Kommentar

Perdu

Die durchschnittliche LinX-Leserin und ihr männliches Gegenstück gehören wahrscheinlich zu jener Sorte Mensch, die in jener Zeit, wo die Christen die Geburt ihres ans Kreuz genagelten Gottes bzw. dessen Beschneidung feiern, weiterzappen, sobald gewisse ältere Herren ihre Salbadereien zum Jahreswechsel androhen. Das ist für den Adrenalin- und Zuckerspiegel sicherlich zuträglich, nur manchmal verpasst man dann eben auch historische Momente. Wie z.B. in jenem Jahr, als ein Rundfunk-Techniker mit den Bändern durcheinander kam und keiner es merkte, dass die Rede vom Dicken schon 'n Jahr alt war.

Nun, derlei Highlights waren uns dieses Mal nicht vergönnt. Ging ja auch schlecht, zumindest in dem einen Falle, wo es Personalwechsel gegeben hatte: Nach dem bekennenden Kinderquäler hat nun Bruder Johannes - genau: der, der damals im Wahlkampf mit Honecker zusammen das Loch in der Berliner Mauer gestopft hat - den Job übernommen, uns regelmäßig ins Gewissen zu reden.

Tscha nu', was er zu sagen hatte, war nicht gerade neu: Die Familie ist eine wunderbare Sache, "Kompass und Kraftquelle", die Sache mit der Arbeitslosigkeit ist irgendwie noch nicht gelöst und um die Jugend steht es schlecht. Letzteres liegt v.a. an den Eltern, die ihre Verantwortung wahrnehmen und - bitte sehr - nicht immer nach der Schule rufen sollen.

Das sieht sein Parteifreund, der gerade den Geschäftsführer der Bourgeoisie mimt, ähnlich, nur etwas allgemeiner: Wenn wir mal 'n Problem haben, sollen wir nicht immer gleich nach dem Staat fragen, sondern uns lieber überlegen, was wir für diesen tun könnten.

Haben wir auch schon mal gehört? Richtig. Da dachten wir, wir haben gewählt, aber zur Wahl standen nur die Masken. Die Ghostwriter scheinen hingegen verbeamtet zu sein. Zumindest wissen wir nun, weshalb einige Zeitungen hinter dem Namen des Kanzlers immer die Parteizugehörigkeit in Klammern angeben. Wir könnten es sonst glatt übersehen. Außerdem gewöhnen wir uns so besser dran, dass jene Zeiten endgültig perdu sind, in denen seine Partei zwar längst nicht mehr den Sozialismus auf den Fahnen hatte, aber doch immerhin einen sozialen Anspruch im Programm. Gesellschaftliche Verantwortung ist out, so die frohe Botschaft zum Fest der Nächstenliebe, jeder sehe gefälligst selbst, wo er bleibe.

Für einige von uns hatte der Niedersachse dann allerdings doch noch was im Sack: Ab 1.1. wird die Steuer auf Spekulationsgewinne an den Börsen halbiert.

An der Tatsache, wie widerspruchslos das sozialdemokratische Milieu dies alles hinnimmt, kann man übrigens ersehen, wie mausetot die Sozialdemokratie ist. Das sollte doch eigentlich auch jenen zu Denken geben, die meinen, sie mit ein paar teuren Plakaten beerben zu können.

(wop)