Elbmarschen:

Heimliche Bombenbauer?

In der Naschbarschaft des Atomkraftwerk Krümmels und des Forschungszentrums GKSS, in dem auch kernphysikalische Untersuchungen durchgeführt werden, beides in Geesthacht an der Elbe, gibt es ab 1989 eine Häufung von Erkrankungen an Blutkrebs (Leukämie) bei Jugendlichen und vor allem Kindern, mit der sich seit Beginn der 1990er in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zwei Untersuchungsausschüsse beschäftigen. Derzeit beträgt in einem Umkreis von fünf Kilometern um die Anlagen die Erkrankungsrate das Dreifache des Bundesdurchschnitts. Nun traten Anfang des Monats der Leiter des hiesigen Ausschusses, der Toxikologe Otmar Wassermann und fünf weitere Mitglieder überraschend zurück. Begründung: "Protest gegen die Verschleierungspolitik der schleswig-holsteinischen Aufsichtsbehörde". Sie haben den Verdacht, dass in der GKSS illegale Versuche durchgeführt worden sind und bei einem Unfall 1986 größere Mengen Radioaktivität freigesetzt wurden. Wir geben zum Thema im folgenden ein Interview mit Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz e.V., wieder, das am 3. November in der  junge Welt erschien. (wop)

LinX: Was ist dran an dem Vorwurf, das Land Schleswig-Holstein behindere die Aufklärung?

Sebastian Pflugbeil (S.P.): Die Kommission hat sich bemüht, naturwissenschaftliche Fakten zu gewinnen - etwa durch Bodenproben. Die mussten aber selbst oder mit Hilfe von Bürgerinitiativen finanziert werden, weil die Landesregierung die Untersuchungen abgelehnt hat. Sie blockiert, wo sie kann: Über einen Brand im Geesthachter Kernforschungszentrum GKSS im September 1986 wird nicht ein Komma herausgerückt. Vermutlich ist bei diesem Brand Radioaktivität freigeworden. Jedenfalls war in damaligen Zeitungsberichten zu sehen, dass die Leute mit Schutzanzügen und Geigerzählern auf das Gelände gegangen sind. Heute heißt es, der Aktenschrank, in dem die Unterlagen zum Brand archiviert waren, sei leider ausgebrannt.

LinX: Physiker haben mysteriöse Kügelchen gefunden. Was hat es damit auf sich?

S.P.: Eine Gruppe von Kernphysikern, die viele Jahre für den Bundestag und die Atomindustrie Gutachten erstellt haben, hatte radioaktive Kügelchen in der Umgebung der Atomanlagen von Hanau gefunden, wo sie auch hergestellt wurden. Man kann damit kernphysikalische Experimente machen. Solche Kügelchen fanden sie auch bei Bodenproben in der Elbmarsch. Ich selbst war anfangs skeptisch und habe selbst Proben genommen. Unter dem Mikroskop hatte ich nach zehn Minuten die ersten Kügelchen entdeckt.

LinX: Aber dennoch leugnen die Behörden deren Existenz.

S.P.: Die bezeichnen das als Wurmkot, was lächerlich ist. Die Kügelchen stecken voller hochtoxischer Radionuklide, z. B. Plutonium, Americium oder Curium. Da findet man auch angereichertes Uran und Elemente, die zu Fusionsvorgängen gehören wie Lithium, Tritium, Beryllium und Bor. Das deutet darauf hin, dass Experimente gemacht wurden, die in der Literatur Hybridversuche heißen. Dabei geht es darum, Eigenschaften von Kernfusion und Kernspaltung zu kombinieren. Das macht man mit winzigen Mengen Material.

LinX: Zu welchem Zweck?

S.P.: Das ist wie immer in der Atomforschung ambivalent. Zum einen kann man diese Expermente machen, um damit vielleicht im nächsten Jahrhundert Kraftwerke zu betreiben. Man kann es auch machen, um Mini-Atomwaffen zu entwickeln. Da die Behörden alles abstreiten, was Wissenschaftler herausgefunden haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass da militärische Spielchen gespielt wurden.

LinX: Sie wollen damit sagen, dass versucht wurde, eine Atombombe herzustellen?

S.P.: Das vermute ich - allerdings fehlen handfeste Beweise. Auf denselben Verdacht ist übrigens auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der DDR gekommen. Mir liegt ein Gutachten vor, in dem MfS-Fachleute anhand von Literaturrecherchen zu dem Ergebnis kamen, dass in Norddeutschland unter der unverfänglichen Überschrift "Fusionsforschung" an der Entwicklung von Mini-Atombomben gearbeitet wurde. Wir haben in den gleichen Quellen recherchiert und sind zu demselben Ergebnis gekommen.

LinX: Deutschland hat eine hochentwickelte Nuklearforschung. Wie lange bräuchten deutsche Wissenschaftler, um eine Atombombe zu bauen?

S.P.: Mit hochgekrempelten Ärmeln ließe sich eine solche Bombe auf der Stelle zusammenbauen. Man nimmt konventionellen Sprengstoff und eine Cäsium-Patrone aus einem medizinischen Forschungsinstrument - und schon wäre eine "schmutzige" Bombe fertig. Eine High-Tech-Atombombe wäre in ein, zwei Jahren einsetzbar.

LinX: Welche Möglichkeiten sehen Sie, diese mysteriösen Vorgänge von Geesthacht noch aufzuklären?

S.P.: Es müsste jemand aus dem Forschungszentrum auspacken, das ist die einzige Möglichkeit. Oder aus Behörden, die offensichtlich genau wissen, was passiert ist.

LinX: Das heißt, eine von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestellte Landesregierung versucht, die Aufklärung zu verhindern?

S.P.: "Verhinder" ist untertrieben. Die haben Kritiker sogar auf sehr unfeine Weise unter Druck gesetzt und verleumdet, bis hin zum Rufmord. Die ganze Sache stinkt.