Internationales

Newroz in Kurdistan

Frühjahrsanfang. Für die Kurden in den verschiedenen Ländern des Nahen Osten ist das der Tag des neuen Jahres. Newroz. Ein Tag, der traditionell als Freiheitsfest begangen wird und an dem es in den vergangenen Jahren v.a. in der Türkei zu massiven Repressionen kam. Aus vielen westeuropäischen Ländern fahren daher ebenfalls bereits traditionell Beobachter Delegationen in die türkisch kontrollierten Gebiete Kurdistans, um durch ihre Anwesenheit zumindest Öffentlichkeit herzustellen. So auch in diesem Jahr. Die LinX erreichte der Bericht einer 15-köpfigen Delegation aus Hamburg und Schleswig-Holstein, die mehrere kurdische Städte im Südosten der Türkei bereiste und in Diyarbakir an einer Newrozfeier mit 300.000 Menschen teilnahm.

Die deutschen Besucher sprachen mit Vertretern des Menschenrechstvereins IHD, Gewerkschaftern und Kommunalpolitikern der HADEP (Demokratische Volkspartei), die seit den Kommunalwahlen vom April 99 in fast allen kurdischen Gemeinden und Städten die Bürgermeister stellt. Über die allgemeine Situation berichten sie: "Was die Frage des Friedens und der Menschenrechte anbelangt, mussten wir aus eigener Anschauung feststellen, dass der türkische Staat trotz des seit dem vergangenen Herbst erfolgeten Abzuges aller Guerilla-Verbände der PKK aus dem türkischen Staatsgebiet sein Militär keineswegs zurückgezogen hat, sondern weiterhin Operationen durchführt. Nach wie vor gilt in den meisten kurdischen Provinzen - so auch in Diyarbakir - der Ausnahmezustand. Aber auch in den Provinzen, in denen der Ausnahmezustand offiziell aufgehoben ist, wie z.B. in Bingöl, kann davon nur auf dem Papier die Rede sein, denn wir konnten uns davon überzeugen, dass diese Stadt, wie alle übrigen von uns besuchten kurdischen Regionen, wie ein besetztes Land wirkte. Die ganze Stadt war voller Militär und Polizei sowie gepanzerter Militärfahrzeuge. Ein Fischverkäufer, der sich in rein touristischer Pose von uns fotografieren ließ, wurde unmittelbar danach festgenommen. Wie auch in der deutschen Presse bekannt wurde, war wenige Wochen zuvor sogar der Bürgermeister der Stadt zusammen mit den Bürgermeistern von Diyarbakir und Siirt verhaftet worden, nachdem er von einer Stadt-Entwicklungstagung in Hannover zurückgekehrt war. Der Vorwurf lautete auf separistische Propaganda im Ausland. (...) In Diyarbakir berichtete uns der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft, dass er in den neun Monaten seiner Amtszeit bereits acht Prozesse wegen verschiedener Verstöße gegen sich laufen habe und dass ein Gewerkschaftsvorsitzender aus dem KESK-Verband (zweitgrößter Gewerkschafts-Dachverband) sein Amt in der Regel ohnehin höchstens ein Jahr ausüben könne, da er dann entweder im Gefängnis sitze oder aufgrund seiner diversen Strafen mit Funktionsverbot belegt sei."

Über den Verlauf der Newroz-Feiern berichten die Beobachter: "Newroz war in vielen kurdischen und türkischen Städten zunächst verboten und wurde, wenn überhaupt, erst in allerletzter Minute (ein bis zwei Tage zuvor) genehmigt, meistens allerdings unter extremen Auflagen. In Bingöl beispielsweise nur unter der Maßgabe, dass sich alle Besucher/innen einer Leibesvisitation unterzögen, keine (traditionellen) Feuer entzündet, keine kurdischen Nationalfarben (grün - gelb - rot) getragen und keine Parolen gerufen würden. In Diyarbakir, wo wir an der Veranstaltung teilnahmen, war diese nur auf einer halbwegs befestigten Freifläche ca. 10 km außerhalb der Stadt zugelassen worden. Auf Ersuchen des Veranstalters, der HADEP, erklärten daraufhin sämtliche Taxi-, Minibus- und sonstige Transportunternehmen, dass sie den ganzen Tag über die Bevölkerung aus der Stadt und den umliegenden Dörfern kostenlos zum Veranstaltungsort bringen und wieder abholen würden. Angesichts dessen, dass mindestens die Hälfte der Stadtbevölkerung (ca. 1,5 Millionen) völlig mittellose Flüchtlinge aus zerstörten Dörfern sind, wäre ohne diese Aktion einem Großteil der ca. 300.000 Teilnehmer/innen ein Besuch der Veranstaltung nicht möglich gewesen, zumal es keine öffentlichen Verkehrsmittel dorthin gibt und allen Fuhrunternehmern unter Straf- bzw. Lizenzentzugsandrohung verboten war, Personen zum Veranstaltungsort zu befördern. Der Zugang zu diesem Platz war von dicht gestaffelten Polizeiketten gesäumt. Alle Teilnehmer/innen mussten sich abtasten lassen. Teilnehmer/innen unserer Delegation wurde von Polizisten in deutscher Sprache "raus aus der Türkei!" zugerufen.

Auf den riesigen freien Areal wehten ausschließlich die gelb-blauen Schmetterlingsfahnen der HADEP. Über der Bühne und der Ehrentribühne hingen Spruchbänder mit der Aufschrift "Newroz: Frieden, Brüderlichkeit, Freiheit". Die festlich gekleideten Menschen tanzten in großen Kreisen zum Klang der kurdischen Trommeln und Flöten (Davul und Surna) um die verschiedenen Newroz-Feuer herum traditionelle kurdische Tänze, immer wieder unterbrochen von den ausschließlichen, einheitlich und nahezu inbrünstig skandierenden Parolen: "Biji Newroz, biji HADEP" ('biji' heißt auf Kurdisch 'es lebe') und "Azadi - Asiti!" (Freiheit - Frieden). Dazu wurden neben musikalischer Darbietungen prominenter Künstler/innen aus der ganzen Türkei vielbeklatschte Reden gehalten, so von dem HADEP-Gesamtvorsitzenden aus Ankara und vielen anderen. Besonders stürmisch bejubelt wurden die verlesenen Grußbotschaften der ehemaligen Abgeordneten des Türkischen Parlaments, Leyla Zana, die sich seit 5 Jahren im Gefängnis befindet, und Ali Sapan, dem ehemaligen Europasprecher der ERNK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans), der sich als Kommandant mitsamt seiner Guerilla-Einheit im Sommer 99 zum Beweis des unbedingten Friedenswillens der PKK an den türkischen Generalstab sowie den türkischen Staatspräsidenten Demirel überbrachte und sich seither mit seiner Einheit in einem türkischen Gefängnis befindet.

Die pausenlos über die Versammlung hinweg donnernden F 16 Jagdbomber wurden demonstrativ ignoriert, während sich den immer wieder die Runden drehenden Kampfhubschraubern Hunderttausende zum Siegeszeichen geformte Finger entgegenstreckten. Nach fünfstündigem Festverlauf fuhren die Menschenmassen in Bussen, auf den offenen Ladeflächen von LKWs und Traktor-Anhängern sowie in Taxen und Minibussen HADEP-Parolen rufend und HADEP-Fahnen schwenkend friedlich, fröhlich und entschlossen wieder nach Hause. Unser Hotelier begrüßte uns mit Tränen in den Augen und sagte, dass er 58 Jahre alt sei und in seinem ganzen Leben zum erstenmal 'normal' habe Newroz feiern können. Ähnliches hatten viele hundert Menschen während der Veranstaltung gesagt, die uns als den wenigen anwesenden Europäern/innen immer wieder die Hände schüttelten und uns baten, doch unbedingt in Europa zu berichten, dass das kurdische Volk nichts anderes wolle als Frieden und Freiheit sowie in Brüderlichkeit mit dem türkischen Volk zu leben, dass es aber unerträglich sei, dass insbesondere aus Deutschland die Hilferufe um Unterstützung für das elementarste Recht eines Volkes auf Leben immer nur mit neuen Waffenlieferungen an die türkische Regierung beantwortet würden.

In Istanbul erfuhren wir, dass die Antwort des türkischen Staates trotz einer minimalen Abschwächung der Repression weiterhin darin bestehe, kurdische Theateraufführungen zu verbieten bzw. ihnen die räumliche oder finanzielle Existenzgrundlage zu entziehen, dass von 40 produzierten kurdischen Musik-Kassetten 36 in den Ausnahmezustandsgebieten verboten seien, dass die mesopotanischen Kulturvereine in Diyarbakir und Urfa geschlossen wurden, dass die Tageszeitung BAKIS in den kurdischen Gebieten gerade verboten worden war, dass sie zudem nach erst einjährigem Bestehen bereits mit über 100 Verbotsverfügungen und aberwitzigen Geldstrafen belegt worden sei."