Anti-AKW

"Ausstieg aus der menschenfeindlichen Atomtechnologie - sofort"

Kurz nach Erscheinen der letzten LinX trafen sich am 22.1. in Kiel die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) zu einem Kongress über den Ausstieg aus der Kernenergienutzung, zu dem auch Bundesumweltminister Trittin eingeladen war.

Der Titel war Programm: "Das Recht auf Leben und auf Atomausstieg". Während in den sog. Konsensgesprächen zwischen Regierung und Stromwirtschaft v.a. vom Schutz des Privateigentums die Rede ist, setzte die Ärzte-Organisation ganz andere Schwerpunkte, indem sie sich mit den neuesten Ergebnissen der Strahlenfolgenforschung und unzureichendem Katastrophenschutz auseinandersetzte.

Eindringlich schilderte der Strahlenbiologe und Mediziner Edmund Lengfelder die Situation in den nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 verstrahlten weißrussischen Gebieten. Lengfelder, der sich in München habilitierte und in der schleswig-holsteinischen Leukämie-Kommission sitzt, ist Vorstandsvorsitzender des Otto-Hug-Strahleninstituts in München, das sich in der medizinischen Hilfe für die Tschernobylopfer engagiert. Nach seinen Angaben sind bereits 25.000 der einst an den Aufräumarbeiten beteiligten, meist jungen 800.000 Soldaten gestorben. Ein Gebiet von 7.000 Quadratkilometern wurde in Weißrussland für unbewohnbar bzw. zur Zone strikter Kontrolle erklärt. Der Schilddrüsenkrebs bei Kindern sei bereits vier Jahre nach dem Unfall drastisch angestiegen, und die Zahl der Fälle steige immer noch weiter. Laut Lengfelder hat 1998 eine unter Verschluss gehaltenen Studie der Weltgesundheitsorganisation herausgefunden, dass von den im weißrussichen Bezirk Gomel, ein Gebiet von der Größe Baden-Württembergs, lebenden Kindern, die zum Zeitpunkt der Katastrophe unter fünf Jahre alt waren, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein Drittel an Schilddrüsenkrebs erkranken wird.

Für Deutschland erwartet der Wissenschaftler im Falle eines Reaktorunfalls noch verheerendere Auswirkungen. Hier sei die Bevölkerungsdichte zehn Mal so hoch. Außerdem würden die radioaktiven Partikel weniger großflächig verteilt. In Tschernobyl hatte der vom Brand des Reaktorgraphits erzeugte Aufwind dafür gesorgt, dass die Rauchwolke in große Höhen getragen wurde, so dass von dort die radioaktiven Partikel über Tausende von Kilometern verteilt und die Belastung somit verdünnt werden konnte. Hierzulande gibt es jedoch keine Graphit-Reaktoren. "Wie und wohin", fragt Lengfelder, "sollte ggf. die gewaltige Zahl betroffener Menschen umgesiedelt, wie und von wem kann sie angemessen medizinisch betreut werden?"

Ein anderer Referent, der Mediziner Rainer Stephan aus Itzehoe, zitierte eine Studie der Hamburger Umweltbehörde aus dem Jahre 1992, wonach im Falle eines größtanzunehmenden Unfalls (GAU) im AKW Krümmel in den Folgejahren 106.000 Bürger der Hansestadt in den Folgejahren an den Spätfolgen der Radioaktivität sterben würden. Mehr als die Hälfte des Stadtgebietes wäre für über 50 Jahre unbewohnbar. Die Schadenssumme für einen GAU in Deutschland würde auf 5-12 Billionen DM geschätzt, die Betreiber seien jedoch nur über eine Milliarde Mark versichert. "Millionen von Geschädigten", so Stephan, "würden zusätzlich zum Risiko von schwerer Krankheit und Tod de facto enteignet werden." Für IPPNW-Sprecher Lars Pohlmeier stand daher fest: "Als Ärztinnen und Ärzte sagen wir: Ausstieg aus der menschenfeindlichen Atomtechnologie - sofort."

Solche Erwägungen spielten in der abschließenden Podiumsdiskussion allerdings kaum eine Rolle. Schleswig-Holsteins Energieminister Claus Möller und Bundesumweltminister Jürgen Trittin wollten zwar den Gefahren nicht widersprechen, ein Sofort-Ausstieg kommt aber nicht in Frage. "Jede Frist unter 25 Jahren", meinte Trittin, "ist offensichtlich verfassungswidrig". Auf das von der Verfassung garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit ging er allerdings nicht ein. Statt dessen machte er Werbung für neue Castor-Transporte. Wenn deutscher Atommüll aus Frankreich nach Gorleben gebracht werde, werde er "mit voller Überzeugung hinter dieser Maßnahme stehen". Was er unerwähnt ließ ist, dass La Hague keine abgebrannten Brennstäbe aus Deutschland annehmen will, solange der Strahlen-Müll, der von den letzten Lieferungen übriggeblieben ist, nicht zurückgeholt wird. Mit anderen Worten: Unter den Bedingungen des Weiterbetriebs der AKWs bedeutet die Rückholung des Atommülls, die Verstopfungen im Bertriebssystem der Atomiker aufzulösen. Das macht seinen Apell, es handle sich bei der Rücknahme um "Solidarität mit der französischen Umweltbewegung" doppelt demagogisch. Dennoch fand er bei einem Teil des Publikums lebhaften Applaus.

Auch Claus Möller mochte da in Demagogie nicht zurückstehen. Er sei froh, so viele Atomkraftgegner auf einem Haufen zu sehen, die habe er in den letzten Jahren in Schleswig-Holstein vermisst. 1986 hatte Möller als Kieler Ordnungsdezernent die örtliche Polizei für ihre brutalen Einsätze gegen Tschernobyl-Demonstranten gelobt.

(wop)